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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

508–510

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Konradt, Matthias

Titel/Untertitel:

Studien zum Matthäusevangelium. Hrsg. v. A. Euler.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. VIII, 488 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 358. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-153886-5.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Nach seiner Monographie »Israel, Kirche und die Völker nach dem Matthäusevangelium« (Tübingen 2007, Rez. U. Poplutz, ThLZ 134 [2009], 945–947) und dem allgemeinverständlichen, aber wissenschaftlich untermauerten Kommentar in der Reihe NTD (Göt-tingen 2015, Rez. R. Deines, ThLZ 141 [2016], 481–486) hat Matthias Konradt nun Studien zum Matthäusevangelium publiziert, die vor, während und nach der Arbeit an den genannten Büchern entstanden sind. Damit liegt sein Gesamtverständnis des ersten Evangeliums in beeindruckender Geschlossenheit und Aktualität vor. Dieses Gesamtverständnis ist gekennzeichnet zum einen durch den theologie- und religionsgeschichtlichen Kontext, in dem K. das MtEv verortet: Es ist Teil innerjüdischer Differenzierungsprozesse, im Zuge derer es zur Herausbildung einer eigenen Identität der Jesusbewegung beigetragen hat, nicht zuletzt als gezielter »judenchristlicher« Gegenentwurf zu Mk, den Mt ersetzen wollte. Zum Zweiten ist Mt bestimmt durch die Verbindung von Christologie und Israel-Theologie, die auch seine narrative Gestalt prägt, angefangen bei der Prädikation Jesu als »Sohn Davids« und »Sohn Abrahams« am Anfang des Evangeliums, in der sich die Zuwendung Gottes zu Israel und den Völkern niederschlägt, bis zum ›Missionsbefehl‹ an seinem Ende, der nicht nur die Heiden-Völker im Visier hat, sondern Israel zusammen mit den Völkern bis zum Wiederkommen Christi. Zum Dritten kreisen die Studien wie auch die Gesamtsicht von K. auf Mt um den Zusammenhang von Glauben und Leben, der für das erste Evangelium charakteristisch ist. Hierhin gehören Interpretationen zum Gerechtigkeits- und Tora-Verständnis, aber auch zum Verständnis des Glaubens im Rahmen von Heilungsgeschichten, zu den Seligpreisungen und den Antithesen in der Bergpredigt oder den Gemeinderegeln in Mt 18.
Im Folgenden werde ich je einen Aufsatz zu den drei genannten Themenzusammenhängen etwas näher vorstellen. Ich beschränke mich dabei auf bisher unveröffentlichte Arbeiten. In dem einleitenden Beitrag »Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Ju-dentum« (3–42) positioniert sich K. mit reicher bibliographischer Dokumentation in der jüngeren Forschungsdebatte um die Einordnung des Mt und seiner Gemeinde in das zeitgenössische Ju­dentum. Als Hauptpunkte dieser Debatte identifiziert er: die mt Rede von »ihren/euren Synagogen« (1.), die Frage nach der Israelmission in der mt Gemeinde (2.), die ihr entsprechende Diskussion um die Völkermission (3.), das Problem einer beschneidungsfreien Völkermission (4.) sowie Sinn oder Unsinn der Metapher von den »Mauern« (intra bzw. extra muros) zwischen der mt Gemeinde und »dem Judentum« (5.).
Die Rede von »ihren/euren Synagogen« (1.) legt nahe, »dass die matthäische Gemeinde sich als eigene Gruppe abseits der Synagoge(n) organisiert hat« (6). Das sei aber nicht mit ihrer Verortung ›außerhalb des Judentums‹ gleichzusetzen. Vielmehr zeigten sich hier Spuren eines innerjüdischen Differenzierungsprozesses, und die damit zusammenhängenden Konflikte seien für Mt noch aktuell, ebenso wie die Intention, Israel für den Christusglauben zu gewinnen (2.). Die Sendung Jesu »zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel« (Mt 10,5 f.) sei durch den österlichen Sendungsbefehl »zu allen Völkern« (28,19) keineswegs aufgehoben. Vielmehr vertrete Mt ein »Zweistufenkonzept«: »Mit dem Kommen des davidischen Messias, der sich seinem aufgrund des Versagens der Autoritäten daniederliegenden Volk zuwendet, kommen die Israel gegebenen Heilsverheißungen zur Erfüllung. Die von Abraham empfangene Segensverheißung für alle Völker wird hingegen erst durch die Passion des Gottessohnes in das Erfüllungsgeschehen einbezogen.« (12) Gleichzeitig sei Mt aber auch an der Völkermission interessiert (3.). Aus dem Zusammenhalten von beidem, Ausrichtung auf Israel und Zu­wendung zu den Völkern, entstehe die Aufgabe, die Mt theologisch und narrativ zu bewältigen hat: »die spezifische Zuwendung zu Israel mit der Universalität des Heils zu vermitteln« (21). Der Begründungsaufwand, den Mt dafür treibt, deutet nach K. darauf hin, »dass die Völkermission im matthäischen Kreis nicht unumstritten ist« (ebd.). Die Beschneidung (4.) sei allerdings weder gefordert noch beim Eintritt in die mt Gemeinden als selbstverständlich vorausgesetzt worden (gegen D. Sim). Vielmehr lasse sich auf der Basis hellenistisch-jüdischer Konzeptionen eine grundsätzliche Bejahung der Tora mit der Praxis beschneidungsfreier Völkermission durchaus vereinbaren. Auf dieser Grundlage erscheint die Metapher von den »Mauern« (5.) als wenig geeignet, die Differenzierungs- und Identitätsfindungsprozesse zu erfassen, in denen die mt Ge­ meinde(n) sich befand(en). »Das Judentum bildet den primären Lebenskontext der matthäischen Gemeinde, und näherhin ist die historische Situation, in die die matthäische Jesusgeschichte eingebettet ist, wesentlich durch den Konflikt zwischen den Christusgläubigen und der pharisäisch dominierten Synagoge geprägt.« (38)
Seine These von der narrativen Entfaltung der mt Christologie im Spannungsfeld von Israel-Theologie und Völkermission hat K. im vorliegenden Band mit einer weiteren, bisher unveröffentlichten Studie entfaltet: »›Ihr wisst nicht, was ihr erbittet‹ (Mt 20,22). Die Zebedaidenbitte in Mt 20,20 f. und die königliche Messianologie im Matthäusevangelium« (171–200). In sorgfältiger Erhebung der Besonderheiten der mt gegenüber der mk Fassung und unter Berücksichtigung der königlichen Züge des Christusbildes in der mt Erzählung arbeitet K. heraus, dass Mt Jesus ein stärker »royale(s) Kolorit« verleiht (171). Gegenüber einer militärisch konnotierten Messias-König-Erwartung wird allerdings »Jesu Rolle als Sohn Da­vids während seines irdischen Wirkens konsequent durch sein heilendes Wirken expliziert« (181). Als Hintergrund dieses Profils mt Königs-Christologie identifiziert K. Auseinandersetzungen mit etablierten frühjüdischen Heilserwartungen eines königlichen Messias (183). Aus einer Analyse der kontextuellen Einbettung der Zebedaidenbitte bei Mt (besonders aus Bezügen zu Mt 16,28 und 19,28) legt sich nahe, dass die Zebedaiden aufgrund der vorangehenden Ankündigungen Jesu die Errichtung eines irdisch-messianischen Reiches nach der Auferweckung Jesu von den Toten erwartet hatten, in welchem sie Ehrenplätze als »Throngenossen« beanspruchten. Demgegenüber ziele Mt mit der Beschreibung Jesu als königlichem Messias auf »die königliche Herrschaft des zu Gott entrückten und zur Rechten Gottes sitzenden Auferstandenen, deren irdische Manifestation im Wesentlichen darin besteht, dass er seine Jünger aussendet, um aus allen Völkern Jünger zu gewinnen, die seinen Geboten folgen« (199).
Der abschließende Beitrag: »›Glückselig sind die Barmherzigen‹ (Mt 5,7). Mitleid und Barmherzigkeit als ethische Haltung im Matthäusevangelium« (413–441), ist für einen primär ethisch ausgerichteten Publikationskontext erarbeitet, im vorliegenden Band aber schon vorab veröffentlicht worden. Das Barmherzigkeits-thema wird von K., ganz der mt Intention und Darstellungsweise entsprechend, zunächst theologisch und christologisch fundiert. Ausgehend vom Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) zeigt K., dass bei Mt unter dem Stichwort Barmherzigkeit die Situation des Menschen vor Gott thematisiert wird. An der Figur des Petrus, der hier als Fragesteller agiert (18,21 f.), wird auch sonst im Evangelium die Barmherzigkeitsbedürftigkeit des Menschen nar­rativ entfaltet: »Er symbolisiert […] paradigmatisch die fundamentale Erfahrung, dass Menschen allein aufgrund der ihnen zugutekommenden Barmherzigkeit Gottes eine heilvolle Zukunft offensteht.« (417) Der christologische Akzent der Barmherzigkeitsforderung bei Mt ergibt sich aus der Perikope von der Zuwendung Jesu zu Zöllnern und Sündern (Mt 9,9–13). Indem Mt in die Mk-Perikope das Zitat aus Hos 6,6 einfügt (»Barmherzigkeit will ich, und nicht Opfer.«), wird das Wort Jesu, er sei nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder, mit dem Barmherzigkeits-thema verknüpft. Der heilende und sich den Sündern zuwendende Jesus praktiziert die von Gott geforderte Barmherzigkeit. Die Hö­rer/Leser sollen daran »lernen« (Mt 9,13!), »dass Jesus als Medium des barmherzigen Gottes mit seiner Zuwendung zu den Sündern die Barmherzigkeit realisiert und verkörpert, an der Gott Wohlgefallen hat« (423 f.). Auf dieser theologisch-christologischen Basis errichtet Mt die Aufforderung zur Barmherzigkeit als ethisches Leitmotiv. Barmherzigkeit realisiert sich im Umgang mit Sündern in der Gemeinde (neben Mt 9,9–13 noch 18,21–35) ebenso wie mit den »geringsten Brüdern« (25,31–46). Die Barmherzigkeitsforderung Jesu wird fokussiert im Liebesgebot der Tora (22,34–40). »Das Liebesgebot macht das Wohlergehen des Nächsten zur zentralen Handlungsperspektive; die Barmherzigkeitsforderung konkretisiert dies im Blick auf Menschen in Notlagen, seien sie sozialer oder anderer Natur.« (437)
Fast alle der schon vorher (zwischen 2004 und 2015) publizierten Studien sind für den Wiederabdruck überarbeitet und zum Teil erheblich erweitert worden. Im Zuge der Zusammenstellung der Sammlung sind Überschneidungen reduziert und Querverbindungen eingefügt worden. Zusammen mit seiner Monographie und dem Kommentar stellen die Studien zum Matthäusevangelium von K. einen Markstein in der neueren deutschsprachigen Matthäus-Forschung dar.