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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

502–504

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Pearce, Sarah J. K.

Titel/Untertitel:

The Words of Moses. Studies in the Reception of Deuteronomy in the Second Temple.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XVIII, 404 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 152. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-150733-5.

Rezensent:

Eckart Otto

Das Buch Deuteronomium hat zur Zeit des Zweiten Tempels, in der es im Wesentlichen seine Jetztgestalt erhielt, bereits eine intensive Rezeptionsgeschichte ausgelöst und, wie Sarah J. K. Pearce, zurzeit Professorin für Jüdische Studien an der Universität Southampton, in ihrer für die Buchveröffentlichung aktualisierten Dissertation von 1995 zu Recht feststellt, »an unrivalled status in the Second Temple period as the Book of Law par excellence«. Mehr als jedes andere Buch des Pentateuch habe die Ideenwelt des Buches Deuteronomium ihren Stempel dem Judentum in nachexilischer Zeit aufgeprägt, was Anlass für die Vfn. ist, den in dieser Zeit unterschiedlichen Interpretationen des Deuteronomiums in der Rezeption dieses Buches und den ihnen zugrunde liegenden Textversionen des Deuteronomiums nachzugehen. Die Vfn. legt dazu eine Art von Kommentar zum Deuteronomium in jüdischen Quellen der Zeit des Zweiten Tempels vor, wobei sie sich paradigmatisch auf die Gerichtsordnung des Deuteronomiums in Dtn 16,18–17,13 mit einem Schwerpunkt auf dem Richtergesetz in Dtn 16,18–20, des Mehrzeugengebots in Dtn 17,6 und des Gesetzes des Zentralgesetzes in Dtn 17,8–13 beschränkt.
Ausgangspunkt soll die in der Deuteronomiumsforschung so kaum noch vertretene These von S. D. McBride (Interpr. 1987, 229–244) sein, das Deuteronomium sei mit dem Ämtergesetz die utopische Verfassung für eine »konstitutionelle Theokratie«, wobei Dtn 16,18–17,13 die Verantwortung dieser »Theokratie« für das Recht zum Ausdruck bringen soll. Aus der Übernahme von S. D. McBrides In-terpretation der Gerichtsordnung als der eines utopischen Verfassungsentwurfs leitet sich für die Vfn. die Frage ab, ob die von ihr für die Kommentierung herangezogenen Quellen der Übersetzung der Septuaginta, die sie J. W. Wevers folgend erschließt, der Chronik, der Tempelrolle, Philos von Alexandrien und Josephus’ den utopischen Charakter der Gerichtsordnung des Deuteronomiums erkannten, oder in ihre Interpretationen Züge der jeweiligen zeitgenössischen Rechtsinstitutionen in den rezipierten Text des Deuteronomiums einarbeiteten und also das Deuteronomium als Quelle für das zeitgenössische Rechtssystem interpretierten mit dem Ziel seiner Anpassung zur Legitimation durch den Text des Deuteronomium. Die rabbinisch-tannaitischen und -amoräischen Quellen mussten bei dieser Fragestellung von der Kommentierung ebenso ausgeschlossen werden wie die schwer zu datierenden Targumim.
Während Septuaginta und Tempelrolle trotz der Einfügung der Todesstrafe für passive Bestechung noch nahe am Masoretischen Text des Deuteronomiums bleiben, deutet Philo den Text des Deuteronomiums durch die Einbeziehung von Motiven um, die er aus Platons Politeia entnommen hat, durch die er aufzeigen will, dass die hellenische Philosophie in der Abscheu gegen Bestechung Mose in Ex 23,8 und Dtn 16,19 nachfolgt. In der Rezeption der Gerichtsordnung des Deuteronomiums sieht Josephus in den Antiquitates ein Gremium von sieben Männern in jeder Stadt vor, die für die Aufrechterhaltung des Rechts verantwortlich sein sollen. Trotz des Gremiums der Sieben in der Apostelgeschichte 6 geht die Vfn. da­von aus, dass es sich bei Josephus nicht um ein tatsächlich exis­tierendes Rechtsgremium gehandelt habe, das Josephus in die In­terpretation des deuteronomischen Textes eingetragen habe. Vielmehr habe Josephus das Motiv des Gremiums der Sieben vom Motiv der Siebzig in Num 11 abgeleitet, was den rein ideellen Charakter des Textes mit dem Motiv der Sieben bei Josephus zeige. Generell wird der Text der deuteronomischen Gerichtsordnung in den Rezeptionen zur Zeit des Zweiten Tempels mit thematisch verwandten Texten des Pentateuch in Ex 18 und Dtn 1 vernetzt, wobei dem Bestechungsverbot besondere Aufmerksamkeit zu­kommt. Die Vfn. wiederholt in einem zweiten Teil des Buches diesen Durchgang durch die Kommentierung des Deuteronomiums in den genannten Quellen der Zeit des Zweiten Tempels von der Septuaginta bis zu Josephus für das Mehrzeugengebot in Dtn 17,6 in Verbindung mit Dtn 19,5, wobei sie die Textbasis noch um die Susanna-Erzählung, das Abraham-Testament, die Damaskusrolle und neutestamentliche Schriften erweitert. In einem dritten Durchgang wird die entsprechende jüdische Kommentierung des deuteronomischen Gesetzes zur Zentralgerichtsbarkeit in Dtn 17,8–13 entfaltet. Wieder weist die Vfn. interpretatorische Bezüge bei Josephus zur bestehenden Gerichtsbarkeit in Gestalt des Sanhedrins, wie sie von Julius Wellhausen (Die Pharisäer und die Sadduzäer, 1874) vertreten wurden, entschieden zurück. Vielmehr habe sich Josephus aus biblischen Quellen das Modell eines mosaischen »supreme court« ohne Anhalt an der Realität einer Rechtsinstitution seiner Zeit konstruiert, der nach Meinung des Josephus postmosaisch idealiter Moses Rechtsfunktionen übernehmen sollte. Josephus habe dabei im Chronisten einen Vorläufer gehabt, der in 2Chr 19,8–11 das ideale Bild eines Zentralgerichts entworfen habe, das Spiegel der chronistischen Rechtsideologie sei, wie auch »ideological considerations« die Interpretation von Dtn 17,8–13 im samaritanischen Pentateuch bestimmt haben sollen. Das gelte für die jüdische Rezeption von Dtn 17,8–13 generell. Das Bild vom utopischen Charakter der deuteronomischen Gerichtsordnung habe sich also in den jüdischen Rezeptionen von der Septuaginta bis Jo­sephus wiederholt. Nirgends sei der Versuch erkennbar, in irgendeiner Weise den Text des Deuteronomiums in die Realität der Rechtsorganisation der Zeit umzusetzen, so dass die Rezeption nur auf der Ebene der Texte verbleibt ohne Einfluss der extratextlichen Rechtsinstitutionen der Zeit. Es bleibt allerdings die Frage, was das Deuteronomium zu dem »book of law« in nachexilischer Zeit ge­macht habe, wie die Vfn. betont, wenn jeder Versuch, die Gebote des Deuteronomiums als Handlungsanweisungen umzusetzen, fehlen soll. Das paränetische Kerygma des Deuteronomiums müsste in ein Nichts geführt haben. Da bleiben Zweifel am Ergebnis der Studie.
Das Buch der Vfn. hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Sie lässt die Texte von der Septuaginta bis Josephus sehr ausführlich und stellenweise minutiös zu Wort kommen, was das Buch zu einer Fundgrube für jeden Ausleger macht, der sich mit der Rezeptionsgeschichte der deuteronomischen Gerichtsordnung zur Zeit des Zweiten Tempels beschäftigt. Die Vfn. räumt ein, dass sie primär nur die Quellen selbst zu Wort kommen lassen will. »The principle focus of the commentary is on letting the ancient sources speak for themselves, to understand the ancient interpreters of Deuteronomy, first and foremost in their own terms and their own contexts«. Dagegen ist nichts einzuwenden, doch führt diese Fokussierung dazu, dass sich die Vfn. weitgehend jeder Interpretation der Texte entzieht, nur basale Informationen zur Literaturgeschichte der Quellentexte gibt und auf ihre historischen Kontexte weitgehend verzichtet, so dass sich das Ergebnis, dass die Textrezeptionen als rein ideelles Geschehen keine rechtshistorischen Kontexte hatten, fast zwangsläufig ergibt. Schließlich wirkt es sich nachteilig aus, dass der Monographie eine Dissertation aus dem Jahr 1995 zugrunde gelegt wird, die nur oberflächlich aktualisiert wurde, so dass ursprünglicher Text und seine Aktualisierungen wiederholt nicht zusammenpassen wollen. Vor allem aber hat die Überarbeitung nicht den Mangel behoben, dass der Dissertation jenseits der Textzusammenstellung eine schlüssige These fehlt.