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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

500–502

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hieke, Thomas

Titel/Untertitel:

Levitikus 16–27.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2014. 624 S. = Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-451-26807-6.

Rezensent:

Eckart Otto

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Hieke, Thomas: Levitikus 1–15. Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2014. 560 S. = Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. EUR 95,00. ISBN 978-3-451-26806-9.


Habent sua fata libelli … Im ursprünglichen Autorenplan, den Erich Zenger als Begründer dem Kommentarwerk des »Herders«, in dem katholische, protestantische und jüdische Gelehrte die He­bräische Bibel vollständig für das 21. Jh. neu auslegen, zugrunde legte, war der Rezensent für die Kommentierung des Buches Levitikus vorgesehen, als er an einem Kommentar zum Deuteronomium in einer Reihe des Verlags de Gruyter (ATK) arbeitete, die dieser Verlag einstellte, als der Erfolg des Herder-Kommentars erkennbar wurde. Als 2007 Norbert Lohfink und Georg Braulik von der Kommentierung des Deuteronomiums im Herder-Kommentar zurücktraten, bat Erich Zenger den Rezensenten, das Deuteronomium zu übernehmen, und gab das Buch Levitikus an den Kollegen Thomas Hieke, Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nur acht Jahre später legt der Vf. den Kommentar in einem Meisterwerk von zwei Bänden mit zusammen 1165 Seiten vor, was eine außergewöhnliche Leistung darstellt, die höchste Anerkennung verdient.
Das Buch Levitikus, das mit dem Gebot der Nächstenliebe in Lev 19,18 von großer Bedeutung für jede biblische Ethik und mit dem Gebot der Fremdenliebe in Lev 19,33–34 von großer Aktualität ist, hat im Unterschied zum Judentum, in dem Abschnitte des Buches an zehn Sabbaten im Jahr in der Synagoge verlesen werden, christlich in Gottesdienst und Textauslegung eine geringere Rolle ge­spielt. So ist es von großer ökumenischer Bedeutung für das Verhältnis von Christen zum Judentum, wenn der Vf. gerade den christlichen Bibellesern Hilfestellung geben will, die sich in die »innere Logik des Buches hineindenken« wollen. So solle dem Buch wieder der Platz zukommen, den ihm bereits die Redaktion des Pentateuch als Zentrum eingeräumt hat mit Lev 16 als Angelpunkt der Tora und Lev 18,5 als Zielpunkt. Der Vf. kennzeichnet seine Kommentierungsmethode, die den dem Leser fern stehenden Text nahebringen soll, als eine synchrone Begleitung der Lektüre, die »leserorientiert und gleichzeitig textorientiert« sei. Er ist also nicht primär an der »Welt hinter dem Text«, der literarischen Genese des B uches Levitikus orientiert, sondern an der »Welt des Textes« in einer textzentrierten Lektüre, wobei die synchron beschriebene Strategie in der Anlage des Buches Schlüsselfunktion hat. »Das erkenntnisleitende Interesse ist die Frage nach der Sinndimension, die eine reflektierte Lektüre erheben kann«. Dazu gehört auch die »Welt nach dem Text« der jüdischen und christlichen Rezeptionsgeschichte des Buches Levitikus, die an ausgewählten Beispielen exemplarisch vorgeführt wird.
Um Strategie und Ziel des Textes zu erfassen, werden in der Übersetzung des Textes die vier Textebenen 1. der Redesituationen von narrativem Grundrahmen, 2. der Gottesrede, die Mose beauftragt, 3. der Gottesrede, die Mose an seine Adressaten weiterleitet, und 4. der Untergliederung der Moserede durch Unterfälle unterschieden. In der anschließenden Analyse des Textes werden synchron der Aufbau des Textes, seine Abgrenzungen und seine Kontexte behandelt. Die Kommentierung wendet sich den einzelexegetischen Klärungen des Textverständnisses zu. Um den garstigen hermeneutischen Graben zwischen dem Text des Buches Levitikus, der durch antikes jüdisches Priesterwissen geprägt ist, und dem modernen, insbesondere christlichen Leser zu überbrücken, stellt der Vf. der Kommentierung ein umfangreiches Glossar voran, in dem er Begriffe der Priestersprache zu Opferarten, Priesterämtern und -funktionen, zu »rein und unrein«, »heilig und profan« sowie zu priesterlichem Formelgut sammelt. Die Auslegung der Texte wird jeweils abgeschlossen durch Reflexionen auf seine Rezeption und pragmatische Bedeutung. In die weitgehend synchron gearbeiteten Textanalysen fließen auch diachrone Thesen zur Textentstehung ein, was nach der Position des Kommentars im Rahmen der neueren Diskussionen in der Pentateuchforschung fragen lässt. Der Vf. stützt sich in Fragen der Textentstehung auf die Dissertation von C. Nihan »From Priestly Torah to Pentateuch« aus dem Jahre 2007 (cf. dazu die Rezension in der Theologischen Rundschau 74 [2009], 470–479), die dem Kommentar implementiert wird. Mit C. Nihan rechnet der Vf. mit einer frühnachexilischen Priesterschrift in Lev 1–16 und einem postpriesterschriftlichen Heiligkeitsgesetz in Lev 17–26, das, wie bereits Karl Elliger gezeigt hat, keine literarische Eigenständigkeit hatte, sondern die Priesterschrift kommentiert.
Dem wird man im Grundzug zustimmen können, doch vereinfacht der Vf. das von C. Nihan vorgelegte literaturhistorische Mo­dell an entscheidenden Stellen, was zum Verlust wichtiger Ge­sichtspunkte, die für das Verständnis des Buches Levitikus tragend sind, führt. Zu Lev 10 werden vom Vf. die Hinweise auf postpries­terschriftliche Perspektiven in diesem Kapitel, die R. Achenbach (BZAR 3 [2003], 93–110) aufgezeigt und die C. Nihan weitgehend übernommen hat, für das Verständnis dieses für den gesamten Pentateuch wichtigen Kapitels nicht ausgewertet, zumal dieses Kapitel in Teilen bereits Lev 17–26 voraussetzt. Das lässt nach der literarischen Relationierung von Lev 11 zu Dtn 14 durch den Vf. fragen. Hier antwortet der Vf. mit der These, dass beide Texte von einer unbekannten Quelle abhängig seien, was keine überzeugende Lösung der literarisch komplexen Relationen zwischen diesen beiden Texten ist, da Lev 11 nicht pauschal der Priesterschrift zugewiesen werden kann, sondern in Teilen Lev 17–26 voraussetzt und beide Texte in Lev 11,24–46 und Dtn 14,12–18 spätnachexilisch »theokratisch« unter dieser Voraussetzung erweitert wurden. Lev 17–26 rechnet der Vf. mit C. Nihan pauschal einer Heiligkeitsredaktion (H) zu, die die Priesterschrift in den Pentateuch integriert haben soll. Von dieser Hypothese hat sich C. Nihan (u. a. in VWGTh 40 [2015], 186–218) mit guten Gründen wieder verabschiedet, da unklar bleibt, wie ein vorpriesterschriftlicher Pentateuch ausgesehen haben sollte, in den die Priesterschrift integriert werden konnte. Die literarische Relation von Lev 17–26 und Dtn 12–26 ist nicht, wie der Vf. meint, auf die nur eine Rezeptionsrichtung vom Deuteronomium zum Heiligkeitsgesetz beschränkt. Für die umgekehrte Sicht haben sich Georg Braulik (SBAB 24, 1997) und jüngst Benjamin Kilchör (BZAR 21, 2015) mit gegensätzlichen Rahmenhypothesen stark gemacht. Die Lösung dieser gegenwärtig strittigen Frage ist eher darin zu suchen, dass das postpriesterschriftliche Heiligkeitsgesetz in Lev 17–26 eng vernetzt ist mit den nachexilischen Fortschreibungen des Deuteronomiums, die es in den postpriesterschriftlichen Pentateuch integrieren.
Angesichts der Feststellung von C. Frevel in der ThLZ 141 [2016], 1348, »dass die diachrone Pentateuchforschung in der katholischen Academia derzeit nicht sehr hoch im Kurs steht«, ist es sehr begrüßenswert, dass der Vf. sich der Mühe unterzogen hat, synchrone und diachrone Perspektiven in der Auslegung des Buches Levitikus miteinander ins Gespräch zu bringen. Doch die pauschale Implementierung und Affiliation einer diachronen Hypothese, die nicht mit der eigenen Kommentierungsarbeit direkt vermittelt ist, bereitet Probleme auch dann, wenn der Vf. einräumt, dass die Entstehung des Buches nicht die »Hauptfragerichtung« seiner Kommentierung sei. Eine eigenständige diachrone Analyse der Entstehung des Buches, die aus seiner synchronen Beschreibung des Levitikustextes herausgearbeitet wird, wäre wünschenswert für diesen Kommentar gewesen. Doch stehen wir noch am Anfang der Verwirklichung von Erich Zengers Programm einer »diachron reflektierten Synchronie«.
Der vom Vf. vorgelegte Kommentar hat das große Verdienst, ein Buch der Tora, das eher im Schatten der anderen Bücher gestanden hat, den christlichen Bibellesern nähergebracht und für sie den Text aufgeschlüsselt zu haben. Dafür gebührt ihm Dank.