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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

487–489

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schüssler Fiorenza, Elisabeth, u. Renate Jost [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2015. 454 S. = Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie, 9.1. Kart. EUR 89,99. ISBN 978-3-17-028989-5.

Rezensent:

Angela Standhartinger

Der Band gehört in die auf 22 Bände angelegte Reihe »Die Bibel und die Frauen«, die von einem internationalen Team um Irmtraud Fischer herausgegeben wird. Die Bände erscheinen parallel in Englisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch und bieten Auslegungen, Kultur- und Wirkungsgeschichte der Bibel aus Sicht von Frauen in verschiedenen Epochen von der Antike bis zur Gegenwart. Dieser Band ist die Übersetzung von »Feminist Biblical Studies in the Twentieth Century. Scholarship and Movement« (SBL 2014). Als Mitherausgeberin der deutschsprachigen Fassung betreute Renate Jost die Übersetzung und schließt mit ihrem Beitrag zu Institu-tionalisierungsbestrebungen feministisch theologischer Arbeit in­ner- und außerhalb der Universitäten den Band ab.
Elisabeth Schüssler Fiorenza gibt diesen Band als eine der Hauptprotagonistinnen Feministischer Bibelwissenschaft der Ge­genwart heraus. In ihrer Einleitung grenzt sie sich kritisch vom Konzept einer genderbezogenen Kulturgeschichte ab. Der Band wolle mehr als »bloß einen Raum im ›Museum‹ der Rezeptionsgeschichte belegen.« Es gehe darum, »einen Bruch oder Riss im Malestream biblischer Rezeptionsgeschichte zu kartieren« (13, kursiv im Zitat). Schüssler Fiorenza möchte nichts weniger als »Bibelwissenschaft in einem feministisch-hermeneutischen Rahmen neu […] konzipieren« (ebd.). Dabei meint feministisch hier einen »Überbegriff für Gender- und Queerforschungen, für befreiungstheologische, wo­manistische, postkoloniale, interreligiöse und transnationale Studien […] und andere kyriarchats-kritische Perspektiven und Ansätze« (ebd.). Obgleich alle 22 Beitragenden mindestens auf eine akademische Karriere zurückblicken und die meisten derzeit Professuren innehaben, versteht sich der Band nicht nur als akademisches Projekt, sondern als Beitrag zu Gerechtigkeits- und Be­freiungsbewegungen. Dies wird zugleich als Ethik feministischen Arbeitens definiert (16). Hauptbestandteile einer solchen »entkolonialisierende[n], kritisch-feministische[n] Analytik« (17. 25) sind nach Meinung von Schüssler Fiorenza die Auffassung von Ge­schlecht als soziokultureller Konstruktion, »intersektionale Analysen von sich vielfach überschneidenden Unterdrückungsstrukturen ›Rasse‹, Klasse, Heteronormativität, Behinderung, Kolonialismus und anderen Herrschaftsstrukturen« (21) und kritische Kyriarchatsanalyse, die weder Bibelwissenschaften noch biblische Texte ausnimmt. Ziel ist es, »für das Wohlergehen von Frauen und der gesamten Schöpfung Partei zu ergreifen« (29). Das kursiv gesetzte Frauen steht für Schüssler Fiorenzas englischen Neologismus wo/men, der Frauen, Männer und alle übrigen Geschlechter umfasst. Der Beitrag bringt eine gute Zusammenfassung des fe-ministisch-theologischem Arbeitsprogramms von Schüssler Fiorenza.
Die nächsten sechs Beiträge zeichnen eine Karte feministischer Bibelwissenschaft auf dem Globus ein. Besonders lebendig stellt die jüdische feministische Theologin der ersten Stunde, Judith Plaskow, die Anfänge feministischer Religions- und Bibelwissenschaften und jüdischer Studien in den USA vor. Zur Kartierung gehört die feministische Bibelwissenschaft in Lateinamerika durch Elsa Tamez, die der nordamerikanischen durch Susanne Scholz, solche aus Afrika durch Dora Rudo Mbuwayesango und in Spanien und Italien durch Mercedes Navarro Puerto. Die verschiedenen Perspektiven decken die Vielfalt und Differenzen der in den einzelnen Kontexten je spezifisch entwickelten feministischen Hermeneutiken auf. Auffällig ist allerdings, dass ein Beitrag aus Nordeuropa fehlt.
Teil zwei stellt religiöse Räume feministischer Wissenschaften vor. Von christlicher Seite blickt Helen Schüngel-Straumann auf die Auslegungsgeschichte von Gen 1–3 und Rosa Cursach Salas stellt (nochmal) die Hermeneutik von Schüssler Fiorenza vor. Jacqueline M. Hidalgo sammelt Ansätze kritischer Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Rassismus und Kolonialismus auf dem amerikanischen Kontinent. Am spannendsten fand ich die Beiträge von Cynthia Baker zur jüdischen feministischen Bibelwissenschaft und von Zayn Kassam zur Qur’ān-Auslegung aus gendergerechter Perspektive. Baker stellt nicht nur die Vielfalt von Ansätzen jüdischer Forscherinnen und Forscher, soweit ich überblicken kann, sehr umfassend vor, sondern fragt kritisch und mutig – in diesem doch mehrheitlich christlich geprägten Umfeld –, was eine jüdische fe­ministische Hermeneutik eigentlich jüdisch macht. Kassam stellt drei aus dem Qur’ān selbst gewonnene Maßstäbe einer in­nerqur’ānischen Kritik frauenunterdrückend ausgelegter Suren an­hand drei wichtiger Qur’ān-Auslegerinnen vor. Kassams Beitrag fordert einen positiven Bezug zu den heiligen Texten und kann damit als Gegenposition zur hier vielfach grundlegend kri-tischen Hermeneutik gegenüber dem biblischen Text gelesen werden.
Der dritte Teil kartiert Methoden feministischer Bibelauslegung. Drei wichtige Schülerinnen Schüssler Fiorenzas stellen rhetorische und ethische Interpretation im Anschluss an Schüssler Fiorenza vor (Melanie Johnson-DeBaufre), feministische und postkoloniale Kanonkritik (Denise Kimber Buell) und Rekonstruktionen biblischer Frauengeschichte (Shelly Matthews). Im Lichte der intendierten nicht-akademischen Leser und Leserinnen hätte den Ergebnissen feministischer Geschichtsrekonstruktionen im 20. Jh. mehr Raum eingeräumt werden können. Spannend sind aber die von Joseph A. Marchal vorgestellten Ansätze queerer Bibelhermeneutik und die von ihm gezogenen Verbindungslinien zu einer kritischen Männerforschung. Tan Yak-hwee stellt Ansätze postkolonialer Bibelhermeneutik zusammen. Auch dieser Teil schließt eine interne kritische Stimme ein. Auf dem Hintergrund des philosophischen Differenzfeminismus italienischer Prägung und in kritischer Auseinandersetzung mit Ablehnungen der historisch-kritischen Bibelauslegung setzt sich Marinella Perroni für diese und den Begriff »biblische Frauenforschung« ein.
Im vierten Teil »Für Veränderung und Umgestaltung arbeiten« werden Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum für nicht(nur)-akademische Praxis des Bibellesens vorgestellt. Leony Renk führt in die feministisch-interreligiöse Bibliodramaarbeit ein, Regula Grünenfelder in politisch bewusste Frauenliturgiearbeit in der Schweiz und Claudia Janssen und Hanne Köhler stellen die Konzeption der Bibel in gerechter Sprache vor. Ausführliche Bibliographie mit Ergänzung verfügbarer deutschsprachiger Ausgaben und Autorinnenverzeichnis beschließen den Band.
Ohne Zweifel enthält der Band viele spannende und nützliche Beiträge. Es ist gelungen, eine internationale und im Ansatz globale Perspektive zu eröffnen. Leider werden einige skandinavische und deutschsprachige feministische Exegetinnen übersehen. Ich hätte mir außerdem eine stärker an Primärtexten orientierte Bestandsaufnahme gewünscht. Obgleich immerhin fünf Autorinnen das Fach Altes Testament vertreten, kommt das Erste Testament nur in einem Beitrag zentral zur Geltung. Schade, dass die Versehen in der englischen Ausgabe nicht überall konsequent korrigiert wurden (vgl. 240 griechische Begriffe). Die Übersetzung enthält an einigen Stellen im Deutschen ungewöhnliche Begriffe (177: Bibelforscher statt Exegeten und Exegetinnen, 227: Fachbereiche statt Disziplinen etc.). Insgesamt bietet dieser Band eine Vielfalt feministisch hermeneutischer Bestandsaufnahmen, die in deutscher Sprache so bisher nicht verfügbar waren.