Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

485–487

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Petkov, Julian

Titel/Untertitel:

Altslavische Eschatologie. Texte und Studien zur apokalyptischen Literatur in kirchenslavischer Überlieferung.

Verlag:

Tübingen: Francke Verlag 2016. 495 S. = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 59. Kart. EUR 78,00. ISBN 978-3-7720-8531-4.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Das vorliegende Buch, eine Heidelberger Dissertation von 2012, betritt ein noch immer weitgehend unbekanntes Gelände. Obwohl apokryphe Schriften in kirchenslavischer Überlieferung schon seit wenigstens 150 Jahren im Blickfeld der Bibelwissenschaften liegen, hat es bislang nur wenige Bemühungen gegeben, diese nur schwer überschaubare Literatur auch einmal systematisch aufzuarbeiten. Das liegt vor allem an dem nach wie vor bestehenden Mangel an zuverlässigen Editionen. Übersetzungen hier und da tragen zufälligen Charakter. Grundlegende Forschungen datieren meist in die Zeit vor 1917 und sind auch nach dem Ende der Sowjetunion nur zögernd wieder in Angriff genommen worden. Umso größer ist das Verdienst von Julian Petkov, einen neuen Weg in dieses Ge-lände gebahnt und dabei Vermessungen vorgenommen zu haben, die von den Fragestellungen der gegenwärtigen Apokryphenforschung bestimmt sind.
Den Quellenbestand bilden ca. 32 Schriften, von denen 16 dann im Anhang auch in eigenen Übersetzungen vorgestellt werden. Jede der behandelten Schriften ist ihrerseits Teil eines komplexen Überlieferungszusammenhanges und führt in neue, sich ständig weiter verzweigende Probleme hinein. Zu einigen (wie z. B. der ApkMos, den TestXII, der AscJes, der ApkPls, Ps-Methodios und anderen) gibt es auch eine griechische Vorgeschichte. Andere (wie die Tolkovaja Paleja, 2Hen, ApkAbr, KlimJak und viele mehr) sind ausschließlich kirchenslavisch überliefert. Breitgefächert stellen sich die religiösen Milieus dar: Einige Texte gehen bis auf antik-jüdische Traditionen zurück; andere entstammen der produktiven Phase frühchristlich-religiöser Literatur; wieder andere gehören dem Literaturbereich der Hagiographie an; zwei Texte (unter B. VIII) präsentieren iranische oder irische Traditionen, die ohne byzantinische Vermittlung in den slavischen Kulturkreis gelangt sind. Deshalb geht es in dieser Arbeit vor allem auch darum, Schneisen zu schlagen, Zugänge zu schaffen und Überblicke zu bieten – kurz: Zusammenhänge aufzuzeigen und zu weiteren Forschungen einzuladen.
Das thematische Interesse wird mit dem Titelbegriff »altslavische Eschatologie« bezeichnet und im Untertitel sogleich auf »apokalyptische Literatur« präzisiert. Was genau jedoch »apokalyptisch« meint, ist in der gegenwärtigen Forschung umstrittener als je zuvor. Von handlichen Definitionen hat man dabei weitgehend Abstand genommen und fragt eher auf induktive Weise nach Motiven, die vereinzelt ganz verschiedenen Textsorten angehören können, in bestimmten charakteristischen Kombinationen oder Häufungen jedoch die Umrisse eines eigenständigen Genres, eben einer so zu bezeichnenden »apokalyptischen Literatur« markieren. P. nennt dafür die folgenden Merkmale: Bezug zur übergeordneten Gattung visionärer Literatur; ein Erzählgerüst, in dem himmlisches Offenbarungswissen durch Mittlerfiguren ausgewählten Offenbarungsempfängern vermittelt wird; ein Themenspektrum, das Kenntnisse über die jenseitige Welt mit Fragen der Endzeit verbindet (27). Damit ist ein sehr weit gefasster Begriff gewählt, der pragmatisch die Behandlung durchaus disparater Texte und Stoffe gestattet. Dass es sich dabei ausnahmslos um außerkanonische Texte handelt, stellt eine weitere Komplizierung dar. Denn Verbreitung oder Geltung der jeweiligen Schriften lassen sich auch mit Bezug auf den immer detaillierter überlieferten slavischen Apokryphenindex nur ungefähr bestimmen. Wie hier die Proportionen zwischen kirchlicher Theologie und Volksfrömmigkeit zu bestim men sind, bleibt weitgehend offen. Die Konzentration auf den »altslavischen« Sprachbereich liefert das sicherste Kriterium zur Eingrenzung des Materials. Allerdings macht sie es auch erforderlich, nach der Eigenart dieser vergleichsweise jungen Literatursprache zu fragen. Von besonderem Interesse ist hierbei die Entstehung der Großgattung »Paleja«, die zu einem Sammelbecken biblischer und apokrypher Überlieferungen wird. Ihr ist deshalb auch ein eigener Abschnitt gewidmet (40–50).
Teil A behandelt Prolegomena. Das leitende Anliegen der Untersuchung besteht darin, eine »vorläufige Kartographie der altsla-vischen Apokalyptik« vorzulegen – »einen umfassenden synoptischen Katalog«, ein erstes »Inhaltsverzeichnis«, »eine systematische Darstellung des Materials«, »ein Quellenkompendium mit Randglossen, das nach chronologischen Gesichtspunkten angeordnet ist« (23–24). Dabei spielt auch der diachrone Aspekt insofern eine Rolle, als alle Texte unter drei »chronologischen Prismen« betrachtet werden: dem ihrer mutmaßlich ursprünglichen Entstehungszeit, dem ihrer Übersetzung und dem ihrer handschriftlichen Überlieferung.
Teil B als das Herzstück der Arbeit stellt daraufhin diese »Quellensynopse« vor – d. h. eine Art »annotierten Index der Bibliotheca Slavica Apocalyptica« bzw. eine Übersicht, die nach einem vergleichbaren Schema grundlegende Einleitungsfragen klärt. Dabei folgt die Anordnung nach Möglichkeit einer chronologischen Ordnung. Am Anfang stehen solche Texte, die bereits eine frühjüdische, frühchristliche oder altkirchliche Überlieferungsphase aufweisen – die also schon der hellenistisch-byzantinischen Literatur angehören und Teil der Übersetzungsliteratur sind. Ihnen folgen Texte, deren Ursprung vermutlich erst auf slavischem Boden liegt. Im Blick auf diese Chronologie machen sich auch inhaltliche Verschiebungen bemerkbar: An die Stelle eines detaillierten Interesses an der himmlischen Welt treten zunehmend geschichtliche Bedrohungsszenarien oder Figuren wie der Antichrist, Elia und Henoch oder der »Endkaiser«. Auch wenn die Vorgeschichte der frühjüdisch-frühchristlichen Schriften stets im Blick bleibt, werden die in dieser Arbeit analysierten Quellentexte zunächst erst einmal als Bestandteil der »Slavia Orthodoxa« wahrgenommen. »Sie sind Zeugnisse ihres eschatologischen Kulturgedächtnisses und stellen in ihrer Gesamtheit eine diachrone Apokalypsenbibliothek dar, die es zu indizieren und zu beschreiben gilt.« (35) Den Anfang machen in Kapitel III frühjüdische und frühchristliche Apokalypsen wie 2Hen, ApkAbr, KlimJak, TestXIIAscJes und 3Bar. Ihnen folgen in Kapitel IV Altkirchliche Offenbarungsschriften wie die Fragmente unter den Namen des Hippolyt und Hypatius, die Fragen des Bartholomäus, die Paulus-Apokalypse, das Streitgespräch Christi mit dem Teufel, die Tiburtinische Sibylle und die apokryphe Johannes- Offenbarung. Kapitel V und VI enthalten byzantinische Texte, unterteilt in politische Apokalyptik (wie Ps-Methodius und verschiedene Daniel-Schriften) sowie Jenseitsreisen und Höllenwanderungen (wie Agapius, die Wanderungen der Gottesmutter, die Himmelsreise der Anastasija, Andreas Salos und Basilius Novus). In Kapitel VII finden sich Apokalypsen, die erst im slavischen Kulturkreis entstanden sind, wie verschiedene Jesaja-Schriften, die Sage des Pandech, den Kampf Michaels mit Satanael und die Sage vom Antichrist. Kapitel VII schließlich überschreitet den byzantinischen Traditionsbereich und bietet die aus dem Iran stammende Deutung der zwölf Träume des Šachinšach und die aus Irland stammende Vision des Tungdal.
Kapitel IX zieht eine Zwischenbilanz. Es sammelt den Ertrag in Form einer Reihe zusammenfassender Repliken auf die besprochenen Texte ein, um dann noch einmal die großen Linien und Wandlungen nachzuzeichnen, die »apokalyptische« Überlieferungen überhaupt kennzeichnen, wobei nun der slavische Literaturbereich als eine Art apokalyptisches Laboratorium en miniature er­scheint. Hier bleibt zwangsläufig vieles vage und ungenau, und gelegentlich entzieht sich das Genre des »Apokalyptischen« da-bei mehr, als dass es an Konturen gewänne. Das gilt auch für die abschließende tabellarische Übersicht, die noch einmal zu jeder Schrift Daten hinsichtlich Abfassung (Zeit und Raum), Übersetzung (Zeit und Raum) und Überlieferung zusammenstellt. Hier kann und muss man im Einzelnen immer wieder Fragezeichen setzen. Letztlich aber entwirft auch diese Tabelle nur das Gesamtbild eines Literaturbereiches, der noch auf weitere Bearbeitung wartet.
Teil C bietet unter Kapitel X die Übersetzung von 16 Quellentexten, die ansonsten nur mühsam erreichbar wären. Hier findet sich viel Unbekanntes, was nun bequem nachzulesen ist. Ein großer Teil dieser Übersetzungen benutzt die Textsammlung von V. Tăpkova-Zaimova und A. Miltenova, Sofia 1996. Andere Übersetzungen basieren auf älteren Editionen einzelner Handschriften. Gelegentlich werden die Texte dabei neu gegliedert, mit umfangreicheren Anmerkungen versehen, oder auch unkommentiert dargeboten. Das alles dokumentiert den vorläufigen Charakter dieser Übersetzungen, die noch nicht als zitierfähige Texte, sondern als Wegweiser zu den Quellen und als Impulsgeber für weiterführende Forschungen zu verstehen sind. Die Leiter Jakobs (als erster Text) etwa liegt inzwischen – nach Abschluss des Buches – in der Reihe JSHRZ.NF I/6 in einer neuen, vollständigen Übersetzung auf der Basis bislang unbenutzter Handschriften vor (Gütersloh 2015, Böttrich/Fahl/Fahl). Ein DFG-gefördertes Editionsprojekt zur Paleja-Literatur ist an der Theologischen Fakultät in Greifswald angesiedelt und soll 2018 zum Abschluss kommen (C. Böttrich). Die vorliegende Arbeit stellt für Vorhaben dieser Art ein willkommenes Referenzwerk dar, das geeignet ist, den Blick vom einzelnen Text wieder auf das Ganze des Genres zu lenken – und damit auch die Erforschung des so schwer zu fassenden Phänomens »Apokalyptik« weiter voranzubringen.
Die Bibliographie unter Kapitel XI lässt leider viele Wünsche offen. Dass sie nicht nach Quellen und Sekundärliteratur sortiert und zudem jeden Eintrag mit den abgekürzten Vornamen statt mit dem alphabetisch maßgeblichen Nachnamen beginnen lässt, macht die Sache sehr unübersichtlich und verschenkt viel von dem ansonsten programmatisch verfolgten Anliegen, eine schwer zugängliche Literatur einladend zu erschließen.
P. kommt das große Verdienst zu, von Neuem die Aufmerksamkeit auf das Gebiet der altslavischen religiösen Literatur unter dem Vorzeichen apokalyptischer Traditionen gelenkt zu haben. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Ausführungen im Einzelnen dann immer wieder zur Diskussion herausfordern. Im Ganzen aber macht diese Arbeit – künftig ein unverzichtbares vade mecum – den Bibelwissenschaften anschaulich und stimulierend bewusst, welche ungehobenen Schätze noch immer in der altslavischen Literatur auf ihre Wiederentdeckung warten!