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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

477–479

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Güzelmansur, Timo, u. Tobias Specker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Paulus von Tarsus, Architekt des Christentums? Islamische Deutungen und christliche Reaktionen.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2016. 200 S. = CIBEDO-Schriftenreihe, 4. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-7917-2724-0.

Rezensent:

Andreas Feldtkeller

Der vierte Band aus der Schriftenreihe der »Christlich-Islamischen Begegnungs- und Dokumentationsstelle« (CIBEDO) greift Themen auf, die für verschiedene theologische Disziplinen ebenso wie für die Religionswissenschaft von Interesse sind. Die Verschränkung der mit diesen Themen verbundenen Diskurse wird aus der Zu­sammenstellung der Texte deutlich.
Zwei Drittel des Umfangs werden gefüllt durch eine Untersuchung von Tobias Specker SJ – Juniorprofessor für »Katholische Theologie im Angesicht des Islam« an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main –, deren Gegenstand die Paulusinterpretation in ausgewählten islamischen Traditionen und in einschlägigen Werken aus der gegenwärtigen türkischen Religionswissenschaft ist. Mit dieser Untersuchung steht zugleich der Anspruch des an verschiedenen türkischen Universitäten aufgebauten Faches »Geschichte der Religionen« ( dinler tarihi) auf dem Prüfstand, sich von der apologetischen Zuspitzung traditioneller islamischer Diskurse im Umgang mit anderen Religionen abgewandt zu haben und stattdessen eine deskriptive, an den Phänomenen orientierte und mit Quellentexten arbeitende Darstellung zu bieten.
Die exemplarisch ausgewählten islamischen Texte aus früheren Jahrhunderten dienen im Aufbau des Buches als Beleg dafür, dass die Paulusbilder der islamischen »Tradition« gar nicht auf so einheitliche Weise apologetisch sind, wie eine religionsgeschichtliche Distanzierung davon vermuten lässt. Sayf ibn ‘Umar (8. Jh. n. Chr.) und ‘Abd al-Ğabbār (gest. 1025 n. Chr.) stehen für eine sehr frühe und eine etwas spätere polemische Auseinandersetzung, in der Paulus die zentrale Rolle dabei spielt, die durch den Propheten Jesus überbrachte göttliche Botschaft zu verfälschen und die Verehrung des göttlichen Christus an ihre Stelle zu setzen. Paulus wird als ein heimtückischer Außenseiter gezeichnet, dessen Anliegen es ist, die von Jesus gesammelte gottesgläubige Gemeinschaft zu zerstören. Im Kontrast dazu wird das unpolemische Paulusbild des islamischen Historikers a t.-T.abarī (gest. 923 n. Chr.) herausgearbeitet und als viertes Beispiel das seit dem 18. Jh. belegte Barnabasevangelium behandelt: Dort trägt Paulus zwar zur Verfälschung der Botschaft Jesu bei, spielt dabei jedoch eine viel stärker untergeordnete Rolle gemeinsam mit anderen Überlieferern eines verfälschten Evangeliums.
Wie positioniert sich nun im Vergleich dazu die neuere türkische Religionsgeschichtsschreibung? Wichtigstes Referenzwerk dafür ist das Buch »Pavlus: Hıristiyanlığın Mimarı« (Paulus: Architekt des Christentums) von Şinasi Gündüz an der Istanbul Uni-versität, das 2001 erstmals erschien. Parallel dazu werden weitere Werke gegenwärtiger türkischer Religionswissenschaftler herangezogen. Die türkischen Paulusinterpreten orientieren sich an neutestamentlichen und apokryphen Primärquellen in Übersetzungen, bringen jedoch den synoptischen Evangelien eine erhebliche Skepsis hinsichtlich der Darstellung des historischen Jesus entgegen und halten im Vergleich damit die Aussagen von Koran und Hadith zu Jesus für historisch zuverlässiger. Aus der modernen Sekundärliteratur werden Forschungshypothesen der Religionsgeschichtlichen Schule, der Bultmann-Schule und des »Jesus-Seminary« in Auswahl zustimmend aufgegriffen, während die »New Perspective on Paul« nur ablehnend zitiert wird. Ein starker Gegensatz zwischen Jesus und Paulus wird konstruiert anhand der Annahme, dass es ein unverfälschtes palästinisches Judentum gegeben habe, in dessen Kontext Jesus auftrat. Paulus dagegen habe nur das verfälschte hellenistische Judentum gekannt. Weiter wird die Existenz einer vorchristlichen Gnosis als erwiesen betrachtet, die Paulus gemeinsam mit kultischen Elementen der Mysterienreligionen aufgegriffen habe. Zwar wird der hellenistischen Gemeinde in Antiochia eine Rolle vor und neben Paulus dabei zugestanden, aus der Jesus-Botschaft die neue Religion des Christentums gemacht zu haben, aber erst bei Paulus ist vollends aus dem historischen Jesus der verkündigte Christus geworden. Bultmanns Konzepte des Mythos und der Entmythologisierung werden aufgegriffen, ohne jedoch die positive Wertschätzung des Kerygmas bei Bultmann zu übernehmen. Vielmehr ist der Mythos Inbegriff der falschen und synkretistischen Lehre bei Paulus. Die Anleihen bei den Paulus-Interpreten des 19. und 20. Jh.s reichen jedoch immer nur so weit, wie es in den Rahmen einer islamischen Deutung passt. Die im Koran teilweise parallel zu Matthäus und Lukas erzählte Geburt Jesu durch eine Jungfrau wird daher nicht als Mythos, sondern als historische Tatsache eingeordnet. Auf der Basis dieser Befunde ist Speckers Resümee hinsichtlich der religionsgeschichtlichen Arbeit der türkischen Autoren klar negativ: Auch bei ihnen steht die Wahrheit des Islam von vornherein fest und bestimmt die Perspektive auf andere Religionen. Der Unterschied zu früheren islamischen Positionen besteht lediglich darin, dass verstärkt veraltete westliche religionsgeschichtliche Diskurse rezipiert werden, um die These von der Minderwertigkeit des Christentums gegenüber dem Islam zu stützen.
Ein deutlich kürzerer Beitrag von Hans-Ulrich Weidemann stellt aus christlich-exegetischer Perspektive »Schlaglichter aus den neu­eren Paulusdiskussionen« zusammen und betont dabei die Einsicht der »New Perspective on Paul«, dass Paulus aus der Pluralität des Judentums seiner Zeit heraus zu verstehen sei. Aus reli-gionsgeschichtlicher Perspektive ist interessant, dass die zeitver-zögerte und selektive Rezeption religionsgeschichtlicher Forschungsergebnisse und Diskurse auch hier zu beobachten ist – allerdings in deutlich geringerem Ausmaß als bei den von Specker untersuchten türkischen Religionsgeschichtlern. Die in der Religionswissenschaft inzwischen weitgehend wieder überwundene Tendenz, den Religionsbegriff wegen seiner neuzeitlichen europäischen Prägung in seiner Verwendung geographisch und zeitlich stark einzuschränken, findet hier ihren Widerhall in der positiven Aufnahme von Vorschlägen, das Judentum der neutestamentlichen Zeit und auch die entsprechenden Vergleichsgrößen in seiner Umwelt nicht als Religion(en), sondern als Ethnie(n) aufzufassen. Eine solche Begriffswahl verstellt jedoch den Blick darauf, dass die Verflüssigung der Verbindung zwischen ethnischer Zugehörigkeit und religiöser Praxis zur Zeit des entstehenden Christentums eben genau nicht auf das Christentum beschränkt ist, sondern in seiner Um­welt auch in anderen Zusammenhängen zu beobachten ist.
Eine kurze Einführung des in Frankfurt lehrenden islamischen Theologen Ömer Özsoy weist einerseits zu Recht auf Defizite bei der Wahrnehmung türkischer Beiträge zu Theologie und Religionsgeschichte in europäischen Diskursen hin. Andererseits unterstützt er die Kritik von Tobias Specker an den untersuchten türkischen Paulusdeutungen und formuliert in Richtung seiner türkischen Kollegen wegweisende Anforderungen an eine Beschreibung des Christentums:
»Das Christentum als eine andere Religion zu reflektieren, setzt vor allem voraus, es als eine autonome Religion zu betrachten, also zur Kenntnis zu nehmen, dass es über eigene Begrifflichkeiten für und Konzepte von Göttlichkeit, Offenbarung, Prophetie, Schrift, Geschichte, Ursprünglichkeit, Autorität etc. verfügt. Deshalb kann die selbst proklamierte Aufgabe der phänomenologischen Erschließung des Christentums erst dann eingelöst werden, wenn man es als ein anderes Zeichensystem als das islamische […] erforscht, um seinen religiösen Aspekten und seinen Gläubigen gerecht zu werden.« (20)
Es ist dem Buch zu wünschen, dass seine kritischen Anregungen in Deutschland ebenso wie in der Türkei Gehör finden und dass es einen Beitrag dazu leistet, christliche und islamische Paulusdeutungen stärker und weniger zeitverzögert miteinander ins Gespräch zu bringen.