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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

475–477

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Graf, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird.

Verlag:

München: Verlag C. H. Beck 2014. 286 S. = C. H. Beck Paperback, 6126. Kart. EUR 16,95. ISBN 978-3-406-66023-8.

Rezensent:

Jutta Sperber

»[M]an wird eine Vermutung wagen dürfen: Nichts spricht derzeit dafür, dass sich die Religionskonflikte der Gegenwart bald abschwächen werden oder pazifizieren lassen. Gerade in den Teilen der Welt, in denen viel Armut das Leben zahlreicher Menschen prägt, wird Gottesglaube der wichtigste Identitätsgarant der Marginalisierten bleiben. Sie werden sich im Elend ihres Alltagslebens an ihren Gott oder ihre Götter klammern, andere Götter bekämpfen und schon aus purer Überlebensnot ganz harte religiöse Praktiken pflegen. Oder sie werden aufbrechen und in ein Land ihrer Hoffnung wandern, also zu weiterer zumeist konfliktreicher religiöser Pluralisierung beitragen. Ihr Gott wird sie begleiten und auf den Wanderwegen weltweiter Migration und Ideenzirkulation zu anderen Göttern in Konkurrenz treten. […] Viele Indizien sprechen dafür, dass unter den Gegenwartsbedingungen religiöser Globalisierung der Kampf konkurrierender politisierter Wertgötter weiter ein zentrales Thema der internationalen Politik bleiben wird.« (256)
Wer Friedrich Wilhelm Grafs 2014 erschienenes Buch »Götter global« im Jahr 2016 liest, wird G. nicht nur zugestehen, dass er auf der letzten Seite seines Epilogs diese Vermutung wagen durfte. Er wird ihm an diesem Punkt etwas einräumen, was normalerweise außerhalb des Anspruchs eines Professors für Systematische Theologie und Ethik liegt: nahezu prophetische Qualitäten, die die »Glaubensfakten«, sprich die Daten zu den einzelnen Religionsgemeinschaften und die darauf basierenden Prognosen, mit denen er sein Buch beginnt, zumindest im Blick auf Muslime in Deutschland bereits überholt haben. Der Zuwachs von 1,4 Millionen Muslimen, mit denen das von ihm zitierte Pew Forum für Deutschland in den Jahren von 2010 bis 2030 kalkuliert hatte (25), dürfte auf den Wanderwegen der weltweiten Migration wohl schon in den Jahren 2015/16 gekommen sein. Das zeigt die brennende Aktualität des Themas, das sich selbst ein- und überholt. Gleichzeitig ist es natürlich ein riesiges Thema, das auf den schon genannten 256 Seiten (mit Anmerkungen und Literaturverzeichnis 286 Seiten) nicht er­schöpfend behandelt, sondern nur in Grundlinien angerissen werden kann. Das aber gelingt G. erstaunlich gut und in einer Art und Weise, die für den Laien verständlich, ja sogar spannend ist, bei der aber auch ein Fachmann oder eine Fachfrau immer noch etwas dazulernen kann, was seiner oder ihrer professionellen Aufmerksamkeit bisher entgangen war.
Sowohl die USA als auch die Türkei haben in den letzten Wochen und Monaten viel Aufmerksamkeit für ihre je spezifische religiös-politische Situation erhalten. Aber wussten Sie von der lebhaften »interreligiösen Kooperation mit Kreationisten anderer religiöser Überlieferungen« (187), die schon bis 2014 so weit gegangen war, dass die AKP-Regierung mehrfach Websites von secular humanists hatte sperren lassen und die staatliche türkische Hochschulaufsicht im Sommer 2013 angekündigt hatte, neue Curricula für die Universitäten erarbeiten zu lassen? Und das ist nur eine von vielen aktuellen und vielleicht auch brisanten Informationen, die zwischen zwei Buchdeckeln eines handlichen und erschwinglichen Taschenbuchs (Euro 16,95) auf hoffentlich viele Leser harren. G. bereitet sie für den Leser auf, indem er eben zunächst unter »Glaubensfakten« grundlegende Zahlen, aber auch sonstige Basisinformationen der Religionswissenschaft gibt, die sich klarzumachen in diesen Zeiten durchaus lohnt, so unter dem Unterkapitel »Religionslose, Konvertiten und Migranten« beispielsweise:
»Migration stärkt oft Religion, heißt ein wichtiger Lehrsatz der Religionsforscher. Denn Migration ist äußerst riskant, man wandert ja in eine ganz unbekannte, unsichere Zukunft und weiß gar nicht genau, wo man schließlich landet und ob man im Zielland Arbeit und ein besseres Auskommen findet. Den eigenen Glauben kann man mitnehmen, und auf ganz weiten schwierigen Wanderwegen klammert man sich an seinen Gott. Er sorgt auch in neuen, unbekannten und nicht selten feindlichen Umgebungen für spirituelle Identität. Nicht wenige Menschen werden überhaupt erst durch Migration zu emotional tief empfindenden Superfrommen: In der Heimat war ihnen die herrschende Religion eher gleichgültig. Jetzt, im neuen Ankunftsland aber ermöglicht es diese Religion, eine innere Bindung an die Heimat zu pflegen und über den Bruch der Migration hinweg lebensgeschichtliche Kontinuität zu sichern. Man kann dies gut am Beispiel der USA, des klassischen Einwanderungslandes sehen.« (29 f.)
Nach diesen einleitenden Bemerkungen geht G. über zu einem Kapitel »Deutungsangebote«, das mit Michel Foucault versucht, neun exemplarische »Versuchsfelder der Analyse« (37) aufzuzeigen, die sozusagen Ordnung in den Supermarkt der Religionen zu bringen versuchen und ein weites Spektrum abdecken. Dies reicht vom Ansatz der Religionsökonomie, einen Markt für Religionen und dessen Funktionieren zu beschreiben, über die Funktionen, die Kirchen europa- und weltweit wahrnehmen und der Religionsfeldforschung, die Pluralisierungsprozesse wahrnimmt, bis zur Wahrnehmung, wie Theologiegeschichte gedeutet wird, wie religiöse Symbole und Ideen wandern und wie religiöse Selbstinszenierungen gedeutet werden können, nicht zu vergessen das Gendering von Religion, die Frage nach dem religionsbezogenen Verfassungsrecht und damit den juristischen Religionskonflikten und die erstaunliche Frage, wie und wo Gott in der modernen Welt überleben kann und sogar gut.
Danach versucht G., einzelne Felder genauer in den Blick zu nehmen, beginnend mit der spezifisch deutschen, sodann mit der europäischen Situation. Danach weitet er den Blick auf die globale Situation der christlichen Ökumene, um sich dann spezifischen Einzelthemen zu widmen, als da wären Kreationismus, Fundamentalismus und Heilige Kriege. Stets versucht er dabei, die Themen und Begriffe historisch einzuordnen und die verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung aufzuzeigen, was für einen versachlichten Umgang mit solchen Reizthemen sehr nützlich und verdienstvoll ist. Dass durch diese begriffsgeschichtliche Herangehensweise gerade die Frage nach dem Heiligen Krieg ziemlich einseitig christentumslastig gerät gegenüber einer mehr eigenständigen Würdigung von Jihad, ist aber bedauernswert. Noch bedauernswerter ist es, wenn in der Dekade vor dem ersten ökumenisch gefeierten Reformationsjubiläum das Kerngeschäft der christlichen Kirchen so definiert wird: »Die christlichen Kirchen sind den Menschen (und abgeleitet auch: der Gesellschaft) nichts anderes schuldig als die Verkündigung der im gelungenen Fall befreiend wirkenden Botschaft des Evangeliums: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‹« (72) Das kann wohl nur als eine Verkürzung zumindest der reformatorischen Botschaft gewertet werden, möge sie in der aktuellen Situation auch noch so wirkungsvoll inszeniert werden – findet sich dieser Satz doch unter der Überschrift »Selbstinszenierungen deuten«.
Doch sind dies kleine Details angesichts des riesigen Themas, das G. in Angriff nimmt und das er sehr fundiert und geschickt, ja sogar spannend angeht. Wer sich mit dem Supermarkt der Religionen auseinandersetzen möchte, hat hier eine ideale Einstiegslektüre, die durchaus auch auf einen weihnachtlichen Gabentisch passen könnte.