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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

444-445

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kranemann, Benedikt, u. PetrŠtica [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Diaspora als Ort der Theologie. Perspektiven aus Tschechien und Ostdeutschland.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2016. 208 S. = Erfurter Theologische Schriften, 48. Kart. EUR 16,00. ISBN 978-3-429-03856-4.

Rezensent:

Emilia Handke

In den letzten Jahren sind in den unterschiedlichen Disziplinen der Theologie verstärkt deren kontextuelle Rahmenbedingungen ins Auge gerückt: Jede Reflexion über Religion und religiöse Institutionen steht in einem bestimmten »Verstehens- und Bewährungshorizont« (Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin 32007, 181f). Benedikt Kranemann und Petr Štica führen zwei dieser je speziellen Verstehens- und Bewährungshorizonte von christlicher Theologie in ihrem Sammelband, der aus gemeinsamen Kolloquien und Tagungen der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karls-Universität Prag und der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt erwachsen ist, unter dem Titel »Diaspora als Ort der Theologie. Perspektiven aus Tschechien und Ostdeutschland« zusammen. Dabei ist hier die katholische Kirche ins Zentrum der Erörterung gestellt, die sich in beiden Ländern seit vielen Jahren insbesondere gegenüber der konfessionslosen Bevölkerungsmehrheit als »vereinzelt« und »andersartig« (Lothar Ullrich) vorfindet. Wie diese Mehrheit über die (organisations- und sozialisationsbezogene) Dis­tanz gegenüber der kirchlich-institutionalisierten Form von Religion hinaus in ihren spezifischen weltanschaulichen Orientierungen zu beschreiben ist, kann in beiden Ländern als durchaus kompliziert gelten. Dies weist auf die kontextbezogenen Grenzen sogenannter Großtheoreme und die faktische »Vielfalt der Moderne« (Shmuel Eisenstadt) hin und wird vor allem auch in den Beiträgen des ersten Kapitels (»Ouvertüre – eine säkulare oder postsäkulare Zeit?«) hervorgehoben.
In der Gliederung des Sammelbandes folgt ein Kapitel zur religionssoziologischen und anschließend eines zur historischen Auseinandersetzung mit der Lage in Tschechien und Ostdeutschland. Besonders aufschlussreich erscheinen dabei die Beiträge zur tschechischen Situation (durch Petr Štica und Tomáš Petráček), über die bisher nur wenig deutschsprachige Forschungsliteratur vorliegt. Dabei wäre es besonders ertragreich gewesen, einzelne Themen (wie z. B. das Verhältnis von Religion und nationaler Identität oder die Rolle der Religion im öffentlichen Diskurs), die dabei verhandelt werden, vergleichend auch für Ostdeutschland in den Blick zu nehmen. Die Gliederung der einzelnen Kapitel schlägt jedoch einen anderen Weg ein und bietet hier mehr ein Nebeneinander der tschechischen und der ostdeutschen Perspektiven als eine systematische Verzahnung.
In einem sich anschließenden Kapitel über »Situation und En­gagement der Laien in der Zeit des Kommunismus« wird einiges des zuvor Dargestellten für die spezifische Situation der kommunistischen Herrschaft konkretisiert. Während sich der tschechische Beitrag von Peter Morée, Libor Ovečka und Mireia Ryšková dabei einem Überblick verschreibt und die Frage der Definition des Verhältnisses zwischen Laien und kirchlicher Hierarchie in die Gegenwart verlängert, vertiefen die ostdeutschen Autoren ihre Ausführungen am Beispiel des Aktionskreises Halle (Sebastian Holzbrecher) sowie der katholischen Studentengemeinden während der DDR-Zeit (Thomas Brose).
Ein letztes Kapitel widmet sich dem »Agnostizismus als Herausforderung für Systematische Theologie und Liturgiewissenschaft«. Schon indem hier von Agnostizismus anstelle von Atheismus gesprochen wird, unterstreichen die Herausgeber die Gesamtlinie des Bandes, in die sich auch die nun folgenden Beiträge von Martin Kočí und Benedikt Kranemann einfügen: Zwar steht Gott in der multiplen Moderne infrage, das bedeutet jedoch keineswegs, dass die Frage nach ihm gesellschaftlich obsolet wäre oder faktisch suspendiert würde. Die kritische Auseinandersetzung mit Religion und Kirche in der Gesellschaft könne vielmehr auch als »Chance für neue Wege des Verstehens von Gott und für die Interpretation der Rolle des Christentums in der Welt« (184) begriffen werden.
Einige Beispiele für solche neuen Wege der Bewährung von Kirche in der Diaspora, bei denen diese durch Rituale und Feiern in einen Dialog mit der konfessionslosen Bevölkerungsmehrheit tritt, skizziert abschließend Benedikt Kranemann am Beispiel Ostdeutschlands (Feier der Lebenswende, Segnung von Paaren zum Valentinstag, Neuerungen im Totengedenken, Segnungsfeiern im Umfeld des Erfurter Weihnachtsmarkts, Weihnachtslob). Dieser Aufbruch zu einer »Entgrenzung von Kirche« (192) ist riskant und im Kontext der Diaspora gleichzeitig alternativlos – sofern man von der Bedeutsamkeit der christlichen Botschaft für alle Menschen überzeugt ist. Er verändert nicht zuletzt das kirchliche Selbstverständnis.
Um eine solche veränderte Haltung, die vom Dialog mit den Ungläubigen und Suchenden lernen will (u. a. Tomáš Halík, Martin Kočí, Benedikt Kranemann) und sich tatkräftig und aufgeschlossen ihrer Situation annimmt und an ihr erneuert, wird in diesem Band nachdrücklich geworben.