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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1146 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schulz, Christiane

Titel/Untertitel:

Spätaufklärung und Protestantismus. Heinrich Gottlieb Tzschirner (1778-1828), Studien zu Leben und Werk.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1999. 265 S. gr.8 = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 4. ISBN 3-374-01715-0.

Rezensent:

Joachim Weinhardt

"Tzschirner, de Wette und Schleiermacher" konnte Karl Hase als die protestantischen "Abgeordneten an die Nachwelt" bezeichnen, Tzschirner (T.) erschien ihm gar als der "persönlich gewordne Protestantismus der neuen Zeit" (vgl. das 9, Anm. 1 zit. Werk 366 f.). Trotz der hohen Bedeutung, die damit kein geringer Vertreter der Kirchengeschichte T. zugeschrieben hat, muß die Vfn. in ihrem Literatur- und Quellenbericht (Kap. 1, 11-43) feststellen, daß T. nur einen kurzen Nachruhm genossen hat und daß er bald fast nur in vorwiegend regional- und stadtgeschichtlichen oder in enzyklopädischen Arbeiten erwähnt wird. Dies hat bestimmt damit zu tun, daß sich auch T.s Theologie nicht als Etappe auf dem historischen Anmarsch zur Etablierung aktueller theologischer Entwürfe eignet (vgl. D. v. Reeken in ThLZ 122, 1997, 1139).

In Kap. 2 folgt die Vfn. T.s Lebensweg (45-108). Als ältester Sohn eines Pfarrers studierte er 1796-99 Theologie in Leipzig. 1800 habilitierte er sich in Wittenberg an der theologischen und an der philosophischen Fakultät, doch schon 1801 wurde er, aufgrund der finanziellen Verantwortung für seine Herkunftsfamilie, der Nachfolger seines erkrankten Vaters in Mittweida, einer sächsischen Kleinstadt. Durch rege literarische Tätigkeit, vor allem zu ethischen und psychologischen Themen, qualifizierte er sich für eine theologische Professur in Wittenberg (1805). 1809 wechselte er nach Leipzig zurück, wo er außerdem 1815 die arbeitsintensive Superintendentur übernahm. Bei dieser Gelegenheit wurde er von Herrnhuter Kreisen als Rationalist denunziert (97). 1814 hatte er noch als Feldpropst die sächsischen Truppen nach Frankreich begleitet. 1828 starb T. nach längerem Leiden. Für diesen biografischen Abschnitt ihrer Untersuchung hat die Vfn. eine so große Anzahl von Quellen nachgewiesen und ausgewertet, daß die Quellenbasis vielleicht sogar einmal eine eigenständige T.-Biografie tragen könnte.

Kap. 3 (109-220) stellt die Aspekte von T.s Wirksamkeit dar. Am stärksten dürfte ihn sein Amt als Superintendent gefordert haben (109-123), in welchem er sich mit Agenden-, Gesangbuch- und Perikopenreformen zu beschäftigen hatte, mit Disziplinarfällen, mit der Taufpraxis und mit Besoldungsfragen. Schon als Superintendent hatte er ein besonders wachsames Auge auf kirchenpolitische Emanzipationsbestrebungen seitens des Katholizismus. In diesem Abschnitt leistet die Vfn. eine Quellenarbeit, die direkt der sächsischen Kirchengeschichtsschreibung zugute kommen wird. Sodann werden wir mit T. als Prediger bekanntgemacht (123-139), mit dem Hochschultheologen (141-162), dem Publizisten (163-178) und dem Protestantismustheoretiker (179-220). Nicht nur vom Umfang der Abschnitte her bildet diese Reihung eine Klimax.

Als Fachwissenschaftler (er wechselte mit steigender Anciennität durch alle Lehrstühle der theologischen Fakultät) war T. nicht sehr bedeutend. Nach Schröckhs Tod führte er dessen Kirchengeschichts-Lehrbuch nach dem ursprünglichen Plan zu Ende, und über dieses wenig originelle Werk urteilte ein Zeitgenosse, daß es als einziges bewirken werde, "seinem Namen Fortdauer zu verschaffen" (149). Allerdings verhinderte sein früher Tod die Verwirklichung weiterer literarischer Pläne. T.s Popularität dagegen wurde durch seine gegen den "aufstrebenden, antiliberalen Katholizismus" gerichteten Schriften (103) und durch seine "Verteidigung eines liberal-freisinnigen Protestantismus" begründet, welche nach der Konversion des Berner Stadtrates v. Haller und seiner Amalgamisierung von Protestantismus und Revolution besonders dringend wurde (163). Tatsächlich läßt sich bei T. eine Affinität zwischen seinem Engagement für eine synodal verfaßte, freie Kirche und einer Option für den Konstitutionalismus feststellen (187). An der Union in der preußischen Landeskirche war für ihn nur die Art und Weise ihrer Einführung bedenklich - es wäre Aufgabe der Synode gewesen, solche weitreichenden Beschlüsse zu fassen (215).

Die Vfn. bescheinigt T. "ein weit geöffnetes, geradezu unkonventionelles Kirchenverständnis": Kirche war für ihn in erster Linie ein "sittliches Institut", dogmatische Differenzen traten in den Hintergrund. Der sittliche Zweck der Kirche könne ein gemeinsames Dach für alle dogmatischen Richtungen bilden, eine "Einheitsfront" (216). Aber ist diese Auffassung zu T.s Zeiten, als in Sachsen der Rationalismus eine "fast flächendeckende Verbreitung erreichte" (179), tatsächlich unkonventionell?

Die Arbeit umreißt konturenreich das Leben und Wirken eines vergessenen Theologen des Protestantismus. Dabei öffnet sie ein Fenster auf die gesamte theologische und geistige Welt jener Periode, ähnlich wie Johannes Rathjes Rade-Biografie zu Recht den Anspruch erheben kann, eine Momentaufnahme der ,deutsch-evangelischen Geistesgeschichte’ zu sein. Nicht, daß die Vfn. einem gelegentlich noch immer gelobten Verfahren folgte und eine Schablone - in ihrem Fall - der ausgehenden Aufklärungstheologie entwarf, dem sich der Gegenstand ihres Forschens wundersamerweise fügte. Die Fokussierung richtet sich stets auf die Person und das Werk T.s, ohne auf zeitgeistbeschwörende universale Formeln zu schielen. Aber aus dieser Perspektive erfahren wir Vieles und Neues über die christliche Welt jener Zeit, über kirchenpolitische Vorgänge und über wichtige Personen der Kirchengeschichte, etwa über die Supranaturalisten J. A. H. Tittmann, A. Hahn und F. V. Reinhard (der T. anfangs förderte und später in Distanz zu ihm geriet), über den philosophischen Vorkämpfer des Rationalismus W. T. Krug und über die Leipziger Disputation, in der er brillierte, über Ch. F. Ammon und A. Tholuck und viele andere mehr. Das Buch gehört deshalb in die Hand aller, die an der Erforschung der protestantischen Theologiegeschichte nach 1800 arbeiten.

Die Vfn. äußert sich im Vorwort dahingehend, daß ihre Arbeit "eine erste Etappe hin zu T." sei. Sie ist wohl eine entscheidende erste Etappe. Doch könnte es noch eine ganze Reihe von Untersuchungen geben, die auf dem von ihr gelegten Grund weitere interessante Ergebnisse erbringen. Man würde etwa gerne einmal erfahren, ob das systematisch-theologische Denkvermögen T.s es erlaubt, ihm die Rolle eines Vorläufers der Vermittlungstheologie zuzuschreiben. Immer wieder sehen wir, daß T. sich gegen eine einfache Entgegensetzung von Rationalismus und Supranaturalismus sperrte (83 f., 97, 125, 132, 139, 150 f., 180-182). Die Frage ist, ob ihm beide Systeme schlankweg gleichgültig waren, oder ob er tatsächlich nach einem Standpunkt ausschaute, der beide Positionen aufzuheben imstande war.