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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

437-439

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schulte, Patrick

Titel/Untertitel:

Wirtschaftsethik und die Grenzen des Marktes.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XII, 259 S. = Perspektiven der Ethik, 2. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-152563-6.

Rezensent:

Ewald Stübinger

Das Buch basiert auf einer philosophischen Dissertation (2012, bei K. Steigleder, Bochum) und verfolgt drei zentrale Forschungs- und Erkenntnisziele: die Frage 1. nach den Grenzen des Marktes; 2. nach der Rechtfertigung von gesellschaftlicher Ungleichheit und 3. nach dem Abbau der strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer in Marktwirtschaften. Vorgeschaltet ist eine Auseinandersetzung mit den wirtschaftsethischen Ansätzen von Karl Homann und Peter Ulrich (Teil 1, 7–75). Argumentativ bewegt sich die Arbeit im transdisziplinären Bereich zwischen Philosophie (Begründung), Ethik (Praxisbezug) und Wirtschaftswissenschaft (Gegenstandsbezug). Religiös-theologische Referenzen finden sich keine.
An Karl Homann kritisiert der Vf., dass der deklarierte systematische Primat der politischen (Rahmen-)Ordnung vor dem Marktprinzip mit dem Prinzip der anreizkompatiblen Implementierbarkeit von Moral kollidiere (2.30 ff. u. ö.). Auch hält er die These Ho­manns, dass das Marktprinzip per se den Wohlstand aller fördere und damit ethisch legitimiert sei, für eine Idealkonstruktion, von der die Realität steigender sozialer Ungleichheit und Verarmung bestimmter Bevölkerungsgruppen abweiche und die stattdessen Verteilungsmaßnahmen erfordere. Letztlich führe die mangelnde Normenbegründung in der ökonomischen Ethik zu einer Ersetzung der Ethik durch die Ökonomik, basierend auf konsequentialistischer Nutzenmaximierung (38 ff.90 f.). Bei der integrativen Wirtschaftsethik von Peter Ulrich erachtet der Vf. vor allem dessen Konzept der Wirtschaftsbürgerrechte als anschlussfähig, um Rechte von Arbeitnehmern zu reflektieren. Allerdings würden diese bei Ulrich zu allgemein und zu extensional formuliert (2.63 ff.190 f.), insofern diese auf alle stakeholder bezogen werden, während sie der Vf. auf Arbeitnehmer fokussiert wissen will. Ulrich favorisiere mit seinem Konzept der Wirtschaftsbürgerrechte eine individualethische Kategorie, die ein altruistisches Wesen der Bürger voraussetze, das Motivationsproblem, warum jemand überhaupt moralisch handeln solle, sowie die Sachzwänge von Marktkontexten und Unternehmen (Hierarchie) vernachlässige sowie generell die Möglichkeiten des Individuums überschätze. Auf die entsprechende Replik Ulrichs auf diese u. a. von K.-O. Apel vorgetragene zentrale Kritik und deren Interpretation (vgl. M. H. Werner, Diskursethik als Maximenethik, 2003, 231 ff.) geht er freilich nicht mehr ein.
Der zweite Teil des Buches (77–140) entfaltet die wirtschaftsethische Position des Vf.s. In systematischer Hinsicht spielen hier Homann und Ulrich unmittelbar keine wesentliche Rolle, sondern vor allem die kommunitaristisch geprägte Geld- und Marktkritik von M. Sandel hinsichtlich der Bestimmung der Grenzen des Marktes sowie bezüglich der Kritik am ökonomischen Imperialismus und an der Ökonomisierung der Lebenswelt die Theorie von J. Habermas. Der Vf. beschreibt den ökonomischen Imperialismus – verstanden als eine Forschungsrichtung innerhalb der Ökonomik, die Ökonomisierung als »den Prozess der Kommodifizierung eines bestimmten Guts beschreibt« (80) – als dreifach reduktionistisch: methodologisch epistemologisch und ontologisch. Zwar lehnt er die beiden ersten nicht apriori ab, aber er sieht die Gefahr, dass diese von ihrem deskriptiven Ansatz aus die handlungsleitenden Maximen aller Handlungen normativ ableiten, so dass sie auf eine »epistemologische Reduktion der Ethik auf die Ökonomik« (91) hinauslaufen. Dabei gerate die Multidimensionalität der menschlichen Handlungsgründe aus dem Blick. Infolgedessen komme es zur potentiell grenzenlosen Ökonomisierung der Lebenswelt. Unter Rückgriff auf Sandels »Z- und K-Argumente« diskutiert der Vf. die notwendige Begrenzung des Marktes. Das Z-Argument, das freie Transaktionen von der Abwesenheit von gravierenden Machtungleichheiten abhängig macht, wird vom Vf. zur Forderung nach Regulierung der politischen Einflussnahme mächtiger Unternehmen und Interessengruppen konkretisiert, so dass »allen Marktteilnehmern als Staatsbürgern dieselben Chancen zukommen, wirtschaftspolitische Entscheidungen mitzubestimmen« (120). Das K-Argument, das auf die degradierenden und korrumpierenden kulturellen Folgen der Kommodifizierung von Gütern abhebt, illustriert der Vf. am Beispiel der Leihmutterschaft, bezüglich der er jedoch nach der ausführlichen Diskussion von Pro- und Contra-Argumenten zu keinem eindeutigen Urteil gelangt.
Den Überschritt von der theoretischen Grundlegung zu dem eigentlichen Praxisbezug vollzieht der Vf. im dritten Teil (141–237) anhand der ausführlichen Diskussion um »gerechten« Lohn und Arbeitnehmerrechte. Auf Z- und K-Argumente wird hierbei kaum mehr zurückgegriffen. In einer eingehenden und differenzierten Analyse der gängigen Kriterien für einen »gerechten« Lohn (Angebot und Nachfrage; Verdienst und Leistung) zeigt der Vf., weshalb seiner Meinung nach keines dieser Kriterien geeignet ist, einen Lohn als »gerecht« auszuweisen, weil es diesen in konkurrenzbasierten Märkten nicht geben kann (144). Stattdessen führt der Vf. die gravierenden Einkommensunterschiede auf bestehende Machtungleichgewichte zwischen Arbeitgebern und -nehmern zurück sowie auf die unzureichenden Mitsprachemöglichkeiten der Arbeitnehmer in Unternehmen. Anstelle von normativen Kriterien votiert der Vf. für das diskursethische Modell der Verfahrensgerechtigkeit, bei dem auf der Basis von rechtsbewehrten gerechten Rahmenbedingungen Arbeitgeber und -nehmer auf Augenhöhe über die gemeinsame Lohnfindung verhandeln. Unter Verweis auf die Zunahme der Kluft zwischen Arm und Reich in fast allen westlichen Industriestaaten in den letzten Jahrzehnten einerseits und dem statistisch aufweisbaren Zu­sammenhang zwischen der sozialen Herkunft bzw. den Startbedingungen und den Berufschancen andererseits plädiert der Vf. für einen Mindestlohn. Dabei argumentiert er jedoch nun nicht mehr verfahrensethisch, sondern normativ, indem er aus dem Würde-Ar­gument (sich als Gleiche begegnen können) die Forderung nach fairen Mindestlöhnen ableitet, um jedem ein selbstbestimmtes Leben (oberhalb des Existenzminimums) zu ermöglichen.
Demgegenüber erachtet der Vf. die ökonomischen Argumente für und wider den Mindestlohn für nicht entscheidbar sowie die normativen Kriterien einer (gemäß dem Rawlsschen Differenzprinzip) konsequentialistischen, einer »gutes Leben«-Argumentation sowie des Bedürfnis-Arguments für entweder zu stark, zu schwach oder zu ungenau. Zum Schluss begründet der Vf. konstitutive Arbeitnehmerrechte auf Mitbestimmung als aus der Idee der Menschenrechte abgeleitete Rechte (unter Rekurs auf vor allem angelsächsische Literatur). In Abgrenzung vom Shareholder- wie vom Stakeholder-Ansatz (und dem Konzept der Wirtschaftsdemokratie) plädiert der Vf. für einen Ausbau der Mitbestimmungs-rechte der Arbeitnehmer in der Weise, dass ein gleichberechtigter Abgleich der Interessen der Arbeitnehmer und der Shareholder bzw. Unternehmer/Manager erfolgt. Dies impliziert ein Konzept des Managements, das dieses sowohl gegenüber den Aktionären als auch gegenüber den Arbeitnehmern (nicht jedoch generell ge-genüber den Stakeholdern) verantwortlich sein lässt. Zum Schluss (243 f.) formuliert der Vf. Anregungen für die weitere Forschung, u. a. im Hinblick auf die Globalisierung sowie die Verknüpfung von Ethik, politischer Philosophie und Ökonomik.
Das Buch bietet eine Vielzahl an Informationen und Argumenten sowie eine Vielfalt an konzeptionellen und literarischen Bezügen (vor allem aus dem deutschsprachigen und angelsächsischen Bereich), deren systematischer Konnex allerdings zum Teil eher »locker« gehalten ist. Die drei Teile könnten auch als – zweifelsohne informative – Einheiten jeweils für sich stehen. Das Buch verknüpft (Grundlagen-)Theoretisches und Praktisch-Empirisches miteinander. Wollte man die Position des Vf.s innerhalb der wirtschaftsethischen Ansätze verorten, wäre sie wohl am ehesten zwischen den Ansätzen eines reformistischen »gezähmten Kapitalismus« (F. Hengsbach) und einer »Ethischen Ökonomie« (P. Koslowski) zu lokalisieren. Wer sich einen Überblick über Positionen und Argumente zu den behandelten Themenbereichen verschaffen will, ist mit dem Buch bestens bedient.