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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

436-437

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Pies, Ingo [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die moralischen Grenzen des Marktes. Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Michael J. Sandel.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Karl Alber 2016. 280 S. = Angewandte Ethik – Marktwirtschaft und Moral, 2. Kart. EUR 24,99. ISBN 978-3-495-48832-4.

Rezensent:

Alexander Dietz

Ingo Pies, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hat mit dem vorliegenden Buch einen vom Aufbau her auf den ersten Blick eher ungewöhnlichen Band herausgegeben: Auf die zweisprachig wiedergegebene Textquelle von Michael J. Sandels Aufsatz »Marktdenken als Moraldenken« (I) folgt eine Zusammenfassung der inhaltlichen Aussagen sowie der Argumentationsstruktur (II). Daran schließen sich 13 kritische wissenschaftliche Kommentare an (III). Das Buch endet mit weiterführenden Literaturempfehlungen (IV). Der Leser erfährt im Vorwort, dass die Beiträge anlässlich einer interdisziplinären Tagung 2015 entstanden, bei der ein be­sonders inspirierender Geist kritischer Analyse und engagierter Diskussion geherrscht habe. Auf Nachfrage wurde dem Rezensenten mitgeteilt, dass der Band vor allem dem Seminarbetrieb dienen solle und sich primär an Bachelorstudierende der ersten Semester wende.
Vor wenigen Jahren erschien Sandels Bestseller »Was man für Geld nicht kaufen kann«. Darin wird eine öffentliche Debatte darüber gefordert, welche Rolle Märkte in unserer Gesellschaft spie-len sollten. Dafür müssten die moralischen Grenzen der Märkte durchdacht werden, insbesondere im Hinblick auf die Fragen, ob es Dinge gebe, die nicht käuflich sein sollten, und welche moralischen Folgen das Vordringen von Märkten auf Lebensbereiche habe, die bisher durch andere Normen beherrscht wurden. Sandel liefert dazu eindrückliche Beispiele, von der bezahlten Walrossjagd bis zur Umgehung der chinesischen Ein-Kind-Politik. Viele dieser Beispiele verwendet er auch in seinem lesenswerten Aufsatz »Marktdenken als Moraldenken«, in dem er neben den bereits bekannten Thesen außerdem die Auffassung vertritt, dass die Ökonomik zur notwendigen ethischen Diskussion der genannten Fragen wenig beitragen könne, solange sie sich – entgegen ihren Ursprüngen – als wertfreie Wissenschaft missverstehe.
Die im vorliegenden Band versammelten kritischen Kommentare zu diesem Aufsatz benennen viele berechtigte Anfragen an Sandels Darstellung und Argumentation – teils in mehrfacher Wie­derholung. So verallgemeinere er zu stark (135), führe ausschließlich Negativ-Beispiele für einen marktgeleiteten Wertewandel auf (103.181.208) und ignoriere die wohlfahrtssteigernden Chancen marktlicher Arrangements (113.142.153.176.207). Er vertrete ein autoritäres objektivistisches Moralverständnis (168.176), einen ethisch strukturkonservativen Standpunkt (112.148.257) und berücksichtige nicht ausreichend den Wandel von Moral (201.230). Sein starkes Vertrauen in die Politik sei unzeitgemäß (122.135.241). Schließlich habe er nur die neoklassische Spielart der Ökonomik im Blick (217) und habe die Diskussionen in der Wirtschaftssoziologie zur differenzierten Betrachtung von Märkten nicht zur Kenntnis genommen (207.216).
Tatsächlich kann der Leser kaum anders, als während der Lektüre ein immer negativeres Bild des zunächst so sympathisch und einleuchtend klingenden Aufsatzes Sandels zu bekommen – sicherlich ein interessanter Lerneffekt (nicht nur für Bachelorstudierende). Gleichzeitig drängt sich mitunter der Eindruck auf, dass die Auswahl der Kommentatoren einer gewissen Einseitigkeit nicht ganz entbehrt. In Ergänzung zu den vorliegenden Beiträgen der Ökonomen, Wirtschaftssoziologen und Politikwissenschaftler hätten beispielsweise solche von Aristotelikern, Kantianern, Marxisten oder evangelischen Wirtschaftsethikern vielleicht die positiven As­pekte des Sandel-Aufsatzes stärker gewürdigt. Gelegentlich möchte man bei der Lektüre die Kommentatoren daran erinnern, dass Sandel Märkte doch gar nicht grundsätzlich ablehnt und dass er auch nicht den Anspruch erhebt, auf die von ihm aufgeworfenen Fragen Antworten zu liefern, sondern dass er lediglich eine (notwendige) Diskussion anregen wollte. Immerhin ist ihm dies offenbar gelungen.