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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

434-436

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ohly, Lukas

Titel/Untertitel:

Schöpfungstheologie und Schöpfungsethik im biotechnologischen Zeitalter.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XII, 306 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 174. Geb. EUR 69,95. ISBN 978-3-11-043775-1.

Rezensent:

Anne Käfer

»Im Gegensatz zur ruhigen und verlässlichen Liebe ist Verliebtsein ein stürmischer Drang, der jede Einzelheit erzittern lässt. Man könnte auch sagen: Während Liebe ihren Blickwinkel auf die Tatsächlichkeit legt, sehnt sich das Verliebtsein nach Widerfahrnissen. Dabei sind die ersehnten Widerfahrnisse oft nur von kurzer Dauer. Der Orgasmus etwa ist ein so kurzer Augenblick wie einige Bissen Fleisch im Mund.« (197) Diesen interessanten Vergleich verwendet Lukas Ohly, apl. Professor für Systematische Theologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, um die Verbundenheit und die Unterschiede von »Tatsächlichkeit« und »Widerfahrnissen« herauszustellen. Das Vorhandensein und das Verständnis dieser beiden Sachverhalte ist ausschlaggebend für seine Schöpfungstheologie und Schöpfungsethik.
Es ist nach O. das Widerfahren von Widerfahrnissen, durch das erlebt werden könne, dass Tatsächlichkeit vorhanden sei. Von dieser Tatsächlichkeit und davon, dass sie durch Widerfahrnisse bewusst werden könne, seien Menschen schlechthin abhängig. Mit seinen Ausführungen gibt O. eine Deutung für das Phänomen, das Friedrich Schleiermacher als »schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl« beschreibe. »Dieses Gefühl […] richtet sich auf eine andere Ebene als auf die der Tatsachen […]. Es richtet sich vielmehr darauf, dass die Welt der Tatsachen ist, was sie ist. Dafür wähle ich den Begriff der Tatsächlichkeit von Tatsachen. Und er ist damit theologisch qualifiziert, weil er eine transzendente Ebene bezeichnet, der sich die Welt verdankt, ohne selbst in der Welt vorzukommen.« (60)
Auf diese Ebene würden auch Verliebte gestoßen, wenn ihnen das Widerfahrnis der geliebten Person, die von ihnen als »Gottesgeschenk« wahrgenommen werde, den Blick auf den Grund des Widerfahrens öffne (197). »Verliebtsein hat demnach theologischen Charakter, kann aber gerade dadurch auch zur Idolatrie führen.« (198) Sowohl Gefahren der Anbetung und Vergötterung des geliebten Gegenübers zeigt O. auf als auch Probleme des Ehebruchs. Der »Geist der Treue«, der ein Ehepaar verbinde, werde »irritiert«, wenn einer der Ehepartner zugleich mit einer dritten Person ebenfalls im »Geist der Treue« verbunden sei (228). Der »Geist der Untreue«, der sich in diesem Dilemma bemerkbar mache, könne jedoch durch den »Geist der Liebe« überwunden werden. »Der Geist der Liebe […] macht aus dem nicht vorgesehenen Dritten einen Partner«; allerdings sei es unwahrscheinlich, dass »Gruppensex« die Folge sei, vielmehr eher »eine gewisse sexuelle Enthaltsamkeit aus liebevoller Rücksicht zu den Dritten.« (235) Da sich nach O. der »Geist der Treue« und der »Geist der Liebe« dem Wirken des Geistes Gottes verdanken, stellt sich die Frage, durch wen denn dann der »Geist einer Affäre« bedingt sein könnte, dem durch liebevolle Rücksichtnahme in einer Ehe Platz eingeräumt wird (236).
Von Gottes Geist und der Wirkkraft des Geistigen handelt O. ausführlich im vierten Teil seines Buches, das er mit dem Schriftzitat »Der Geist schwebte auf dem Wasser« überschreibt. In den Überschriften, die die vier Teile des Buches tragen, ist jeweils auf den ersten Schöpfungsbericht verwiesen. »Im Anfang« lautet der Titel des ersten Teils, in dem O. die biblische Überlieferung zu einem Vergleich von Urknalltheorie und Schöpfungstheologie heranzieht. Unter anderem hält er fest, dass die Urknalltheorie insofern eine jüdisch-christliche Theorie sei, als sie dieselbe entscheidende Frage stelle, »nämlich die Frage nach dem ›Anfang für den Anfang‹.« (31) Das »Vorher« des Vorhandenen könne die Physik jedoch nicht ergründen, es könne nur durch Widerfahrnisse erlebt werden. »Der Widerfahrenscharakter [von Widerfahrnissen] konfrontiert uns immer – ob bewusst oder unbewusst – auch mit Tatsächlichkeit, von der wir schlechthinnig abhängig sind.« (31)
Im zweiten Teil geht O. unter der Überschrift »Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei«, umsichtig argumentierend den Fragen nach, ob einem menschlichen Subjekt erlebtes Erleben als je eigenes Erleben gewiss sein könne und wie von einem menschlichen Subjekt ein menschliches Gegenüber erlebt werden könne. Bei seinen Reflexionen über Beschaffenheit und Bedeutung von Erleben richtet O. seinen Blick zudem auf humanoide Maschinen, um hierbei die religiöse Relevanz von Erlebensfähigkeit deutlich zu machen. O. kommt zu dem Ergebnis, dass »nur [menschliche] Subjekte die Gottesfrage als ihre Frage thematisieren, weil nur sie den Widerfahrenscharakter von Widerfahrnissen erleben.« (155) (Künstliche) Intelligenz gewähre zwar, dass auch Computer Widerfahrnisse registrieren könnten, das Erleben dieser Widerfahrnisse sei ihnen jedoch nicht möglich, und also sei ihnen der Widerfahrenscharakter mit seiner religiösen Verweisfunktion nicht zugänglich.
Im Anschluss an den dritten Teil, der den Titel trägt »Seid fruchtbar« und in dem O. vornehmlich von Liebe, Verliebtsein und Ehe handelt, legt er im vierten Teil dar, dass neben Allwissenheit auch Intelligenz eine Eigenschaft Gottes sei; Gott scheint im Vergleich mit den humanoiden Maschinen in uneinholbar gesteigertem Maß intelligent zu sein.
In seinen Ausführungen will O. über Schleiermacher hinaus. Dessen Verständnis von Allwissenheit beschränke Gottes Freiheit unzutreffend. Zwar sei »alles Gewordene« aufgrund der Allwissenheit Gottes »von Gottes Geist durchzogen« (290). Doch das Werden des Gewordenen wisse Gott noch nicht, dieses Werden verdanke sich vielmehr seiner Intelligenz. »Damit leistet Gottes Intelligenz den schöpferischen Prozess der Wissenskreation. Dieser Prozess korrespondiert mit der Allmacht Gottes, die neue Sachverhalte hervorbringt, an die vorher niemand gedacht hat.« (290) – Ob es wohl sein kann, dass diesen kreativen Akten auch der »Geist einer Affäre« entschlüpft, an den die Eheleute zuvor nicht dachten?
Der Geist Gottes jedenfalls, und das ist entscheidend, wirkt nach O., dass menschlichen Subjekten beim Erleben von Widerfahrnissen die Tatsächlichkeit des Erlebens wie des Erlebten evident werde. Dadurch würden diese Subjekte auf den transzendenten Grund verwiesen, der »Gott« genannt werde. Es werde »im subjektiven Erleben, also im geistigen Vollzug« erkannt, dass Gott in seiner Intelligenz schöpferisch kreativ sei und zugleich »die Einheit der Realität« gewähre, die das Erleben der Tatsächlichkeit bedinge (277).
O. geht in seiner Schöpfungstheologie und -ethik gegenwärtig brisanten und komplexen Fragestellungen nach, auf die er dezidiert theologische Antworten sucht und präsentiert. Mit zahlreichen Beispielen veranschaulicht er seine Gedankengänge. Die Themen, die er wählt, sind verbunden durch die Frage danach, wie der schöpferische Grund allen Seins erkannt werden könne und was dies für das je eigene Selbstsein und Zusammenleben mit anderen Menschen oder auch mit humanoiden Maschinen bedeute. Dass O. sehr differenziert und vielfältig nachdenkt über Beschaffenheit und Bedeutung von Erleben, macht sein Buch lesenswert. Allerdings jedoch führt O.s Beschreibung religiösen Erlebens, das an­geblich letztlich auf die Ebene der Tatsächlichkeit stoße, eben nur bis zu dieser Ebene, von der angenommen werden soll, sie sei intelligent. Dass sich die Schöpfung nach christlicher Überzeugung schöpferischer Liebe verdankt, die nicht nur längerfristig, sondern ewig wirksam ist, ist trotz aller Rede von der Liebe zwischen Menschen zu kurz gekommen.