Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2017

Spalte:

433-434

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Heimbach-Steins, Marianne

Titel/Untertitel:

Grenzverläufe gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Migration – Zugehörigkeit – Beteiligung.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2016. 193 S. m. 1 Abb. = Gesellschaft – Ethik – Religion, 5. Kart. EUR 27,90. ISBN 978-3-506-78276-2.

Rezensent:

Johannes Soukup

Marianne Heimbach-Steins verfolgt mit diesem Buch ein ehrgeiziges Projekt: Sie versucht den Bogen zu schlagen von philosophisch-theologischen sowie politischen Grundsatzüberlegungen hin zu deren praktischer Umsetzung bei der Aufnahme und Behandlung von allen Migranten, insbesondere Flüchtlingen.
Das erste Kapitel stellt einige Fakten dar, die für jede seriöse Diskussion dieser Problematik unabdingbar sind. Hierbei überraschen nicht zuletzt die relativ geringen Zahlen der Flüchtlinge im Verhältnis zu den Gesamtzahlen der Ausländer – nicht nur in Deutschland. Im zweiten Kapitel stehen Politik und geschichtliche Entwicklung im Mittelpunkt. Dabei will die Vfn. insbesondere zeigen, dass das Denken in Nationalstaaten der Vergangenheit an­gehören dürfte und viele unserer Probleme – wie das der Migratio n– mit einem solchen Ansatz kaum zu lösen sein werden. Diese Überzeugung gewinnt konkrete Gestalt in dem theoretischen dritten Kapitel, von dem mir zwei Punkte als besonders wichtig er­scheinen:
Zum einen stehen wir häufig vor dem Problem, inwieweit wir unsere eigenen Werte oder Überzeugungen auf andere Kulturen und Religionen übertragen dürfen. Sind zum Beispiel die Menschenrechte eine lediglich abendländisch-christliche Errungenschaft, oder dürfen – bzw. müssen – wir sie auf das gesamte Erdenrund ausweiten? Hierauf gibt H. eine sehr kluge Antwort:
Der jüdisch-christliche Glaube beweist nicht die Menschenwürde mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen; theoretische Beweise gibt es letztlich gar keine. Formulierungen der Form »aus dem christlichen Glauben folgt ...« sind folglich immer falsch, weil sich bestenfalls »für mich daraus zwingend ergeben kann«. In diesem Sinne sind viele von uns durch die Erfahrungen ihres Le­bens zu der Erkenntnis universaler Menschenrechte gekommen, und zu diesen Erfahrungen gehören – gegebenenfalls – auch solche mit dem jüdisch-christlichen Glauben.
Da keine andere Methode des »Beweisens« möglich ist, können wir nur hoffen und uns dafür engagieren, dass hinreichend viele Menschen auf der gesamten Welt und in allen Religionen ähnliche Erfahrungen sammeln können. Damit gelangen wir fast automatisch zu dem zweiten klugen Gedanken von H., demzufolge wir bei der Umsetzung unserer theoretischen Überlegungen in die Praxis der Migranten – und wohl auch unsere eigene – aufgrund unseres Wissensstandes drei Voraussetzungen zu beachten haben:
1. Sämtliche Menschen sind gleich; es gibt keine Graduierung der Würde und den sich daraus ergebenden Rechten.
2. Ausnahmslos alle Institutionen sind sekundär und für die Menschen da; sie besitzen keinen Selbstzweck. Das gilt natürlich auch für die Kirchen; biblisch entspricht dem die Geschichte vom verlorenen Schaf.
3. Stets geht das Gemeinwohl vor den Interessen der Einzelnen. Auch das wussten wir bereits, aber vielleicht ist es nicht selbstverständlich, Gemeinwohl und Einzelinteressen als relativ zu verstehen: Das Wohl des Ortes besitzt mir gegenüber Priorität, aber der Ort entspricht dem Einzelnen im Landkreis, und die Bürger eines ganzen Nationalstaats sind lediglich ein Einzelner bezüglich der Menschheit.
Im vierten Kapitel werden diese allgemeinen Überlegungen für Deutschland als Einwanderungsland konkretisiert. Hier sollten wir auch im Hinterkopf haben, wie viele Millionen von Fremdarbeitern wir gewollt, benötigt und angelockt haben.
Im fünften Kapitel geht es auf der einen Seite darum, was für eine erfolgreiche Integration möglich bzw. notwendig wäre und welche Rechte den Migranten – aufgrund der obigen Überlegungen – zustehen. Dem steht auf der anderen Seite unser realer Um­gang mit den Migranten gegenüber, und wir werden wohl kaum behaupten wollen, dass unsere Integrationsbemühungen selbst vor den Flüchtlingsströmen der vergangenen beiden Jahre durchweg von Erfolg gekrönt gewesen wären.
Letztere stehen im Mittelpunkt des abschließenden sechsten Kapitels. Hier werden unter anderem die »heißen Eisen« unserer jüngsten politischen Diskussionen sehr mutig angegangen. Bilden wir wirklich eine »Willkommenskultur«? Gibt es »Grenzen der Aufnahmefähigkeit«? Warum denunzieren wir »Wirtschaftsflüchtlinge«? Würden wir an deren Stelle anders handeln? Helfen uns Unterscheidungen wie »irregulär, illegal, kriminell« tatsächlich weiter?
Das Fazit von H. fällt sehr deutlich aus: Im sog. Flüchtlingsproblem kommt (zumindest auch) unser Problem zum Ausdruck; nämlich dass es absurd und hoffnungslos ist, die Fragen einer globalen Welt mittels eines politischen Denkens in Nationalstaaten lösen zu wollen und dabei völlig zu ignorieren, dass deren Möglichkeiten schon längst sehr überschaubar geworden sind. Die na­tionalistischen Kräfte in aller Welt werden daher zwar verständlich, aber je stärker und länger wir ihnen folgen, desto g­eringer werden unsere Chancen auf wirkliche Lösungen.