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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

423-426

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Helmer, Christine

Titel/Untertitel:

Theology and the End of Doctrine.

Verlag:

Louisville: Westminster John Knox Press 2014. 216 S. Kart. US$ 35,00. ISBN 978-0-6642-3929-9.

Rezensent:

Roderich Barth

Die an der Northwestern University in Illinois USA am Department of Religious Studies lehrende Christine Helmer hat eine programmatische Studie nicht zum Ende, sondern zur Zukunft theologischer Lehre vorgelegt. Mit der dialektischen Anmutung des Titels spielt H. auf ein für die jüngere Theologiegeschichte Nordamerikas einflussreiches Werk an: George A. Lindbecks The Nature of Doc-trine (1984), gleichsam ein Manifest der seinerzeit sogenannten Yale School. Besagte Studie steht für den prominenten Versuch, eine lutherische Wort-Gottes-Theologie mit Hilfe von kulturwissenschaftlich-linguistischen Theorieanleihen in die Moderne zu retten. Im Fahrwasser des linguistic turn jedoch werde dabei theologische Lehre auf eine normative und invariante Grammatik des Glaubens reduziert. Dieses Verständnis vom Wesen der Lehre läuft aber nach H. de facto auf das Ende derselben hinaus. Die Rekonstruktion dieser problematischen Entwicklung in Gestalt einer »intellectual history« (18) macht den ersten Hauptteil des Buches (Chapter 2–3) aus, dient aber zugleich auch der Freilegung von Bedingungen für einen Neubeginn: »With an end comes a beginning« (109; vgl. 19.150 ff.162). Dieser konstruktiven Absicht ist der zweite Hauptteil der Studie (Chapter 4–5) gewidmet. H. entfaltet hier eine epistemologische Grundlegung (19.113.128 ff.145 f.) theologischer Lehrbildung. Ziel ist ein Verständnis von Lehre, das man zusammenfassend als erfahrungstheologisch beschreiben kann.
Neben der Einführung in Beweisziel und Methode ist aus Chapter 1 vor allem die zeitdiagnostische Verortung der Theologie in der akademischen Welt Nordamerikas hervorzuheben (3–5). H. skizziert ein prägnantes Bild, wie diese bereits in ihrem institutionellen Vorkommen an kirchlichen Seminaren, Divinity Schools, theologischen Fachbereichen an Universitäten oder Colleges mit konfessioneller Bindung sowie im Kontext der Religious Studies an säkularen Universitäten fragmentierte Disziplin durch heterogene Therapieansätze in eine immer tiefere Identitätskrise getrieben werde. Und dies zeige sich eben zuvörderst an den Erwartungen mit Bezug auf die theologische Lehre: Hat Theologie die traditionelle Aufgabe der Verwaltung theologischer Lehrbestände in ihrer identitätsstiftenden Funktion für die Kirche? Hat sie ihr Augenmerk pragmatisch stärker auf die akuten Bedürfnisse einer zunehmend unter ökonomische Zwänge geratenden und immer unübersichtlicher werdenden Vielfalt an Denominationen zu richten oder muss sie sich gar vom kontinentalen Erbe dogmatistischer Lehre mit universalem Wahrheitsanspruch ganz verabschieden und auf eine rein funktionale Beschreibung der Religion beschränken, um im Kreise der Kulturwissenschaften und Universität satisfaktionsfähig zu bleiben? Wird in dieser Zeitdiagnose die Dringlichkeit der Fragestellung greifbar, so bleibt die Identifizierung eines konkreten Ansatzpunktes sowohl für den historischen als auch den systematischen Teil der Untersuchung. Bereits Brian A. Gerrish, einer der Hauptvertreter der vormals sogenannten Chicago School, hatte in seiner Rezension von Lindbecks Studie das dort zur Negativfolie aufgebaute Schleiermacherbild als groteske Verzeichnung entlarvt. Ein entsprechender Eindruck (17) dient H. zur Konkretisierung ihrer weiterführenden Untersuchung.
Das für Lindbeck maßgebliche Zerrbild von Schleiermachers unheilvollem Subjektivismus der inneren Erfahrung bei gleichzeitiger Depotenzierung ihres lehrhaft-sprachlichen Ausdrucks führt H. vor allem auf Brunners einschlägige Studie von 1924 (Die Mystik und das Wort) zurück. In der diastatischen Entgegensetzung der objektiven Realität des göttlichen Wortes zur menschlichen Natur komme eine Entwicklung zu ihrem problematischen Höhepunkt (27), die mit dem konstruktiven Interesse an einer zeitgemäßen Reformulierung der Rechtfertigungslehre durch den lutherischen Theologen Albrecht Ritschl einen durchaus noch hoffnungsvollen Anfang genommen habe. In der Wort-Gottes-Theologie Karl Barths dagegen sieht H. wiederum ein konstruktives Motiv für die Gegenwart aufgehoben. In den die radikalen Diastasen des Römerbriefs trinitätstheologisch vermittelnden Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik (62–88) zeige sich ein Verständnis von dogmatischer Lehre, das in der »transzendenten Realität Gottes« (77.87 u. ö.) ein kritisches Prinzip behalte. Dogmatische Lehre als Interpretation der sie ermöglichenden Selbstoffenbarung Gottes werde als ein für Innovation offener und an die Bedingungen seiner Zeit gebundener Prozess des Fragens (79) gedacht. Diese kritisch-innovative Rückbindung an eine transzendente Realität Gottes, die Barth durch die innere Dialektik seiner Trinitätslehre sicherzustellen su­che, gehe dann aber in den von H. als »epistemic-advantage model of doctrine« (89.100.103 f.) zusammengefassten Konzepten der amerikanischen Theologie verloren. Als Exempel dafür dient die Theologie Bruce D. Marshalls, in der Lehre auf ein sprachlich formuliertes und abgeschlossenes Set von Überzeugungen verkürzt werde, das im kirchlichen Bekenntnis ökumenisch festgelegt sei und die christliche Weltanschauung normativ bestimme. H.s Zwischenfazit: »At this point, doctrine has come to an end.« (105)
Der systematische Neuaufbau einer Epistemologie erfolgt im Anschluss an eine eigenwillige Kombination von Grundmotiven, die H. aus Schleiermachers exegetischen Vorlesungen, den Vorlesungen zur Hermeneutik und Dialektik sowie der Religionstheorie und Christologie der Glaubenslehre entnimmt. Im Zentrum steht dabei die Verhältnisbestimmung von Erfahrung und Sprache und der Nachweis ihrer unmittelbaren Nähe (»proximity« 124.145), ja gar »Einheit« (126). Sie ergebe sich aus Schleiermachers empirischer Grundlegung der Gnadenlehre. Die in den neutestamentlichen Aussagen sich ausdrückende christliche Erfahrung werde eben nicht allein aus dem unmittelbaren Selbstbewusstsein abgeleitet, obwohl dieses für das Zustandekommen des »Totaleindrucks« der Person Jesu gleichwohl eine konstitutive Funktion habe (122 f.), sondern aus der »Kausalität« (124) Jesu auf das fromme Bewusstsein. Die sich sprachlich artikulierende Wirkung der Person Jesu vollziehe sich nach Schleiermacher ferner in einer sozialen Gemeinschaft (Kirche) und sei daher abhängig von den kulturellen Rahmenbedingungen. Zugleich sei aber die Einzigartigkeit und Originalität der sprachlichen Referenz als Prozess einer begriffslogischen Bestimmung der Individualität des Erlösers zu denken (126–130). Damit sind für H. die Aufbauprinzipien einer Epistemologie theologischer Lehre benannt: Zum einen muss sie an das Kriterium soteriologischer Erfahrung rückgebunden werden, die in ihrem Bezug auf eine transzendente Realität stets dynamisch und plural verfasst sei. Zum anderen resultiere aus dem begriffslogischen Charakter ihres sprachlichen Ausdrucks eine Tendenz zur Systematisierung und spekulativen Grundlegung. Lehre in diesem Sinne sei ein für sachliche und methodische Innovationen offenes, sich prinzipiell über seine kulturelle Herkunft hinaus global ausdehnendes »living system« (141).
Das Schlusskapitel (149–169) kehrt an den debattenpolitischen Ausgangspunkt zurück und zeigt, wie der zuvor entwickelte An­satz gleichsam als Brücke für eine Annäherung zwischen Theologie und Religious Studies fungieren kann. Nach einer glänzenden Skizze der wechselseitigen und die gemeinsamen Wurzeln verleugnenden Entfremdung beider Disziplinen (155–157) diagnos­tiziert H., dass in der empirischen Religionsforschung der Ge­genwart durchaus ein Bewusstsein für die Angewiesenheit auf einen epistemologischen Zugang zu ihrem genuinen Gegenstand entstehe, der ihr durch ideologisch bedingte Dekonstruktion verloren zu gehen drohe: die Religion. Hierin sei eine Chance für die akademische Zukunft der Theologie zu erblicken, die sich dann aber umgekehrt aus einer dogmatistisch-kirchlichen Selbstghettoisierung zu lösen und sowohl die Öffnung zu der Diversität der empirischen Religionsforschung als auch die konsequente Historisierung als einen unverzichtbaren Beitrag für die dogmatische Arbeit zu begreifen habe.
Obwohl H.s Studie auf die spezifische Situation der Theologie in Nordamerika rekurriert, ist die Lektüre doch gerade auch für einen Vertreter dieser Disziplin in kirchenstaatsvertraglich eingehegten Schutzzonen zu empfehlen. Denn sie macht eindrucksvoll die Notwendigkeit einer epistemologischen Selbstbesinnung und Rechenschaft unter den Bedingungen der gesellschaftlich-kulturellen und akademischen Bedingungen der Moderne anschaulich. Auch der konstruktive Effekt sowie das Ziel einer sich der komplexen Herausforderung bewussten Innovation theologischer Lehre sind zu begrüßen. Dies gilt unbeschadet dessen, dass sowohl die theologiegeschichtliche als auch die systematische Durchführung an vielen Stellen nicht überzeugen kann. Es fällt beispielsweise auf, dass H.s Rekonstruktionen die Subjektivitätstheorie von Ritschl und Schleiermacher fast vollständig ausblenden. Für beide Denker war jedoch Religion zuvörderst im Selbstverhältnis des Geistes verortet. Epis­temologisch resultiert daraus aber ihr Deutungscharakter und die von H. zu Recht betonte Notwendigkeit einer empirisch-historischen und symbolischen Vermittlung. Der in H.s Leitschema einer »Erfahrung der transzendenten Realität Gottes« vollzogenen Engführung fallen demgegenüber entscheidende Vermittlungsschritte zum Opfer wie etwa Schleiermachers Bemühen um eine dogmatische Rekonstruktion der Erlösungsbedürftigkeit, die das Phä-nomen einer soteriologischen »Erfahrung« allererst verständlich ma­chen kann. Auch die Pointe des von H. betonten Konzepts des »Totaleindrucks« wird so verspielt, verweist es doch auf das literarische Genus des Leben Jesu und das hermeneutische Verfahren der »Divination«. Damit sind aber – auf narratologische Zugänge vorverweisend – gerade die Grenzen einer dogmatischen Konstruktion der Person und Individualität Jesu markiert, die H. nach wie vor für möglich hält. Der Grund für diese Engführungen liegt auf der Hand – er ist in H.s Versuch zu sehen, die dogmatische Theologie Karl Barths – einem erklärten Gegner einer konsequenten Historisierung und epistemologischen Grundlegung (76) – positiv in ihre intellectual history und den konstruktiven Aufbau ihrer Epis-temologie einzuzeichnen, ja gar zum Protagonisten der Einsicht in die soziale Konstruktion theologischer Lehre zu machen (149). Daraus resultiert aber die vollständige Unklarheit des tragenden Grundbegriffs einer »transzendenten Realität Gottes«, und die Epistemologie droht theologisch und dogmatisch in einem Sinne zu werden, den H. doch eigentlich zu überwinden sucht.