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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

410-413

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Graf, Friedrich Wilhelm, Hanke, Edith, u. Barbara Picht[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte intellektuell. Theoriegeschichtliche Perspektiven.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. VIII, 533 S. Geb. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-153317-4.

Rezensent:

Christoph Lorke

Was kann die Geschichte, welche Erkenntnisdimensionen und -gren­zen umfasst sie und welches sind überhaupt die Aufgaben des Historikers? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich dieser Sammelband, bei dem es sich um eine Festschrift zum 65. Geburtstag des Historikers Gangolf Hübinger handelt. Der inzwischen emeritierte Professor für Vergleichende Kulturgeschichte der Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung der philosophischen Grundlagen der Kulturwissenschaften an der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder erfährt dadurch eine besondere Würdigung. Insgesamt versammelt der Band 28 Beiträge von Autoren und Autorinnen unterschiedlicher Fachrichtungen wie der Geschichts-, Sozial-, Literatur- und Sprachwissenschaften. Die Pu­blikation schafft es, gemeinsame Fragen: nämlich solche nach geschichtlicher bzw. geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis zu bearbeiten, theoretisch-methodologische Grundfragen aufzuwerfen und interdisziplinäre Überlegungen anzustellen. Zu Wort kommen Weggefährten und Schüler, Freunde und Kollegen, Mitstreiter und Mitarbeiter Hübingers, erfahren-renommierte, aber auch Mitglieder der nachwachsenden Wissenschafts-Generation.
Dabei sind die Beiträge so angeordnet, dass sich das wissenschaftliche Werk des gebürtigen Düsseldorfers widerspiegelt. Be­stimmte markante Punkte ziehen sich durch den Band, sei es das (geschichts-)wissenschaftlich-methodische Denken von bis heute prägenden Intellektuellen, seien es verschiedentliche inhaltliche Anknüpfungen, die sich auch in Hübingers Werk wiederfinden. Thematisiert werden Wissens- und religiöse Kulturen, die Ge­schichte politischer Bewegungen (insbesondere der Liberalismus), Kultur- und Geschichtsphilosophie, die Geschichte der Ge­schichtsschreibung. Immer wieder sind auch ideen- und intellektuellengeschichtliche Bezüge angesprochen, viele davon zu verorten um 1900, die damit verbundenen Ab-, Um- und Aufbrüche, Krisen und Verwerfungen und die daraus resultierenden Implikationen für einen wissenschaftlich-reflektierten Umgang in der geschichtlichen Beschäftigung mit ihnen. Mit Ernst Troeltsch und Max Weber sind es sodann zwei intellektuelle Begleiter Hü­bingers, die immer wieder in den Beiträgen auftauchen, und zwar insbesondere bezogen auf ihre zeitgenössische Stellung sowie Bedeutung für geschichts- bzw. kulturwissenschaftliches Arbeiten heute. Hier kommt zweifellos auch die Überzeugung Hübingers zum Ausdruck, bei diesen beiden Denkern viel über methodisch diszipliniertes Arbeiten und geschichtswissenschaftliches Erkennen zu lernen. Dieser Bezug vermag kaum zu überraschen, war der Geehrte doch bereits seit den 1980er Jahren als Redakteur der Max-Weber-Gesamtausgabe tätig. Bis heute ist er deren Mitherausgeber; gleiches gilt für die Kritische Gesamtausgabe von Ernst Troeltsch.
Aus Platzgründen können hier nicht alle der Beiträge Berücksichtigung finden; stattdessen werden anhand von wenigen Texten einige prägnante Besonderheiten etwas stärker beleuchtet. Die Einleitung des Theologen Friedrich Wilhelm Graf, einer der drei Herausgeber des Bandes, hebt mit dem Titel »Problemgeschichte(n) denken« auf Biographisches und intellektuelle Perspektiven Hübingers ab. Der Beitrag ist mehr als eine schlichte Laudatio oder eine bloße Aufzählung der Publikationsliste. Stattdessen werden ein komprimierter Überblick über Schaffen und Werk Gangolf Hübingers geboten und zugleich äußerst geschickt methodologisch zentrale Fragen eingeflochten. Besonders eindrücklich ge­schieht dies mithilfe von Verweisen auf Hübingers »Überlegungen zu den Aufgaben des Historikers« (so der gleichnamige Titel seines 2012 veröffentlichten Buches) und dem darin formulierten Plädoyer für »klare Begriffsbildungen« oder auch der Schaffung »klarer Übersichten«. Demgemäß verstehe Hübinger den Historiker/die Historikerin als »Lotse[n] des Umschreibens der Geschichte«, der/die stets »kritisch Distanz zu den Klippen der Geschichtspolitik« zu wahren habe (4), kurz: der intellektuelle Anspruch an historisch Forschende müsse es sein, bewusst in zwei Welten zu leben und diese voneinander klar zu trennen: Gegenwart und Vergangenheit. Diese an Hübinger angelehnte Überlegung ist sicherlich diskussionswürdig, denn umgekehrt könnte genauso gut auch an­ders argumentiert werde – gerade bei zunehmender zeitlicher Nä­he zum Untersuchungsgegenstand und mit Blick auf aktuelle Debatten im Fach, wie auf die beinahe schon politisch-ideologische Kampfschrift »The History Manifesto«, 2014 von Jo Guldi und David Armitage veröffentlicht.
Das Buch gliedert sich in vier Abschnitte. Auch hier findet sich das inhaltliche, zeitliche, methodische und räumliche Wirken Hübingers wieder – angefangen von der »Theorie der Geschichte: Selbstreflexionen und Impulse« (Abschnitt I) und den biographisch-intellektuellen Auseinandersetzungen mit »Geschichtsdenker[n] und Geschichtsintellektuelle[n]« (Abschnitt II) über »Ge­schichtsdenken interdisziplinär« (Abschnitt III), hin zu Ab­schnitt IV, der mit »Europa als Schauplatz und Problem der Historiographie« auf die Viadrina in der Grenzstadt Frankfurt/Oder verweist. Diese hat sich bekanntlich Inter- und Transnationalität, Grenzüberschreitung und europäische Integration auf die Fahnen ge­schrieben.
Der Beitrag Karl Schlögels, der an der Viadrina bis zu seiner Emeritierung viele Jahre den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte innehatte, ist Auftakt des Bandes. Ausgehend von seiner konzeptionellen Auseinandersetzung mit der Räumlichkeit in der Ge­schichte lesen sich Schlögels Überlegungen wie ein Plädoyer für mehr Freiheit, starre Begriffe und Schemata hinter sich zu lassen und vor allem Offenheit in der Darstellung anzustreben. Zuzustimmen ist insbesondere der hier geäußerten Forderung, eine vermeintlich lineare Geschichte nicht ex post von ihrem Ende her zu denken. Ähnlich argumentiert der Trierer Historiker Lutz Raphael. Er fordert mit Blick auf vergangene und aktuellere »Krisensemantiken der Geschichtswissenschaft« einen produktiven Umgang mit diesem Begriff ebenso ein, wie er Skepsis gegenüber jedweder Te­leologie anmahnt. Dies bedeute insbesondere, stärker auf »Krisen«-auslösende Momente zu blicken und damit das Moment des Unerwarteten ernst zu nehmen. Raphaels Vorschlag zur Nutzung des aus der Soziologie stammenden Resilienz-Ansatzes (90) klingt reizvoll; es bleibt freilich abzuwarten, wie und in welchen inhaltlichen (Krisen-)Zusammenhängen sich die Geschichtswissenschaft dieser Idee tatsächlich annehmen kann. Auch andere Beiträge nehmen Zeitsemantiken in den Blick, etwa die Ausführungen der Mitherausgeberin des Bandes, Barbara Picht, zu Zeittheorien (»Flüchtige Moderne«), die insbesondere begriffliche Schärfung einfordert, wodurch ein differenziertes Bild mit Blick auf Geschwindigkeiten entstehen könnte. Der Sammelband bietet auch ein breites Panorama an Beiträgen zu verschiedenen Intellektuellen, etwa zu Jacob Burckhardt, Norbert Elias, Eric Hobsbawm und, natürlich, immer wieder zu Max Weber und Ernst Troeltsch. Hinzu kommen aber ebenso historisch arbeitende literatur-, sprachwissenschaftliche wie geschlechter- oder historiographiegeschichtliche Beiträge, die hier nicht tiefergehend besprochen werden können.
Der Sammelband als Ganzes versammelt die Ansätze einer theorie- und methodenbewussten Geschichtsschreibung. Er offeriert dabei eine Vielfalt intellektueller Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der Geschichte und diskutiert – mit je eigenen disziplinarischen Instrumenten und Fragehorizonten – Auslegungen und Wege für eine deutende Fortschreibung der Geschichte. Dass dabei nicht alles gänzlich neu und schon gar nicht widerspruchsfrei ist, versteht sich. Eine Veröffentlichung wie diese muss dies gar nicht leisten, im Gegenteil: Begreift man eine Festschrift als Versammlungsort intellektuell anregender, eine breite Zeit- und/oder Themenspanne umfassender methodologischer Reflexion, ja als konzeptionellen »Ideensteinbruch«, so hat der Band diese Erwartung allemal eingelöst. Das breite wissenschaftliche Repertoire ideen- und problemgeschichtlicher Zugänge zur Historie im Allg emeinen ist gut zusammengestellt und die im Einzelnen zwar heterogen ausgerichteten, aber ausgesprochen anregenden Suchbewegungen nach der historischen Wirklichkeit sowie nach den Besonderheiten (geschichts-)wissenschaftlichen Erkennens sind zweifellos ansprechende Lektüre.