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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

408-410

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fischer, Norbert, u. Jakub Sirovátka [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Vernunftreligion und Offenbarungsglaube. Zur Erörterung einer seit Kant verschärften Problematik.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Herder 2015. XIII, 570 S. = Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte, 16. Lw. EUR 60,00. ISBN 978-3-451-34198-4.

Rezensent:

Dirk Evers

Das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung ist ein prekäres. Spannungslos dürften beide Kategorien nicht nur in der Neuzeit kaum zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Dabei ist nicht von vornherein ausgemacht, welche der anderen über- oder unterzuordnen ist oder ob und wie ein ausgewogenes Nebeneinander konzipiert werden kann. So kann die Vernunft als das angesehen werden, was die Offenbarung vorbereitet und von dieser vollendet wird. Oder es kann der Glaube an eine Offenbarung als »Vehikel« verstanden werden, das zur reinen Vernunftreligion hinführt und dann überflüssig wird. Dem reinen Vernunftglauben wird leere Vernünftelei unterstellt, die sich Gottes allzu sicher wähnt, während der Offenbarungsglauben als irrationaler Dezisionismus erscheint, bei dem an die Stelle von Argumenten Traditionen treten, zwischen denen letztlich bloße Machtfragen entscheiden.
Die Herausgeber des vorliegenden voluminösen Bandes sehen hier eine verwickelte Problemlage, die sich seit Kant noch einmal entscheidend verschärft hat. Nach ihrer Analyse hat einerseits die Kantsche Philosophie das Ende des von ihr kritisierten metaphysischen »Dogmatism« heraufgeführt und damit einfache Zuordnungen von Vernunft und Offenbarung im Sinne eines Zweistufenmodells von Vorbereitung und Vollendung verabschiedet. Andererseits haben Theologien, die sich allein auf Offenbarung und Tradition berufen, zu gewaltförmigen Religionskulturen geführt, während Philosophien, die die Gottesfrage ausklammern, an der eigentlichen Grundfrage der Philosophie vorbeigehen, die nach der Bejahung der menschlichen Existenz angesichts der sie bedrängenden Übel fragt (17). Auch wenn Kants eigener Vorschlag einer Verhältnisbestimmung von Vernunftreligion und Offenbarung in der Form zweier konzentrischer Kreise den Herausgebern als ungenügend erscheint, so sehen sie doch in seiner Philosophie eben diese Aufgabe einer sachgemäßen Zuordnung von Vernunft und Glaube deutlich gestellt. Mit dieser Problemexposition ist das Spektrum der in diesem Band versammelten Arbeiten aufgerufen, die auf ein internationales Symposion des Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt zurückgehen.
Der Band beginnt mit einer längeren Einleitung des Hauptherausgebers Norbert Fischer, der zum Thema hinleitet, dann ein abgedrucktes kurzes Stück »Von der Offenbarung« aus Kants Vorlesungen über die philosophische Religionslehre kommentiert und schließlich das Verhältnis von Glaube und Vernunft bei Augustinus, Meister Eckhart und Immanuel Kant vergleicht. Fischer parallelisiert die augustinische Unruhe des Herzens mit den metaphysischen Grundfragen Kants und die Gottesgeburt in der Seele bei Eckhart mit der Idee eines von Gott gezeugten und geliebten Urbildes und sieht darin eine dem Christentum durchaus angemessene Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung.
Es geht dann in großen Schritten durch die Philosophiegeschichte. Maximilian Forschner erläutert das nach seiner Auffassung inkonsistente Verhältnis von Mythos und Logos in der Stoa, und Ludger Schwienhorst-Schönberger erörtert die Rationalität des christlichen Glaubens nach Origenes anhand von dessen Schriftgebrauch. Hier findet sich wieder ein Ausblick auf Kant, wenn Ori-genes’ geistig-mystischer Schriftsinn mit Kants hermeneutischer Regel parallelisiert wird, dass eine Auslegung der Schrift zur Besserung des Menschen beizutragen habe.
Es folgen zwei Untersuchungen zum Mittelalter. Günther Pöltner analysiert das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung bei Thomas von Aquin, das zwar als Über- und Unterordnung gestaltet ist, aber zugleich einen personalen, nicht auf theoretische Vernunft reduzierbaren Erkenntnisbegriff verwendet. Martina Roesner kommt in einem interessanten Beitrag auf Meister Eckhart zurück, den sie einerseits aufgrund seiner Betonung von Vernunft und Autonomie in enger Nähe zu Kant sieht, den sie aber andererseits als den religiös musikalischeren und zugleich gelasseneren Denker versteht.
Die frühe Neuzeit wird ebenfalls durch zwei Beiträge repräsentiert. Albert Raffelt beschäftigt sich mit Blaise Pascal und dessen Bibelhermeneutik, und Hartmut Rudolph zeichnet die Differenzen zwischen Leibniz’ Rationalismus und Pierre Bayles Skeptizismus die Reichweite der Vernunft in Glaubensfragen betreffend nach.
Es folgt dann ein Reigen von elf Untersuchungen zu Kant und seinem Umfeld. Dazu gehören eine konzise Darstellung von Kants Religionsbegriff (Friedo Ricken), ein Beitrag zu Hamann (Thomas Brose), eine anregende Studie zu religiösen Gefühlen bei Kant (Bernd Dörflinger) und eine zu Kants Kritizismus der praktischen Vernunft und seinem kritizistischen Metaphysikverständnis überhaupt (Rudolf Langenthaler). Thomas Hanke ordnet Kants kritisches Offenbarungsverständnis seiner Analyse der ästhetischen Urteile in der Kritik der Urteilskraft zu und macht auf eindrückliche Parallelen aufmerksam. Ruben Schneider vergleicht Kants und Thomas’ Analogielehre mit dem Ergebnis, dass bei Thomas Gott in einem analogen Verhältnis zu dem an ihm als Totalität partizipierenden Seienden steht, während der Gottesgedanke bei Kant einen radikal jenseitigen und unerreichbaren Fluchtpunkt der Vernunft auf der Suche nach dem letzten Grund markiert. Es folgen Beiträge zum Ideal der Heiligkeit (Ludmila Kryshtop), zur notwendigen Korrektur der Kantschen Religionsphilosophie durch Herzensfrömmigkeit (Andrej Sudakow), zu Kant als Seelsorger (noch einmal Norbert Fischer) und zu den frühen, von einem mecklenburgischen Pastor namens Mellmann vermittelten Wirkungen Kants in Russland (Alexei Krouglov) sowie der neologischen Fassung lutherischer Theologie bei Spalding (Laura Anna Macor).
Den Schlussteil des Bandes bilden sieben Variationen zu nachkantischen Bearbeitungen des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung. Guisi Stummiello widmet sich Schellings Spätphilosophie als einer sich selbst notwendig auf Offenbarung hin transzendierenden Philosophie, und Pedro Teruel verfolgt die Frage nach dem radikalen Bösen von Kant über Schelling bis Freud. Andere Denker, die vorgestellt und zumeist nur locker mit Kant verbunden werden, sind dann Maurice Blondel (durch Peter Reifenberg), Martin Heidegger (in zwei Beiträgen, einem von Friedrich-Wilhelm von Herrmann zum Verhältnis von Daseinsphänomenologie und Offenbarung und einem von Svetlana Konacheva zur poetischen Theologie Heideggers), Emmanuel Levinas (René Dausner) und Paul Ricœur (Jakub Sirovátka). Den Band schließen ein Literaturverzeichnis und ein Namenregister ab.
Insgesamt handelt es sich um eine Zusammenstellung durchweg anregender und gut lesbarer Beiträge, die naturgemäß vorwiegend eine katholische Perspektive auf Kant entwickeln und ihn stärker der metaphysischen Tradition, aber auch nachfolgender phänomenologisch orientierter Philosophie zuordnen, als man das in der evangelischen Theologie gewohnt ist. Das eröffnet einige interessante Perspektiven gerade auf den Begriff der Offenbarung, aber auch auf das Kantsche Religionsverständnis. Dies alles ist umso verdienstvoller, als Kants Kritik der reinen Vernunft von 1827 an auf dem Index der verbotenen Bücher stand und Kant als Philosoph des Protestantismus und Allerzermalmer in einem strengen Gegensatz zur katholischen Lehre gesehen wurde. Mit den in diesem Band vorgeführten, zum Teil sehr differenzierten und von Klischees freien Ausführungen zum Verhältnis von Offenbarung und Vernunft bei Kant und darüber hinaus wird man auch von Seiten protestantischer Theologie gerne ins Gespräch treten.