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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

398-400

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Gockel, Matthias, u. Martin Leiner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 323 S. Kart. EUR 50,00. ISBN 978-3-525-56022-8.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Das Verhältnis zwischen Karl Barth und Friedrich Schleiermacher zu bestimmen, gehört zu den reizvollen Aufgaben einer Theologiegeschichtsschreibung, die zugleich eine gegenwärtige theologische Aufklärung fördern möchte. Allerdings hat Barth selbst durch seine zwiespältigen, ja widersprüchlichen und teils auch unzutreffenden Äußerungen kräftig dazu beigetragen, eine unvoreingenommene Wahrnehmung Schleiermachers zu beeinträchtigen; daher verwundert es nicht, dass die lebhafte Schleiermacher-Re­naissance der Gegenwart nun ihrerseits an Barth kein Interesse mehr hat. Eine »Neubestimmung« des Verhältnisses beider Theologen verspricht dieser Band, dessen Beiträge sich im Wesentlichen an der Perspektive Barths abarbeiten; eine, wie es heißt, »funktionalistische« Sichtweise (für die etwa Georg Pfleiderer einstehen soll) wird durchgängig abgelehnt. Stattdessen wird das Verhältnis der beiden Protagonisten über eine dogmatikgeschichtliche Zugangsweise zu bestimmen versucht, die sich an klassischen Phänomenen der Dogmatik orientiert. Man kann darin eine Auswirkung der theologischen Forschungen Bruce McCormacks sehen, der in dem Band mit zwei Aufsätzen vertreten ist.
McCormack ist es denn auch, der in seinem ersten Beitrag den Grundakkord anschlägt, wenn er Barths Christologie als Präzisierung und Fortschreibung der Schleiermacherschen Christologie – als »eine orthodoxe Zweinaturenlehre unter den Bedingungen der Moderne« – versteht, die es verhindern soll, »über Barth mit Schleiermacher hinauszugehen« (87 f.). Dieses Urteil verdankt sich nun freilich einer dogmatisch-theologischen Binnenuntersuchung hin­sichtlich der Zuordnung beider christologischer Entwürfe zu Mustern der dogmatischen Tradition. Man kann fragen, ob diese im Grunde unhistorische Sichtweise erschöpfend ist. In gewisser Hinsicht präludiert diese christologisch-fundamentaltheologische These auch die anderen Beiträge des Bandes. Sie beziehen sich auf Themen der Gotteslehre (Allmacht und Wunder; Anne Käfer), Christologie (Urbild und wahrer Mensch; Georg Plasger), Anthropologie (Jürgen Boomgarden), Soteriologie (Wiedergeburt; Martin Hailer), Ekklesiologie (Hans-Martin Rieger), Pneumatologie (Cornelis van der Kooi), Politische Ethik (Friedrich Lohmann) und Eschatologie (Gregor Etzelmüller). Eine »Meta-Kritik« an Barths Schleiermacher-Kritik (Bruce McCormack) schließt den Band ab, der ganz zu Anfang von Eberhard Busch mit einer werkbiographischen Erinnerung an Barths letztes Seminar (nämlich über Schleiermachers Reden) eröffnet wurde.
Man kann es als eine wünschenswerte Öffnung der an Barth orientierten Theologie verstehen, sich nun doch noch einmal Schleiermacher zuzuwenden. Allerdings erbringt die Konzentration auf materialdogmatische Schwerpunkte kaum die gewünschte Klärung, sofern die historische Selbstverortung und der spezifische Aufbau der beiden Theologien unterbestimmt bleiben. Stattdessen findet sich ein Urteilsspektrum wieder, das von einer Abstufung über eine Komplementarität zu einer beiderseitigen Kritik reicht. Dass weder bei Barth noch bei Schleiermacher die menschliche Freiheit ernst genommen sei, lautet das kategorische Urteil bei Anne Käfer (111). Für ein komplementäres Verhältnis plädiert Jürgen Boomgarden, wenn er die Schleiermachersche »Empfänglichkeit« des Menschen für das Heil und die Barthsche »Heilsgeschichte« allein in Christus für unveräußerliche theologische Schwerpunkte hält – über deren Verknüpfung jedoch noch nichts gesagt wird (154). Eine Abstufung findet sich bei Georg Plasger, für den es »Barth besser als Schleiermacher« gelingt, »biblische Vorgaben und die Dynamik der göttlichen Geschichte aufzunehmen.« (128)
Das unvermeidliche Problem einer solchen an dogmatischen Themen entlang argumentierenden Debatte liegt darin, dass die Urteilsbasis des Vergleichs unklar bleibt – und bleiben muss. Denn es bedürfte ja zuerst einer Besinnung auf den Status von Theologie (oder näherhin: Dogmatik) im Verhältnis zu Kirche, Wissenschaft und Kultur, um den jeweiligen Stellenwert einzelner dogmatischer Lehrstücke einsehen zu können. Wie soll man etwa Gregor Etzelmüllers Fazit, das zweifellos richtig beobachtet ist, in seiner Bedeutung für die Aufklärung des Sinns und der Reichweite von Theologie einschätzen, wenn er sagt: »Während Barth in der Gefahr steht, das gegenwärtige Wachsen des Reiches Gottes im heiligen Geist auszublenden, steht Schleiermacher in der Gefahr, angesichts der gegenwärtigen Erfahrung der Seligkeit die endgeschichtliche Di­mension der Eschatologie nur als kirchlich überlieferte zu thematisieren, sie aber nicht mehr lebendig fortzuschreiben« (299)? Welche Rolle spielt in dieser Gegenüberstellung das moderne Weltbild? Wie soll man sich demgegenüber das wachsende Reich Gottes vorstellen? Dies alles müsste erörtert werden, wenn man das Verhältnis der beiden großen Theologen genau bestimmen will.
Zwei Beiträge des Bandes gehen am ehesten in diese Richtung; naheliegenderweise die beiden, die sich mit Kirche und Politik beschäftigen. Hans-Martin Rieger reflektiert auf das spannungsvolle Verhältnis, in dem »material-dogmatische Inhalte« und »äußere Kontexte« zueinander stehen (206). Allerdings setzt er dafür eine »Zusammengehörigkeit von innerem und äußerem Kontext und von einer theoretisch-inhaltlich bestimmten Frage-Antwort-Korrelation« voraus, in der am Ende doch der (verstandene!) theologische »Inhalt« entscheidend ist: »Schleiermacher setzt auf die Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen, die er in der chris­tologischen unio personalis Christi vorfindet; Barth setzt auf Differenz und einlinige Bestimmungsrichtung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, die er in der Lehre von der An- und Enhypostasie vorfindet.« (208 f.) Ja, aber warum tut der eine dies und der andere das? So wird m. E. die zunächst angezeigte Problemvertiefung des Verhältnisses von Geschichte und Dogmatik wieder zurückgenommen.
Friedrich Lohmann weist darauf hin: »Jeder Vergleich zwischen Barth und Schleiermacher muß […] das eigentlich Gemeinte, die argumentative Tiefenstruktur, einbeziehen, um der jeweiligen ethischen Position gerecht zu werden.« Und er kontrastiert – durchaus in Aufnahme auch der heterodoxen Schleiermacher- bzw. Barth-Interpreten wie Yorick Spiegel und Friedrich-Wilhelm Marquardt – ein Schleiermachersches Entwicklungsdenken einem Barthschen Aktualismus. Das weist jedenfalls grundsätzlich auf den Weg, nach der historischen Eigentümlichkeit beider Theologien zu fragen. (Ein regelrechtes Fehlurteil hat sich freilich S. 274 eingeschlichen: Es kennzeichnet Barths Begriff vom Staat gerade im Unterschied zur herkömmlichen lutherisch-protestantischen Auffassung, dass er ihn eben nicht als bloße post-lapsarische Erhaltungsordnung versteht, sondern mit dem Auftrag einer Förderung künftiger Gerechtigkeit versieht, vgl. den nachgelassenen § 78 der KD in: Das christliche Leben, Fragmente aus dem Nachlaß, Zürich 1976, 347–470). Mit Lohmanns Verhältnisbestimmung ist, wie im­mer man sie inhaltlich diskutieren wird, grundsätzlich die rich-tige methodische Richtung eingeschlagen, sich über Barth und Schleiermacher Rechenschaft zu geben. Nur müsste dieses am Ma­terial der Politischen Ethik gewonnene Urteil eben auch auf die dogmatischen Sachverhalte übertragen werden; dafür bedarf es einiger weiterer Überlegungen, die sich dann auch der hier »funktionalistisch« genannten Betrachtungsweise nicht verschließen werden.
Bruce McCormack hat in seinem zweiten, metakritischen Beitrag die »Tragik« in Barths Schleiermacher-Kritik bemerkt: Sie »verbirgt, daß er Schleiermacher viel verdankt.« (314) Dem weiter nachzuspüren und damit die »Neubestimmung des Verhältnisses« fortzuschreiben, ist, wie immer man zu einzelnen Ausführungen dieses Bandes stehen mag, ein deutlicher Aufruf, für den man dankbar sein darf.