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Ausgabe:

April/2017

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Thurneysen, Eduard

Titel/Untertitel:

»Das Römerbriefmanuskript habe ich gelesen«. Eduard Thurneysens gesammelte Briefe und Kommentare aus der Entstehungszeit von Karl Barths Römerbrief II (1920–1921). Hrsg. v. K. Tolstaja. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2015. 245 S. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-290-17839-0.

Rezensent:

Frank Jehle

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Barth, Karl: Predigten 1911. Hrsg. v. E. Busch u. B. Busch-Blum. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2015. 512 S. = Karl Barth-Gesamtausgabe, 51. Lw. EUR 125,00. ISBN 978-3-290-17827-7.


Die Karl-Barth-Forschung blüht. Pausenlos erscheinen Dissertationen. Barths Werke werden in alle Weltsprachen übersetzt. Barth-Handbücher erscheinen auf Deutsch und demnächst auch auf Englisch. Eine wichtige Rolle spielt die Erschließung von Quellentexten, besonders in der »Karl Barth Gesamtausgabe«, die seit 1971 erscheint. Hinzu kommen Einzelpublikationen, wie die Briefwechsel mit Martin Rade oder Friedrich Gogarten. Das Barth-Bild wird immer facettenreicher.
Neu anzuzeigen sind zwei Quellensammlungen, die erste: Band 51 der Gesamtausgabe, die zweite: eine Sonderedition. Aus Platzgründen relativ kurz zum Predigtband: Im Jahr 1911 verlobte sich Barth mit Nelly Hoffmann und wechselte von Genf nach Safenwil, wo er bis zu seinem Umzug nach Göttingen im Herbst 1921 blieb. Wer die Predigten dieses Jahrgangs durchgeht, lernt einen jungen Pfarrer kennen, der viel Zeit und Kraft in die Verkündigung inves­tierte. Der hochbegabte Anfänger schrieb seine für heutige Be-griffe langen Predigten mit großer Sorgfalt wörtlich auf, hielt sie dann aber frei. Man erhält Einblicke in ein theologisches Versuchslabor. Immer Neues wird ausprobiert. So sehr Barth auf seine Ge­meinde eingeht und sie ernst nimmt, so wenig geht er der theologischen Tiefe aus dem Weg. Viele seiner Predigten sind mehr als nur biographisch interessant.
Man lernt einen »religiös-sozialen« Pfarrer kennen, der sich in der Nachfolge von Kutter und Ragaz um das Los der Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter kümmert: »Um des Geldes willen lassen es […] Fabrikbesitzer und Eltern zu, dass Kinder von noch unter 16 Jahren elf Stunden des Tags in einem staubigen Fabrikraum arbeiten müssen, obwohl sie wissen könnten, dass das eine systematische Untergrabung der Gesundheit nicht nur dieser, sondern der ganzen folgenden Generation bedeutet.« (288) Gelegentlich blitzt a uf, was später als »dialektische Theologie« in Erscheinung trat: »Jesus ist gekommen, Unruhe unter die Menschen und in die Menschheit zu bringen. Das ist für uns […] eine ärgerliche Botschaft.« (395) Wenn »Jesus ein ruhiger Bürger gewesen wäre, so wäre er nicht ans Kreuz gebracht worden«. (397) Barth ist sich bewusst, ein Suchender zu sein: »Vielleicht helfe ich euch damit besser, als wenn ich von einem fertigen Standpunkt auf euch herunterpredigte. Gemeinsam suchen wollen wir […].« (404)
Zur zweiten Neuerscheinung: Besonders während der Jahre in Safenwil, aber auch noch in Barths erster Zeit in Deutschland war Eduard Thurneysen Barths innigster Freund. Als er Pfarrer in Leutwil (ebenfalls im Aargau) geworden war, kam es geradezu zu einer Symbiose.
Im Vorwort zu Römerbrief II bemerkte Barth, Thurneysen habe das im Entstehen begriffene Manuskript gelesen, begutachtet und sich durch Einschaltung »vertiefender, erläuternder und verschärfender Korollarien« »in sehr selbstloser Weise ein verborgenes Denkmal gesetzt«. Kein Spezialist werde dahinterkommen, »wo in unserer auch hier bewährten Arbeitsgemeinschaft die Gedanken des einen anfangen, die des andern aufhören« (13).
Katja Tolstaja, Mitherausgeberin von Römerbrief II in der Ge­samtausgabe, war von dieser Aussage intrigiert und ging der Sache nach. Was in Römerbrief II ist von Barth und was von Thurneysen? Dieser hatte ihren Briefwechsel als Herausgeber seinerzeit selbst betreut, sich dabei aber vor allem auf seinen Freund konzentriert und von seinen eigenen Briefen und Notizen viel gestrichen. »Von den 73 relevanten Thurneysen-Dokumenten sind lediglich 26 ab­gedruckt. Viele der veröffentlichten Briefe aus dieser Periode sind zudem stark gekürzt worden.« (15) Katja Tolstaja hat nun sämtliche Briefe Thurneysens in der Zeit, als Römerbrief II entstand, ungekürzt herausgegeben.
Anders als man aufgrund der zitierten Aussage Barths erwarten würde, war Thurneysen zwar ein eifriger und pflichtbewusster Lektor. Römerbrief II ist aber trotzdem das »Projekt« Karl Barths! (27) Thurneysen hatte einfach ein kaum zu überbietendes »Talent zur ›Nachahmung‹«. Er identifizierte sich so sehr mit seinem Freund, dass es ihm leicht fiel (auch in seinen eigenen Publikationen), in dessen »Stil und Idiom« zu schreiben (13). Inhaltlich und thematisch dienten Thurneysens Ergänzungen zu Barths Manuskript »meist der Verstärkung gewisser Akzente« (18). Sie spiegeln, wie tief Thurneysen sich die Gedanken seines Freundes angeeignet hatte. Eigenständige Beiträge sind sie nur ganz selten. Auch wenn Barth viele Einzelheiten übernahm, setzte er dabei dennoch »seine eigenen Akzente« (27).
Insofern ist das Resultat der vorliegenden Briefausgabe für die Herausgeberin wohl enttäuschend. Die Lektüre lohnt sich trotzdem. Wer sich für Barths Biographie interessiert, erfährt wertvolle Einzelheiten aus dem persönlichen und familiären Leben der Freunde, auch wenn das Persongeheimnis natürlich bestehen bleibt. Man lernt Thurneysens und Barths Bezugspersonen (besonders auch die Pestalozzis in Zürich und Oberrieden) besser kennen. Man erfährt, dass Thurneysen als Seelsorger einen psychisch angeschlagenen Mann mitsamt dessen Ehefrau während Monaten als Gast in sein Pfarrhaus aufnahm.
Wichtiger ist das Menschliche (zeitweise Allzumenschliche). Thurneysen und Barth sahen sich in einem unablässigen Kampf beziehungsweise Krieg, von allen Seiten von Feinden umstellt. Es wimmelt von Metaphern, die die Atmosphäre des erst vor Kurzem zu Ende gegangenen Weltkriegs spiegeln. In den Augen Thurneysens ist der Römerbrief II ein »Schlachtschiff« (ein »Dreadnought«) (213), oder er ist eine Bombe, die so gut geladen ist, dass »der Trichter ungeahnte Dimensionen bekommen könnte« (214). »So mag denn das Ganze kriegerisch in See stechen, klar zum Gefecht, voraus der homerische Anruf des Gegners […].« (215) Es sei sicher, dass gerade diese Neubearbeitung des Römerbriefs ein gewaltiges Loch in die theologische Mauer schlagen und für Barth noch ganz andere Türen öffnen werde. Thurneysen sei freudig erregt geworden, als er bei Barth klar ausgesprochen fand, was er selbst vorher nur dunkel empfunden habe. »Nur zu mit diesem Graben und Forschen, ruft es in mir […]: das hat einen Sinn und eine Verheissung!« (93)
Für Barth war wichtig, dass Thurneysen ihn nicht nur bewunderte, sondern ihm Mut zusprach, wenn er bei der selbstgestellten Riesenausgabe fast an die Grenze der Überforderung geriet: Thurn­eysen finde diesen letzten Teil »in der ganzen Anlage und straffen Führung glänzend gelungen« (202). Es brauche »wirklich keine Indien- oder Palästinafahrt«; die Fahrt durch diese »weiten Himmels- und Weltgebiete« des Römerbriefs könne nicht mehr überboten werden (185). »Ich finde alles Satz für Satz, Glied um Glied bewundernswert im Senkel, dichtgefügt, kein Wort zu viel, eher etwa einige zu wenig, d. h. fast zu gedrängt alles, aber das ist alles andere eher als ein Vorwurf.« (136)
So wichtig es für Barth war, dass ein so treuer Freund an seiner Seite stand, es gibt auch eine Schattenseite. Es wurde schon gesagt, besonders im Konflikt mit Emil Brunner (aber auch mit anderen), habe »der friedfertige Thurneysen« bei Barth »unermüdlich um Verständnis für die vermeintlichen Gegner« geworben (Hinrich Stoevesandt in: Barth Handbuch, Tübingen 2016, 51). Das trifft nicht zu! Thurneysen goss oft Öl ins Feuer und sprach herabsetzend über die wirklichen oder auch nur eingebildeten »Feinde«. Als der liberale Kirchenhistoriker Walther Köhler in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb, Barths Erlebnis »senkrecht vom Himmel herunter« sei »er­kenntnistheoretisch barer Unsinn« (nach Römerbrief II, 51), war Thurneysen so empört, dass ihm die Wendung »der viellistige, armselige Walther Köhler« in die Feder floss (42). Den verdienten Berner Kirchenhistoriker Friedrich Wilhelm Hadorn und Adolf Keller, dem Barth viel zu verdanken hatte, nannte Thurneysen ein »blödes« Volk. Keller musste sich als »Amerikafahrer« verspotten lassen (188).
Besonders im Zusammenhang mit Emil Brunner sind viele Bemerkungen Thurneysens krass. Brunner war ursprünglich mit diesem eng befreundet gewesen und hatte ihm die Pfarrstelle in Leutwil vermittelt. Im Sommer 1921 sandte er ihm vertrauensvoll zwei Kapitel seiner Habilitationsschrift, die später als »Erlebnis, Erkenntnis und Glaube« Aufsehen erregte, mehrere Auflagen er­fuhr und in den Augen vieler als repräsentativ für die damals neue Theologie galt. Thurneysen schreibt von der »Magerkeit« sowohl der Erkenntnisse Brunners als auch ihrer Darstellung. »Man liest es im Hui ohne die geringste Schwierigkeit. Es ist fast schon etwas wie eine populäre Darstellung Deiner schwer errungenen Positionen [ …]. Ich begreife ein wenig, dass die Zürcher Fakultät ihm mangelnde Wissenschaftlichkeit vorwirft.« Es sei kein Unglück, wenn Brunners Habilitation verzögert werde (128). Brunner schreibe »nicht gerade gut«; er sei ein »merkwürdig an sich selber orientierter Typ« (218) sowie humorlos (124). »Brüder« wie Brunner seien »seltsam, komisch«. Sie bildeten sich ein, »an der Spitze zu marschieren«; dabei läsen sie »in Wirklichkeit im besten Fall hinter der Colonne die Papierlein und Abfälle« auf (100). – Auch dies ist ein Stück Theologiegeschichte.