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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

390-392

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Spener, Philipp Jakob

Titel/Untertitel:

Schriften/Korrespondenz. Hrsg. v. E. Bey­reuther u. D. Blaufuß. Bd. X: Berliner Predigten 1693–1701. Reprint. Eingel. v. M. Matthias, A. Straßberger, A. Bitzel, P. Schi-cketanz. M. e. Rückblick »35 Jahre Philipp Jakob Spener: Schriften, Band I–XVI (1979–2014)« v. D. Blaufuß.

Verlag:

Hildesheim u. a.: Georg Olms 2015. LXXXII, 685 S. Geb. EUR 198,00. ISBN 978-3-487-14994-3.

Rezensent:

Martin Brecht

Reprint-Ausgaben werden zumeist kaum einer Rezension gewürdigt, zumal wenn die vorliegende Publikation lediglich Teil einer großen seriellen Edition ist. Immerhin könnte man dem vorzustellenden Band wegen seines Inhalts dennoch eine derartige Beachtung zukommen lassen, und das soll in einem zweiten Teil auch geschehen. Vom umfassenden wissenschaftlichen Interesse her be­deutsamer ist, dass hier ein Unternehmen zu seinem Ende kommt, das in der aufgeblühten Pietismus-Forschung seinen eigenen Platz hat.
Außer der vorliegenden Ausgabe hatte der ausgewiesene Pietismus-Experte Kurt Aland eine historisch-kritische Edition von Speners Werken im Rahmen der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus geplant und vorbereitet. Wegen anderer Vorhaben konnten jedoch erst von 1996 an vier Bände vorgelegt werden (zuletzt zusammen mit Beate Köster/von Tschischwitz); diese Edition blieb also Fragment. In einem eigenen, bis jetzt nicht abgeschlossenen Unternehmen werden von Johannes Wallmann seit 1992 die Briefe Speners (von der Frankfurter Zeit an!) herausgegeben. Zwischen diesen verschiedenen Editionen bestanden nicht zu bestreitende Konkurrenzen. Beyreuther (1904–2003) war oder hatte sich unter seinen Kollegen isoliert. Schon wegen seiner Beiträge zur Geschichte des Pietismus wäre es jedoch besser gewesen, ihn in die Pietismus-Kommission einzubeziehen. Seine Spener-Reprintausgabe stellte eine große historisch-kritische Edition in Frage. Hingegen kann die Reprint-Ausgabe nunmehr selbstbewusst konstatieren, ihr Programm realisiert zu haben, und fairerweise ist das auch anzuerkennen. Das Ergebnis ist voluminös: Es umfasst XVI Bandgruppen in 38 Teilbänden. Eine übersichtliche Anordnung des Materials wurde nicht erreicht; sie ist bei der Disparatheit sowie den diversen Überschneidungen in den Sachgruppen wohl auch nicht einfach herzustellen.
29 Teilbände wurden seit 1979 von Beyreuther selbst verantwortet, wobei aber mehrere auch von anderen Herausgebern bearbeitet wurden. Von Anfang an arbeitete der in der Spenerforschung gleichfalls ausgewiesene Dietrich Blaufuß mit. Ihm wurde 1984 die Verantwortung für die letzten neun Teilbände übertragen. Insgesamt stehen damit der Forschung die wichtigsten Teile von Speners gedrucktem Werk handlich zur Verfügung. In Sondergruppen wurden zudem die wichtigen Hilfsmittel der älteren Forschung (vor allem von Paul Grünberg) wieder bereitgestellt. Das wissenschaftliche Gewicht der Einleitungen zu den einzelnen Bänden oder Drucken ist verschieden, aber jedenfalls jeweils zur Kenntnis zu nehmen und nicht zu unterschätzen.
Über das Unternehmen des Reprints äußert sich abschließend der nunmehrige Herausgeber Blaufuß (665–685 im vorliegenden Band). Sein Stolz, dass wenigstens diese Spener-Ausgabe fertig ge­worden ist, ist berechtigt. Die meisten Spener-Texte stehen damit in ihrer ursprünglichen (Druck-)Fassung zur Verfügung. Dabei wurde dieses Resultat in diesem Falle ohne eigene Geldmittel lediglich durch ehrenamtliche Arbeit erbracht, was nachträglich fast unvorstellbar erscheint. Dass es in so vielen Bänden auch Fehler und Fehlleistungen gegeben hat, wird nicht verschwiegen. Daneben kann aber auch auf eigene Beiträge und Leistungen für die Forschung verwiesen werden. Hier ist den Trägern des Unternehmens, Herausgebern und Verlag, der große Dank auszusprechen. Die einstige Konkurrenz in der Beschäftigung mit dem Pietismus hat wenigstens in diesem Fall doch zu einem als positiv zu bewertenden Ergebnis geführt.
Der Titel des abschließenden Bandes Berliner Predigten besagt lediglich, dass sie aus Speners letzter Wirkungsphase stammen. Es handelt sich lediglich um acht Stücke – Spener fasste sich eben nicht knapp –, denen teilweise Beigaben beigefügt sind. Inhaltlich werden einige der großen Themen aus Speners Spätzeit geboten und das macht den besonderen Quellenwert des Bandes aus. Der Aufbau der Predigten folgt dem zumeist bei Spener auch sonst üblichen Schema: Einleitung, exegetische Erklärung, Lehrpunkte und Gebet. Auf die umständliche Argumentation Speners muss man sich einlassen. Sie hat immerhin meistens etwas vorzubringen und kommt damit auch voran. Die durchweg kompetenten Einleitungen der Bearbeiter sind den Reprint-Drucken vorangestellt.
Zuerst geht es um den in der lutherischen Taufliturgie geübten Exorzismus, der wie in manchen lutherischen Territorien von den Reformierten in Brandenburg jedoch nicht praktiziert wurde. Für Spener handelte es sich um ein Adiaphoron, so dass er – passend in der bikonfessionellen Berliner Situation – beide Praktiken gelten lassen konnte.
Der Quedlinburger Goldschmid Heinrich Kratzenstein hatte sich für sein radikales Verhalten, darunter die Verstoßung seiner ersten Ehefrau, auf eigene Visionen berufen. Spener behandelte dieses heikle Thema in einer Predigt 1693 und erstellte dazu ein eigenes, kritisch gegen diese Art von Radikalismus sich abgrenzendes Bedenken, das bereits auch dem Druck der Predigt beigegeben war. Die eigentliche Autorität kommt dem Wort der Schrift und nicht der angeblichen Geistesgabe zu. – Die dringliche pietistische Bußpredigt nahm einen festen Termin an, nach dem die Buße auch versäumt werden und in der Verstockung enden könnte. Sie geriet deswegen in Konflikt mit der lutherischen Orthodoxie, in Wittenberg und Leipzig, die eine unbefristete Universalität des göttlichen Gnadenangebots vertrat. Für Spener war es eine der letzten theologischen Auseinandersetzungen, der er sich im sogenannten Terministischen Streit zu stellen hatte. Außer drei Bußpredigten von ihm zum Thema wird auch seine exegetische Widerlegung des Wittenbergers Johann Georg Neumann geboten. – In der damaligen lutherischen Kirche wurde noch die Einzelbeichte (im Beichtstuhl) vor dem Abendmahlsempfang geübt. Sie war aber vielfach in for maler Routine erstarrt und schon wegen der Vielzahl der Klienten kaum richtig durchzuführen. Ernsthafte pietistische Seelsorger, wie Speners Kollege Johann Kaspar Schade, und ebenso ein selbstbewusster werdendes Bürgertum konnten diese Praxis nur ablehnen. Spener hatte somit zwischen kirchlicher Ordnung und der Kritik daran zu vermitteln und ließ dafür auch Luthers Beicht-sermon abdrucken. Eine kurfürstliche Entscheidung schaffte die Beichtstuhlpflicht schließlich ab, was allerdings nicht ohne Ver-luste für die Seelsorge abging.
Die Armenfürsorge war damals noch eine kirchliche Angelegenheit. Sie hatte mit dem nicht selten ausufernden Bettelwesen samt seinen Auswüchsen irgendwie fertig zu werden. Spener hatte sich schon in Frankfurt um eine Zentralisation der Fürsorge in einem Armen- oder Arbeitshaus bemüht. Auch in Berlin verlagerte man die Aufgabe auf eine Manufaktur. Interessanterweise berief sich Spener dafür bereits auf die Aktivitäten August Hermann Franckes in Halle.
Damit sind in dem vorliegenden Band Speners theologische Ausrichtung und kirchliche Praxis repräsentativ dokumentiert, und die kirchengeschichtliche Forschung kann dafür nur dankbar sein.