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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

388-390

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Merzbacher, Dieter, u. Wolfgang Miersemann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wirkungen des Pietismus im Fürstentum Wolfenbüttel. Studien und Quellen.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag (in Kommission Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) 2015. 648 S. m. 102 Abb. = Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 53. Kart. EUR 128,00. ISBN 978-3-447-10292-6.

Rezensent:

Daniel Eißner

Was lange währt, wird endlich gut – dies kann man als Fazit unter diesen Sammelband setzen. Mit einem Umfang von 648 Seiten und in hochwertiger Ausfertigung liegt hier der Ertrag des interdisziplinären Arbeitsgesprächs an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom Sommer 2008 vor. In 15 Aufsätzen nehmen sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen der Wirkungen des Phänomens »Pietismus« im Fürstentum Wolfenbüttel umfänglich an.
Nach der programmatischen Einleitung der Herausgeber stehen mit den Beiträgen von Inge Mager und Hans-Jürgen Schrader zunächst »Vorläufer« späterer pietistischer Erscheinungen. Die Hinterbliebenen-Fürsorge des »Frühpietist[en] Johann Arndt« (34) wird von Mager anhand von einer Leichenansprache, einer Sammlung von Liedern und Sprüchen zu den Sonntagsevangelien und eines Kondolenztextes untersucht. Dabei wird deutlich, wie Arndt versuchte, sich auf seine jeweilige Leserschaft einzustellen und sich selbst sowohl als Mystiker als auch als orthodoxer Theologe zu präsentieren. Schrader wendet sich dem Verhältnis des »Bußpredigers und verketzerten Schriftstellers« Christian Hohburg zu Herzog August d. J. zu Braunschweig-Lüneburg (47) zwischen 1643 und 1646 zu. Mittels umfänglicher Darstellung des Kontextes (insbesondere Hohburgs Kontakte zur Druckerei Stern) werden die Gründe für die »prekäre Protektion« und hastige Bestallung, aber auch der Ab­setzung und Ausweisung Hohburgs offenbar.
In seinem sich daran anschließenden Überblick widmet sich Hansgünter Ludewig »Akteuren und Aktionsformen des pietistischen Aufbruchs« und stellt neben den »Wegbereitern« Johann Arndt, Joachim Lütkemann und Hans Engelbrecht das geistliche Personal Wolfenbüttels der letzten zwei Jahrzehnte des 17. Jh.s vor. Anhand der Geschehnisse um den »ersten pietistischen Sakralbau« zeichnet der Autor das »Schicksal des Pietismus in Wolfenbüttel als Teil eines Konflikts zwischen zwei ungleichen Herzogsbrüdern« (128) nach, welches sich mit der Entlassung des pietistischen Pas­tors Georg Nitsch 1709 erfüllt. Birgit Hoffmann attestiert dem Edikt von 1692 »Züge des alten landesherrlichen Kirchenregiments«: Es sei »zugleich Ausdruck des zentralistischen Herrschafts- und Kontrollanspruchs und der polizeistaatlichen Verordnungspraxis des absolutistischen Fürstentums« (145). Adressat dieser überwiegend von Juristen in Ediktform zusammengefassten Kontroll- und Disziplinierungsmaßnahmen war die Geistlichkeit, die strikten Verhaltensmaßregeln unterworfen und in ihrer Autonomie eingeengt wurde. Dieter Merzbacher stellt in seinem Aufsatz die Person Herzog Rudolf Augusts in den Mittelpunkt. Dieser überaus fromme und belesene, zugleich aber zögerliche Herrscher suchte seinen Frömmigkeitsimpetus mit souveränem, staatlichem Handeln zu vereinen; sein Festhalten an der Arcana Imperii brachte ihn jedoch in Spannung zum damaligen Stilwandel der politischen Kultur. Forciertes juristisches Vorgehen des Konsistoriums und Veröffentlichung des Edikts bedingten schließlich die Unterwerfung des Herzogs unter die Staatsräson und waren ursächlich sowohl für die disziplinarischen Maßnahmen gegen die pietistischen Prediger als auch für eine gewisse Distanz gegenüber dem Pietismus.
Wolfgang Miersemann und Dianne MacMullen betrachten auf zusammen 106 Seiten die pietistische Liedersammlung des Wolfenbütteler Theologen und Komponisten Heinrich Georg Neuß, die kurz nach dem Edikt von 1692 erschien. Dabei erscheint Neuß als »Kronzeuge« dafür, »wie sehr auch Pietisten einer auf der Höhe der Zeit stehenden Musik gehuldigt haben und für die Einhaltung bestimmter musikalischer Standards eingetreten« seien (235).
Die Gebetbücher der Herzogin Elisabeth Juliane bilden den Gegenstand des Beitrags von Cornelia Nieckus Moore. Diese kompilatorischen Werke seien Ergebnisse jahrelanger Sammlertätigkeit und stellten eine literarische und religiöse Leistung der Herzogin dar. Als Exempel literarischer Tätigkeit von Frauen trugen diese Gebetbücher wesentlich zur pietistischen Erbauungstradition bei.
Paul Raabe nimmt sich in seiner postum veröffentlichten biographischen Skizze die Aufenthalte August Hermann Franckes in Wolfenbüttel 1688 und 1705 vor, erzählt neben dessen Kontakten vor Ort jedoch auch von dessen kontinuierlicher Korrespondenz mit Wolfenbütteler Pietisten. Obwohl die Potentiale Letzterer durch die Forschung noch nicht ausgeschöpft worden sind, lassen sich viele Informationen über die pietistische Anhängerschaft im Fürstentum und ein Eindruck der Wirkmächtigkeit Franckes wie des halleschen Pietismus gewinnen.
Manfred Jakubowski-Tiessen umreißt die Reaktionen auf pietis­tische Tendenzen im Kurfürstentum Hannover von 1698 bis 1740, als das letzte »Konventikel-Edikt« erlassen wurde. Er zeichnet ein differenziertes Bild des Pietismus in den welfischen Landen und verweist auf die bislang unterschätzte Wirkung des »kirchlichen, an Halle sich anlehnenden Pietismus«, der sich trotz der antipie-tistischen Politik hatte etablieren können (389).
Die Wirkung des Pietismus unter den Harzer Bergleuten ist das Thema von Gabriele Canstein. Neben ersten Konventikeln als Ergänzung zum Gottesdienst brachen bald auch separatistische Strömungen durch, die, wenn auch kein zahlenmäßig großes Phänomen, bis in die 1740er Jahre nachweisbar sind. Deutlich wird dabei die schwierige Situation der Pfarrer, die vor allem unter fehlendem Einfühlungsvermögen und Unterstützung seitens der Kirchenleitung litten und denen es aufgrund der Edikte an Instrumenten zur Reintegration der Separatisten mangelte. Hans Otte untersucht die Wahrnehmung des Pietismus bei den Theologen des Oberharzes anhand einiger ihrer Druckschriften. Im Gegensatz zu ihren hannoverschen Kollegen seien diese aufgrund ihres Interesses an Heiligung und Glaubenspraxis als »Pietisten (in einem weiten Sinne)« zu bezeichnen, deren Predigten einen Resonanzboden für separatistische Propaganda bereitet hätten (436).
Der Pietismus in Gandersheim steht im Fokus der Ausführungen von Matthias Paul, wozu er bislang unbeachtete Quellen heranzieht. Visitationsprotokolle und Unterlagen des Konsistoriums zeigen eine uneindeutige, dynamische Gemengelage vor 1700 und den großen Bedarf an weiteren intensiven Archivstudien. Abschließend wird anhand der Vorstellung einiger Akteure das breite Spektrum des Pietismus demonstriert. Gudrun Busch spürt dem Liedschaffen der Kanonissin Sophia Eleonora zu Braunschweig-Lüneburg (Bevern) und ihrer Verbindung zum hallischen Pietismus respektive dessen Liedersammlungen nach. Weitgehend in Anonymität fürstlicher Kunstübung agierend, nahm das adlige Fräulein persönlichen Anteil an der Entwicklung des halleschen Pietismus, wenngleich ihr originärer Beitrag Spekulation bleiben muss.
Ulrike Gleixner stellt mit Gotthilf August Francke und Elisabeth Ernestine Antonie von Sachsen-Meiningen zwei Exponenten pie-tistisch-lutherischer Indienmission vor und analysiert deren Korrespondenz. Gemeinsame Sprach- und Denkstrukturen und ge-teilte spirituelle Konzepte lassen erkennen, inwiefern pietistische Organisatoren und ihre Missionskampagne durchaus für nicht-pietistische Kreise anschlussfähig waren.
Abgerundet wird der Band durch einen fast 100 Seiten umfassenden Quellenteil, der dem Leser wesentliche Aktenstücke zu­gänglich macht. Diese opulente Publikation beseitigt ein Desiderat der Pietismusforschung und lässt im Hinblick auf das Thema kaum einen Aspekt unbeachtet, weshalb die Lektüre uneingeschränkt empfohlen werden kann. Einziges und wohl der Quellenlage geschuldetes Manko ist die Konzentration auf das Kirchenpersonal und den Adel, wodurch andere Trägerschichten und damit Teile des pietistischen Phänomens unberücksichtigt bleiben.