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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

386-388

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lück, Heiner, u. Wolfgang Breul[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Staat, Kirche und Ge­sellschaft Anhalts im Zeitalter der Konfessionalisierung. Beiträge des Kolloquiums vom 19. bis 22. September 2012 in Zerbst. Hrsg. unter Mitarbeit v. M. Olejnicki u. A.-M. Heil.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 337 S. m. Abb. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-04173-2.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Das kleine Fürstentum Anhalt hat eine frühneuzeitliche Kirchengeschichte, die interessanter ist als die manches größeren und bedeutenderen Territoriums in Deutschland. Das gilt nicht nur für das Reformationsjahrhundert, sondern auch für die beiden darauffolgenden Jahrhunderte, in denen es dort mehrere Konfessionswechsel und eine bemerkenswerte Ausprägung der kirchlichen Aufklärung gab. Zu Recht ist dieser Zeit darum ein gewichtiger Aufsatzband gewidmet, der aus einem 2012 in Zerbst veranstalteten Kolloquium entwachsen ist. Hier finden sich die Ergebnisse der neueren Forschung zusammengefasst und um Neuentdeckungen und neue Fragestellungen erweitert.
Als Erstes sei der Beitrag von Andreas Erb genannt, der einen Überblick über das Anhaltinische Gesamt-Archiv gibt. Dieses Ar­chiv mit seinen reichen und wertvollen Beständen ist nicht leicht zu überblicken, weshalb jeder, der mit den im Landesarchiv Sachsen-Anhalt in Dessau verfügbar gemachten Archivalien arbeiten will, dankbar auf diesen Aufsatz zurückgreifen wird. Was sich aus der Arbeit in diesem Archiv und weiteren Archiven in Anhalt ergibt, zeichnen die landesgeschichtlich orientierten Beiträge des Bands nach.
Ulla Jablonowski nimmt die kirchengeschichtlich wichtige Übergangsphase von den 1550er bis zu den 1580er Jahren in den Blick. Hatte der eng mit den Wittenberger Reformatoren zusammenarbeitende und für die Reformationsgeschichte des sächsisch-brandenburgischen Raums einflussreiche Fürst Georg III. von An­halt die Kirchenerneuerung im Sinne eines konservativen Luthertums gestaltet, so wurde in der Folgezeit der Philippismus stärker, was den schrittweisen Übergang zum Calvinismus vorbereitete.
Am Beispiel einer Persönlichkeit, die manch einer im ersten Augenblick gar nicht mit Anhalt verbinden würde, nimmt Wolfgang Breul den Übergang zur ›zweiten Reformation‹ in Anhalt in den Blick: In den 1580er Jahren amtierte der aus Anhalt stammende Johann Arndt in Ballenstedt und Badeborn als Pfarrer. Arndts kritische Reaktion auf die Ende des 16. Jh.s zum Calvinismus tendierende Religionspolitik der Askanier macht deutlich, dass es an der kirchlichen Basis Widerstände gab. Der Hauptteil von Breuls Beitrag beschäftigt sich allerdings mit Arndts »Wahrem Christentum« und Arndts Bedeutung für den Pietismus, was jenseits der thematischen Fokussierung des Bands liegt. Was die Bedeutung des Pietismus für die anhaltinische Kirchengeschichte angeht, bleibt der Band übrigens bemerkenswert schweigsam. Diese Er­neuerungsbewegung scheint Anhalt kaum berührt zu haben, was ein eigentümliches Licht auf die kirchliche Lage dieses Landstrichs in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jh.s wirft.
Ein der wichtigsten institutionellen Träger der theologischen und kirchenpolitischen Umorientierung in Anhalt Ende des 16. und Anfang des 17. Jh.s war das Gymnasium Illustre in Zerbst, dessen Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte Joachim Castan in einem seine Forschungen souverän zusammenfassenden Überblicksbeitrag präsentiert.
Am Beispiel zweier anhaltinischer Superintendenten, deren Wir­ken in die Zeit Ende des 16. bzw. Mitte des 17. Jh.s fällt und die einen für die »zweite Reformation« offenen Philippismus (Wolfgang Am­ling) bzw. ein konfessionelles Luthertum unterstützten (Johann Dürre), stellt Martin Olejnicki die kirchlichen Funktionseliten als Gestalter der Konfessionalisierung in Anhalt vor.
Die für die kirchliche Entwicklung in Anhalt wichtigen personellen Verbindungen mit Kursachsen – Anhalt diente etwa als Zufluchtsort für von dort ausgewiesene Philippisten – sind das Thema von Ulrike Ludwigs Aufsatz. Lohnenswert wäre übrigens auch ein Blick auf die Verbindungen mit dem anderen großen Nachbarn gewesen: Anhalt war auf vielfältige Weise verbunden mit dem Kurfürstentum Brandenburg, was gerade auch für die Einführung der »zweiten Reformation« gilt.
Auf die gesellschaftliche Praxis des Zusammenlebens von Reformierten und Lutheranern im Anhalt des 17. und 18. Jh.s blickt Jan Brademann, wobei er seine gut gewählten Fallbeispiele in aufschlussreicher Weise mit einer kulturwissenschaftlichen Aus-weitung der Konfessionalisierungsforschung verbindet. Auf die zweite Hälfte des 18. Jh.s blickt der knappe, umfangreichere Forschungen zusammenfassende Beitrag von Erhard Hirsch, der die auf­klärerisch motivierte Toleranzpolitik im Fürstentum Anhalt-Dessau behandelt.
Neben diesen landesgeschichtlich orientierten Beiträgen findet sich eine Reihe weiterer, über das Titelthema hinausgehender Aufsätze. Gleich am Anfang skizziert Herman J. Selderhuis die »Faszination des Calvinismus«. Offenbar soll der Beitrag die Motivation der Protagonisten der »zweiten Reformation« in Anhalt erläutern, allerdings ohne dass er Bezug auf die besondere Situation Anhalts und die eigentümliche Entwicklung dieses hier aus Luthertum und Philippismus herauswachsenden und vom westeuropäischen Modell in charakteristischer Weise verschiedenen Calvinismus nimmt. Nur locker verbunden mit dem eigentlichen Thema des Bandes sind Holger Thomas Gräfs instruktive, auf einen vergleichenden Seitenblick auf Anhalt verzichtende Überblicksstudie zur Konfessionalisierung in Hessen-Kassel und Heiner Lücks lesenswerte Neudeutung der Zerbster »Butterjungfer«, eines spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen städtischen Rechtssymbols. Kann man darüber streiten, ob diese Beiträge in den Band passen, so hätte ein Beitrag in der vorliegenden Form nicht aufgenommen werden dürfen: Klaus Voigtländers Studie über die Verweigerung eines Teils der anhaltinischen Bevölkerung gegenüber der Calvinisierung. Dieser letzte Aufsatz des 2008 verstorbenen Pfarrers und Heimatforschers wird nach Auskunft der Herausgeber als ungekürztes, gleichwohl aber bearbeitetes »Vermächtnis« abgedruckt. Das Thema ist unzweifelhaft wichtig und die von Voigtländer ausgewerteten Quellen bieten eine in anderen Beiträgen vernachlässigte Perspektive auf die Konfessionalisierung. Zu Recht hinterfragt der Verfasser die kirchen- und konfessionspolitisch voreingenommene Sicht, dass die ›zweite Reformation‹ eine wünschenswerte Modernisierung war, die wenig kostete und viel brachte. Auch seine kritische Einschätzung der unionistischen Selbststilisierung der Anhaltinischen Landeskirche im 19. und 20. Jh. ist nachdenkenswert. Aber unter seiner Polemik gegen die Gewaltpolitik Fürst Christians I. von Anhalt-Bernburg und andere kirchengeschichtliche Protagonisten leidet die Differenziertheit der Analyse. Beim Lesen stolpert man ständig über fragwürdige Formulierungen, unsachliche Urteile und inhaltliche und formale Mängel. Irritiert fragt man, ob man die gewaltsame Calvinisierung mit den »Me­thoden eines totalen Staates« (259) vergleichen darf, wie eine wissenschaftliche Publikation im Jahr 2015 noch ernsthaft von »Ignatius von Loyola und seiner traurigen ›Gesellschaft Jesu Christi‹« (259 f.) sprechen kann oder nach welcher Textfassung der CA es heißt, »Tota discessio [sic] est de paucis quibusdam abusibus« (262). Um die in Voigtländers Beitrag enthaltenen gewichtigen Anfragen zur Geltung zu bringen, hätte der Beitrag gründlich umgearbeitet werden müssen.