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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

384-386

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Foresta, Patrizio

Titel/Untertitel:

»Wie ein Apostel Deutschlands«. Apostolat, Obrigkeit und jesuitisches Selbstverständnis am Beispiel des Petrus Canisius (1543–1570).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 528 S. = Veröffentlichungen des Instituts für Euro-päische Geschichte Mainz, 239. Lw. EUR 90,00. ISBN 978-3-525-10100-1.

Rezensent:

Christian Volkmar Witt

Es ist ein hochgradig komplexes Themenfeld, dem sich die hier anzuzeigende geschichtswissenschaftliche Dissertation von Patrizio Foresta widmet: Sie möchte zum einen das Selbstverständnis der frühen Gesellschaft Jesu mittels einer Untersuchung ihres Apostolatsverständnisses erhellen; davon ausgehend nimmt sie – so­dann – das vielschichtige Verhältnis des Ordens zur Obrigkeit in den Blick und fragt dabei im Kontext der christentumsgeschichtlich epochalen Umbrüche des 16. Jh.s nach der Wechselwirkung zwischen konfessionspolitischem obrigkeitlichen Interesse und Engagement einerseits, apostolischem Selbstverständnis der Jesuiten andererseits. Schließlich verfolgt sie vor diesem Hintergrund das Anliegen, einen profunden Beitrag zur historisch-wissenschaftlichen Erschließung der Biographie einiger prominenter Or-densmänner der ersten Generationen, allen voran Petrus Cani-sius, zu leisten.
Dieses ehrgeizige Programm setzt der Vf. um, indem er seine Studie methodisch-inhaltlich in vier Teile unterteilt: Nach einer Einleitung, die konventionell Fragestellung, Gegenstand und Forschungsstand vorstellt (13–47), entwickeln die Kapitel 1 und 2 (49–180) durch institutions-, begriffs- und theologiegeschichtliche Überlegungen das heuristische und methodische Instrumentarium für die vornehmlich entlang der Biographie des Canisius laufenden materialen Konkretisierungen, welche die Kapitel 3, 4 und 5 umfassen (181–382). Den Abschluss bilden die Ergebnisse gleichermaßen bündelnde wie einordnende »Schlussbetrachtungen« (383–393). Der Untersuchung beigegeben ist zudem – neben einer Bibliographie sowie einem Orts-, Personen- und Bibelstellenregister – ein umfangreicher Anhang (395–474), der nicht nur eine ganze Reihe wertvoller Archivalien abdruckt und so für weitere Forschungen leicht zugänglich macht, sondern auch eine kurze Abhandlung zur Geschichte der Kanonisierung des Canisius und einen Überblick über »Neue Erträge des Canisius Project« – beides aus der Hand Forestas – bietet.
Auf neuere Ansätze in der Jesuitenforschung gestützt, die Komplexität, Vielfalt und Zufall in der Entstehung und frühen Entwicklung des Ordens betonen und bestrebt sind, überkommene schematisierende Narrative historiographisch zu ersetzen, geht der Vf. davon aus, dass die »Jesuiten […] in der Erfüllung ihrer Aufgaben den apostolischen, i. e. den heilsgeschichtlichen und zu­gleich seelsorgerlichen Charakter ihrer Societas Jesu« erkannten (15). »Er wurde in der Natur und Berufung des Ordens in dem Maße gesehen, wie sich die Patres selbst als ›Apostel‹ wahrnahmen« (ebd.). Und genau um diese Selbstwahrnehmung der frühen Jesuiten, ihre inhaltliche Füllung, ihre daraus resultierende praktisch-organisatorische Ausgestaltung, ihre institutionellen Beeinflussungen und ihre historische Wirkung geht es im Folgenden schwerpunktmäßig, wenn die Person des sogenannten ›Zweiten Apostels Deutschlands‹ in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt wird. Die Wahl fällt freilich nicht zufällig auf Canisius: »Der Jesuitenorden verdankt ihm […] seine Erfolge im Alten Reich auf solch eine unverkennbare Weise, dass er als Hauptfigur aus der frühen Gesellschaft Jesu in den katholischen Territorien des Heiligen Römischen Reichs betrachtet werden kann« (19). Dahinter steht die Annahme, dass sich an wirkmächtigen Jesuiten wie Canisius nachzeichnen lässt, dass und wie sich die Identität des jungen Ordens mit den und durch die Herausforderungen, in die er sich gestellt sah, zuallererst entwickeln musste und eben nicht von Anbeginn an statisch auf bestimmten Vorgaben des Ignatius von Loyola als ›strahlendem Übervater‹ ruhte.
Gleichwohl ist diese grundsätzliche und in der jüngeren Jesuitenforschung häufig anzutreffende Annahme zu relativieren, denn die Identitätsbildung der Gesellschaft Jesu erfolgte freilich keineswegs nur zufällig oder vollkommen ungesteuert. Wie die Einzelbiographien wichtiger Vertreter der ersten Jesuitengenerationen ausweisen, wirkten das Denken und die Weltwahrnehmung des Or­densgründers vor allem in Gestalt seiner ›Geistlichen Übungen‹, seiner Korrespondenz und der Ordenskonstitutionen massiv nach (vgl. z. B. 126.201.243.246 f.384) und gaben so gleichsam die Richtung des individuellen Selbstverständnisses und der Persönlichkeitsentw icklung vor, was dann notwendigerweise auch die Selbst- und Fremdwahrnehmungsmuster des Kollektivs und damit die Or-dens­identität prägen musste.
Vor diesem Hintergrund ist folgende Feststellung für die Untersuchung leitend: »Die Begriffe ›Apostel‹, ›apostolisch‹ und ›Apostolat‹ hatten […] wesentlich mehr mit der Natur und der heilgeschichtlichen (sic!) Legitimationsstrategie des jungen Ordens zu tun, wie diese von den Mitgliedern selbst verstanden wurden, als lediglich mit den Missionen in Übersee« (49 f.). Die konfessionelle und dezidiert gegenreformatorische Aufladung jener Termini kommt dabei als schöpferische Leistung der Jesuiten zu stehen (besonders 69 f.) und sollte in gleichermaßen apologetischer wie selbstbewusster Weise auf den Anspruch, in Leben und Überlieferung den biblischen Aposteln nachzufolgen, genauso verweisen wie auf die damit einhergehende Bereitschaft, auch unter wid­-rigs­ten Umständen der kirchlichen, d. h. der reinen christlichen Lehre zur Durchsetzung zu verhelfen (73–79). Dazu bedurfte es natürlich bestimmter logistisch-institutioneller Voraussetzungen, die allein in engster Abstimmung mit weltlichen und geistlichen Obrigkeiten zu schaffen waren. In vollem Bewusstsein dieser Tatsache suchte die Gesellschaft Jesu ganz im Geiste ihres Gründers die möglichst konfliktfreie Nähe zu Schaltstellen der Macht, die allerdings ihrerseits mit ihren Interessen und Zielen Einfluss auf die Ausgestaltung jener Voraussetzungen und somit auf die Entwicklung des apostolischen Selbstverständnisses der Patres und des Ordens insgesamt nahmen (80–121). »Demzufolge ging die Identität des jungen Ordens aus dem eigenen apostolischen Verständnis und zu­gleich aus den Absichten der Gründer und den tatsächlichen Möglichkeiten hervor, die ihm die Obrigkeit bot, wobei Ab­sichten und Chancen in enger Wechselbeziehung zueinander standen« (89).
Diese hochgradig spannungsvolle, den Orden gestaltende und ihm zugleich Gestaltungsräume eröffnende Wechselwirkung schlägt sich in prominenten Zeugnissen jesuitischer Selbst- und Weltwahrnehmung nieder, die immer auch als Artikulationsinstanzen legitimatorisch-apologetischer Strategien angesichts in­nerkirch-licher Infragestellungen und Konkurrenzen zu lesen sind (123–156), wenn es bündelnd heißt: »In den Überlegungen Nadals und der Verfasser der Imago primi saeculi wird die Gesellschaft Jesu als Wiederbelebung des von Christus zu Pfingsten gestifteten apostolischen Ordens gesehen, der sich immer aufs Neue und der Vorsehung Gottes gemäß verwirklicht« (147). An dieses Selbstverständnis knüpfte nun auch Petrus Canisius in und mit seinem vielfältigen Wirken in gehorsamem Dienst für Orden und Papstkirche an und formte es vor allem in seiner von scharfer Beobachtungsgabe, organisatorischem Talent und unbeugsamem Kampfeswillen zeugenden Auseinandersetzung mit den reformatorischen Kirchentümern im Reich weiter aus (besonders 206–234; 313–382). Zugleich lässt sich an Lebenswegen wie dem des Canisius die mal mehr, mal weniger behutsame Umbildung des Ordens und seiner Institutionen nachzeichnen, die sich im Zuge des missionarisch-gegenreformatorischen Einsatzes der frühen Jesuiten einstellte: »Anpassung und Kompromissbereitschaft nahmen zwangsläufig zu, als deutlich wurde, dass das apostolische Modell und die Wirklichkeit auseinanderklafften. Andererseits waren sie unumgänglich, um das apostolische Ideal überhaupt verwirklichen zu können« (315; vgl. zudem 392 f.).
Die entsprechenden Vorgänge herausstellend und kritisch analysierend, legt der Vf. einen insgesamt luziden und durchweg anregenden Beitrag zur Geschichte einer der wirkmächtigsten und komplexesten Gestalten des frühneuzeitlichen Katholizismus vor. Zu diskutieren bliebe freilich die unverkennbare Abhängigkeit der Studie und ihres Anliegens von bestimmten Ansätzen der Jesuitenhistoriographie, die bezeichnenderweise von zeitgenössischen Je­suiten – allen voran John W. O’Malley SJ – entwickelt wurden und vom Vf. mit bemerkenswerter Verve verfochten werden, die allerdings einer gewissen apologetischen Programmatik nicht ganz unverdächtig sind. Jedenfalls ist, bei aller Qualität der Studie im Ergebnis, die unkritische Begeisterung Forestas für prominente Vertreter des Ordens und für deren Forschungsbeiträge auffällig (13–44, besonders 33–38).