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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

381-383

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Thier, Andreas

Titel/Untertitel:

Hierarchie und Autonomie. Regelungstraditionen der Bischofsbestellung in der Geschichte des kirchlichen Wahlrechts bis 1140.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Verlag Vittorio Klostermann 2011. XVIII, 573 S. = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 257. Recht im ersten Jahrtausend, 1. Kart. EUR 94,00. ISBN 978-3-465-04113-9.

Rezensent:

Thomas Wetzstein

In seiner für den Druck überarbeiteten juristischen Habilitationsschrift von 2002 geht Andreas Thier einem guten Jahrtausend kirchlicher Normbildung nach. Am Beispiel der Bischofsbestellung zwischen der Spätantike und der zweiten Rezension des »Decretum Gratiani« möchte T. »konzeptionelle Leitbilder« (7) freilegen und zeigen, wie Regelungstexte entstehen (15–342) und anschließend in Kanonessammlungen verarbeitet werden (343–421).
Beeindruckend quellen- wie forschungsnah und die zentralen griechischen Termini sicher wertend führt T. am Beginn des spätantiken Abschnitts (15–200) in die Welt der ersten Christen ein, die sich besonders seit der Etablierung des Monepiskopats daranmachten, dauerhafte Strukturen einer von Ämtern getragenen Gemeindeorganisation zu entwickeln. Bald trifft der Leser auf den heimlichen Helden der Studie: Cyprian, jenen tief von römischer Rechtskultur geprägten Rhetoriklehrer und späteren Bischof, der kirchlichen Ämtern und Strukturen auch in seinen einflussreichen Schriften schon deshalb einen hohen Rang verlieh, weil er der Zu­gehörigkeit zur Kirche eine soteriologische Bedeutung beimaß. Dreh- und Angelpunkt seiner »episkopalen Ekklesiologie« (34) wurde dabei aufgrund des Gedankens der apostolischen Sukzession das zwar auf einzelne Amtsträger übertragene, aber als Einheit gedachte Amt des Bischofs. Dessen legitime Einsetzung knüpfte er an die Beachtung von Verfahrensregeln (41). Eine für kirchliche Ämter charakteristische Besonderheit erhält hier tragende Bedeutung, denn Laien, Klerus und Nachbarbischöfe verkörpern durch ihren Konsens bei der Wahl den Willen Gottes (44) und geben damit das Ideal der unanimitas beim Wahlentscheid vor. Einzelne Verfahrenselemente legen dabei nahe, dass durch Cyprian Elemente der Vergabe der römischen Magistraturen ins Verfahren gelangten (49). Zwischen dem 4. und 6. Jh. gelangten von verschiedenen Seiten – neben den Konzilien und den zunehmend gesamtkirchlich agierenden Päpsten spielten auch die Kaiser in Ausübung ihrer Aufsicht über die Religion hier eine Rolle – weitere Bestandteile ins Verfahren: Vorschriften über die Zahl der am Verfahren beteiligten Mitbischöfe oder über die Mitwirkung der Metropoliten finden sich hier ebenso wie Einschränkungen, die sich aus Wahlhindernissen wie etwa am römischen cursus honorum orientierte Mindestalterbestimmungen ergeben, erste Designationsverbote sollten die Bestimmung des Nachfolgers durch den Amtsinhaber verhindern, und auch ein Simonieverbot lässt sich bereits nachweisen.
Nach diesem ersten, mit »Regelungstraditionen« überschriebenen umfangreichen Zeitabschnitt steht die Periode zwischen Merowingerzeit und Kirchenreform (201–342) unter der Überschrift »Kontinuität und Umformung«. Hier steht die Verarbeitung der überlieferten Verfahrensnormen im Zentrum. Verfügbar waren sie vor allem über Kanonessammlungen, die T. in erster Linie dafür verantwortlich macht, dass die spätantiken Normen der Bischofsbestellung so lange fortwirkten. Vielfach unter dem Einfluss der nachantiken Herrscher stehend, gelangten weitere Verfahrenselemente in die Bischofswahl. Im westgotischen Spanien wurde nach biblischem Vorbild – zumindest in der Theorie – mit biblisch inspirierten Losentscheiden experimentiert, die merowingischen Herrscher entwickelten nicht nur die Idee des Indigenats fort, sondern übertrugen die Dignitätsprüfung des Kandidaten vor der Erteilung eines Weiheauftrags vom Metropoliten auf den König. Unter den Karolingern wurde daraus eine Eignungsprüfung für den Königsdienst und bei fehlerhaften Wahlen sogar eine Übertragung der Wahlbefugnis an den König. Auf normativer Ebene antworteten schließlich Investiturverbote und Wahlbestimmungen von kirchlicher Seite auf eine zunehmende, aber nur in der Praxis wahrnehmbare Vereinnahmung der Bischofsbestellung durch die weltlichen Herrscher. Zunehmend griffen vor allem die Päpste hier seit Leo IX. auf die Texte der Spätantike zurück, die ihnen und bald auch anderen Autoren wie Humbert von Silva Candida häufig über Pseudo-Isidor vermittelt wurden. Als neues Element tritt allerdings seit Gregor VII. der aus dem Primat abgeleitete wachsende Einfluss des Papstes auf die Bestellung der Bischöfe hervor, dessen in päpstlichen Schreiben geäußerte Ansichten allerdings kaum Eingang in die weitere kirchliche Normbildung fanden.
Abschließend widmet sich der dritte Teil der Studie der Rezeption und Umformung der überlieferten Normen zur Bestellung der Bischöfe in den Kanonessammlungen zwischen dem 9. und dem 12. Jh. (343–421). Bemerkenswert lange kann T. hier die Relevanz der spätantiken Texte nachweisen. Erst mit den Dekretalen und somit zeitgleich zur Monopolisierung der kirchlichen Normsetzung durch die Päpste lässt sich hier im Verlauf des 12. Jh.s eine ebenso abrupte wie entscheidende Wende erkennen, bei der die spätantiken Normen zusehends bedeutungslos wurden (365). Allerdings, und dies zeigt eine eng am Wortlaut und an der Überlieferung einzelner Bestimmungen ausgerichtete Analyse T.s, bedeutet dies keineswegs eine einfache Fortschreibung der Tradition. Vielmehr schufen Autoren kanonistischer Sammlungen nun durch »gestaltende Textveränderung« und »normbildende Anordnung von Regelungstexten« (381) durchaus neue normative Ordnungen, die im Zeitalter des Investiturstreits bei scheinbarer Wahrung und faktischer Ausblendung der Tradition den Ausschluss des Königs bei der Bestellung von Bischöfen begründen konnten (415).
Überzeugend und quellennah gelingt es T., die Langlebigkeit der spätantiken Normen der Bischofsbestellung nachzuweisen und vor diesem Hintergrund die Zäsur der Kirchenreform in einem wesentlichen Bereich der mittelalterlichen Kirchenverfassung um­so deutlicher zu konturieren. Der große zeitliche Betrachtungsrahmen ist einer der größten Verdienste dieser durch gewissenhaft erstellte Querverweise und Indizes als Handbuch nutzbaren Studie. Das ambitionierte Vorhaben macht die Untersuchung allerdings auch angreifbar, und für manche Entscheidung T.s wäre eine Begründung nützlich gewesen. Die »Regelungstraditionen« (15–342) etwa werden dem Leser chronologisch, systematisch und nach materiellen Rechtsquellen gegliedert präsentiert, ihre Bearbeitung in Rechtssammlungen (343–421) hingegen rein chronologisch. Auch auf welcher Grundlage die weitreichenden Entscheidungen hinsichtlich der Auswahl der behandelten Texte und Themen getroffen wurden, erfahren wir nicht. Sollte hier ein teleologischer Zugriff die Perspektive bestimmen und nur das zur Sprache kommen, was mittelbar oder unmittelbar zu Gratian führte – oder hätte vielmehr das gesamte Panorama der Entwicklung einschlägiger Normen zur Bischofsbestellung, am Ende gar noch unter Einschluss des Ostens mit seiner starken episkopalistisch-reichskirchlichen Tradition beleuchtet werden sollen? Das methodisch legitime Bestreben, die Ebene der Rechtsnormen nicht zu verlassen, konnte T. aufgrund der Überlieferungslage nicht konsequent verfolgen. So oszilliert die vorliegende Studie vor allem bei der Frage herrscherlicher Eingriffe zwischen einer Geschichte der kirchenrechtlichen Normen zur Bischofsbestellung und einer Geschichte der Bischofseinsetzung (etwa 210.244.266.275). Vielleicht wäre überhaupt eine systematische Beachtung der immer wieder aufschei nenden Relevanz praktischer Fragen für die Normentwicklung sinnvoll gewesen, die etwa auch das komplexe Zusammenspiel von Wahl (electio), Weihe (ordinatio) und Investitur berücksichtigt hätte. Welcher Art schließlich die bischöflichen Amtsfunktionen sind, dies hätte zumindest einiger Bemerkungen bedurft. Die durchgängige Bezeichnung als »Herrschaft« scheint hier wenig glücklich, zumal T. immer wieder selbst darauf hinweist, wie eng das Ergebnis einer Bischofsbestellung als Ausdruck göttlichen Wirkens in der ecclesia betrachtet wurde. Trotz dieser Monita steht fest, dass die vorliegende Studie bleibenden Wert besitzt. Ihre enge Ausrichtung an den Originalquellen macht die über Zeit- und Raumgrenzen hinwegreichende Verwobenheit und grundsätzliche Referenzialität mittelalterlicher Normativität hervorragend deutlich (etwa 289) und unterstreicht die zunehmend in Vergessenheit geratende Binsenweisheit, dass Übersetzungen in textgebundenen Disziplinen wissenschaftliche Erkenntnis verhindern.