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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

364-366

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Sandnes, Karl Olav

Titel/Untertitel:

Early Christian Discourses on Jesus’ Prayer at Gethsemane. Courageous, Committed, Cowardly?

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2016. 386 S. = Novum Testamentum. Supplements, 166. Geb. EUR 140,00. ISBN 978-90-04-30959-3.

Rezensent:

Martin Meiser

Jesu Gebet in Gethsemane, in neuzeitlicher Theologie nicht selten als Ausdruck tiefster Nähe Jesu zu menschlicher Not interpretiert, war in der Antike für Christentumskritiker ein Stein des Anstoßes, der seitens der christlichen Theologen einigen Aufwand an Rechtfertigung verlangte. Das Buch von Karl Olav Sandnes, dem Neu-tes­tamentler an der Teologiske Menighetsfakultet in Oslo, behandelt in einem ersten Schritt die Voraussetzungen möglichen Verstehens und Nichtverstehens in der paganen und jüdischen Umwelt sowie pagane Christentumskritik zum Thema (17–97), in einem zweiten Schritt die neutestamentlichen Texte (98–221), in einem dritten Schritt die Rezeption dieser Texte von Justin dem Märtyrer bis Johannes Chrysostomus, Hieronymus und Eudokia (222–305). Die Vorordnung der antiken Christentumskritik vor der Behandlung der biblischen Texte erscheint ungewöhnlich, vermag jedoch in der Tat das Profil exegetischer Wahrnehmung dieser Texte zu schärfen.
Die durch Platon und Xenophon inaugurierte Tradition des Todes des Sokrates hat in ihrer Betonung männlicher Tapferkeit, der Beherrschung der Affekte und der Konsistenz zwischen Lehre und Leben auch unter Extrembedingungen die griechisch-römische wie die jüdische (2Makk 6–7; 4Makk, passim) Antike nachhaltig bestimmt. Sie ist für Christentumskritiker wie Kelsos, Julian Apostata und den bei Makarios Magnes genannten Unbekannten Anlass, Jesu Göttlichkeit und damit den Wahrheitsanspruch seiner Anhänger in Frage zu stellen. Die Erwähnung des Engels in Lk 22,43 f. ist Anzeichen der Schwäche Jesu (Julian); Jesus hätte nicht schweigen, sondern durch wohlüberlegte Worte Menschen bessern sollen (der Kritiker bei Makarios Magnes). Christliche Märtyrerberichte adaptieren zwar die Passionsgeschichte, aber zumeist gerade nicht das Gebet Jesu in Gethsemane oder nur dessen zweite Hälfte (so S. in Nuancierung gegenüber Candida Moss; 53–62).
Für Markus (98–135) ist die überkommene, auch bei ihm sperrige (vgl. Mk 8,31) Erzählung eine Mahnung an die Jünger zur perseverantia. Die vorauszusetzende Tradition des leidenden Gerechten impliziert das Miteinander von psychischer Belastung und Vertrauen. Dass Jesus die erbetene Rettung nicht zuteil wird (ἀπέχει in Mk 14,41 bedeutet: Gott ist abwesend), legt den Grund für eine Theologie des Altruismus: Anderen kommt diese Rettung zugute. Zu Matthäus (136–147) stellt S. die Übereinstimmung von Mt 26,42 mit Mt 6,10b heraus. Bei Lukas (148–172) zeigt die Kurzfassung der Perikope ein weniger von Emotionen geprägtes Jesusbild; die textkritisch sekundären Verse Lk 22,43 f. betonen inmitten des Todeskampfes Jesu Gehorsam. Zu Johannes (173–196) werden die bekannten Transformationen in Joh 18,11 und 12,27–33 gegenüber den Vorlagen benannt (rhetorische Frage bzw. innere Überlegung statt Gebet); Anfechtung ist für Jesus präsent (S. verweist auf Joh 13,21), aber so, dass er sie überwindet; Jesu freiwilliger Tod für andere ist tatsächlich ein Noble Death (195, mit Jörg Frey). Joh 17 verwandelt das Gebet in Gethsemane in ein interzessorisches Gebet. Die in Hebr 5,7–9 implizierte Todesfurcht – die Gethsemane-Tradition, nicht der Kreuzesschrei ist aufgegriffen – macht Jesus zum sympathetischen Helfer für die Gläubigen, weswegen zu Hebr 2,15 keine Spannung besteht (197–221).
Justin zieht die Gethsemane-Tradition unter starkem Einfluss von Ps 22 heran, um Jesu wahre Menschheit zu erweisen (222–229). Tatians Diatessaron zeigt, dass die vier Evangelien, als Heilige Schrift verstanden, trotz der bekannten Differenzen nebeneinander stehen konnten (230–234). Auf christologische Auseinandersetzungen verweist das Kapitel zu Irenaeus. Die von ihm bekämpften Gegner haben wohl eher die Ansichten des Kelsos als die der »orthodoxen« Theologen geteilt (235–246). Eine spannende Evangelienharmonie stellt Pap.Berol. 22220 dar (247–253); Joh 17 ist für die Interpretation des Gethsemane-Gebetes die leitende Perspektive. Der himmlische Gebetskampf hat zum Ziel, die Unheilsfolgen des Todes Jesu für Israel abzuwenden (vgl. später Hieronymus). Origenes (254–258) interpretiert in seiner exhortatio ad martyrium Jesu Gebet als Bitte um ein noch schwereres Leiden, dem Heilscharakter seines Todes angemessen. Tertullian (259–269) fasst in de oratione in seiner Auslegung der sechsten Vater-Unser-Bitte das Gebet in Gethsemane als Lehrstück für die Jünger, Schwäche zu überwinden und sich dem Martyrium zu stellen statt zu fliehen. Auch nach Cyprian (270–273) zeigt die Verschonungsbitte die menschliche Schwäche, angesichts derer man »dein Wille geschehe« (scil. durch uns) beten soll. Clemens von Alexandria (274–277) bespricht in Stromateis 7 das Gethsemane-Gebet nicht direkt; gleichwohl ist seine These, das Gebet sollte, der Leidenschaftslosigkeit Gottes adäquat, frei von vordergründigen Wünschen sein, von Belang: Auch Jesus habe sich diese Haltung anerzogen (Strom. 7.2.7.5). In den auf Hippolyt zurückgeführten Schriften (278–281) erweist das Gethse-mane-Gebet Jesu wahre Menschheit nach Phil 2,7. Bei Johannes Chrysostomus (282–288), der Joh 12 als Wiedergabe des Gethsemane-Gebetes ansieht, ist der Mimesis-Gedanke leitend: Die Jünger sol­len Jesu Verhalten nachahmen. Die Verschonungsbitte ist wie bei Tertullian keine wirkliche Bitte, sondern eine von Jesus bedachte und nicht realisierte Option. Hieronymus (289–294) interpretiert ἕως in Mt 26,38 als reine Zeitangabe. Jesu Gebet ist interzessorisch, zugunsten der Apostel wie zugunsten Israels. Emotionen waren bei Jesus göttlicher (Ez 16,43LXX) und menschlicher Art. Das aufgrund des ἤρξατο in Mt 26,38 eingebrachte philosophische Konzept, zwischen den verpönten Affekten und der noch nicht zu tadelnden propassio zu unterscheiden (sie ist nicht zu tadeln, weil die Zustimmung des Willens noch nicht gegeben ist), hilft dazu, dem Gebet jeden philosophischen Anstoß zu nehmen. Eudokias Homer-Cento erfasst das Gebet in Gethsemane auch als Vorankündigung von Einzelheiten der Passion, z. B. auch der Hadesfahrt (295–305).
Das Kapitel »Gethsemane Discourses« (306–336) rekapituliert in wiederholten Anläufen bisherige Ergebnisse der Studie. Markus betont Jesu exemplum für die Jünger, Johannes die Einheit mit dem Vater (310). Hinsichtlich des Maskulinitätsdiskurses ist eine Entwicklung festzustellen von Markus mit seiner Heranziehung der biblischen Tradition des leidenden Gerechten, die mit der Sokrates­tradition nicht zu vereinbaren ist (314), zu Johannes, dessen Jesusbild antiken Maskulinitätsidealen und den Idealen des Noble Death erheblich näher kommt (320 sowie 322 mit Verweis auf Joh 10,11–18). Christentumskritik griff isoliert die Verschonungsbitte heraus (333); hingegen sind die interzessorische Interpretation des Gebetes Jesu und der behauptete altruistische Charakter seines Leidens christ-liche Versuche, antiken Idealen des Noble Death entgegenzukommen, so dass aus christlicher Perspektive der Wahrheitsanspruch Jesu mit Gethsemane und der Passion nicht hinfällig wird.
Die Diktion des Buches ist klar, die Beurteilung der biblischen Texte besonnen und frei von Apologetik (z. B. 171); eindringende Exegesen, etwa zu Kriton und Phaidon von Platon (die Apologie bleibt weitgehend ausgespart) oder zu Origenes, Cels. 7,53, zeugen von intensiver Durchdringung der Materie. Gelegentlich sind An­fragen zu stellen, hinsichtlich der Sache (Kann der liturgische Ge­brauch des »Vater Unser« für 50–70 n. Chr. als Subtext für Paulus und Markus vorausgesetzt werden [122 f.260–263]?) und der Darstellungsweise (Warum wird Hilarius von Poitiers erst im Schlusskapitel eingeführt?). Das mindert den Wert dieser instruktiven Darstellung jedoch nicht wirklich.