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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

361-364

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jacobi, Christine

Titel/Untertitel:

Jesusüberlieferung bei Paulus? Analogien zwischen den echten Paulusbriefen und den synoptischen Evangelien.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XV, 432 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 213. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-040488-3.

Rezensent:

Andreas Lindemann

Mit der theologischen und historischen Frage nach dem Verhältnis zwischen der Verkündigung Jesu und der paulinischen Theologie verbindet sich eine seit langem geführte Debatte: In welchem Umfang nimmt Paulus auf Worte Jesu Bezug und welche Bedeutung misst er der entsprechenden Überlieferung bei? Es gibt ausdrückliche Erwähnungen von Worten Jesu, und zwar explizite »Zitate« (vor allem 1Kor 11,23−25) und Verweise (so 1Kor 7,10), aber auch »Anspielungen«, die an Worte der Jesusüberlieferung erinnern, ohne ihnen direkt zu entsprechen (etwa 1Kor 9,14). Manche Aussagen in den Paulusbriefen scheinen so deutlich mit Worten Jesu übereinzustimmen, dass man in ihnen die Übernahme von Jesusüberlieferung vermutet, auch wenn gar nicht auf Jesus verwiesen wird, so etwa beim Verweis auf das Liebesgebot in Röm 13,9. Dabei wird die Frage, wie umfangreich die in den Paulusbriefen erkennbare oder vermutete Jesusüberlieferung ist, sehr kontrovers diskutiert. Christine Jacobi stellt in ihrer von Jens Schröter begleiteten, an der Humboldt Universität zu Berlin angenommenen Dissertation ebendie im Buchtitel ausgesprochene Frage: »Jesusüberlieferung bei Paulus?«, und sie gibt die im Untertitel formulierte Antwort: Es gibt Analogien zwischen Aussagen in den paulinischen Briefen und Aussagen Jesu in den synoptischen Evangelien, aber dass Paulus auf direktem Wege Jesusüberlieferung aus der synoptischen Tradition aufgenommen hat, lässt sich nicht nachweisen. Die Argumente für diese Annahme stellt J. in ihrer umfangreichen Untersuchung vor, indem sie mit großer exegetischer Sorgfalt die wesentlichen Texte in den Paulusbriefen in intensiver Auseinandersetzung mit der zu dieser Thematik einschlägigen neueren und neuesten Literatur analysiert.
J.s Buch umfasst acht Kapitel. In Kapitel I beschreibt sie ihre Fragestellung, verbunden mit methodischen Erwägungen, dazu gibt sie eine Skizze der gegenwärtigen Forschung. Vor allem im angelsächsischen und im skandinavischen Raum sei das Anlie-gen zu erkennen, »Überlieferungen auch an solchen Stellen, an denen weder direkt noch indirekt auf Jesus oder den Kyrios verwiesen wird, im irdischen Wirken Jesu zu verankern« (28). J. will nicht untersuchen, wie umfangreich die – möglicherweise als »authentisch« anzusehende – Jesusüberlieferung bei Paulus ist, sondern sie wendet sich »einer Auswahl von Stellen [zu], für die aufgrund ihrer deutlichen Nähe zu synoptischem Material relativ konsensfähig ein überlieferungsgeschichtliches Verhältnis angenommen wird«. Ihr Ziel ist es, »einige Umrisse frühchristlicher Tradition und den Umgang mit ihr besser nachzeichnen zu können« (39).
Oft werde der Zusammenhang von Überlieferung bei Paulus, die »synoptisch stets im Munde Jesu begegnet«, als »Jesustradition« bezeichnet »und durch ihre Rückführung auf Jesus gesichert« (41). Wenn man aber auf eine solche Hypothese verzichte, dann werde »auch eine vorausgesetzte überlieferungsgeschichtliche Zusammengehörigkeit der Herrenworttradition und der bloßen Anklänge an synoptische Tradition in Frage gestellt«; vielmehr müsse eine solche Zusammengehörigkeit erst erwiesen werden. J. unterscheidet zwei »Grundtypen« von Überlieferung, zum einen »die ohne Kennzeichnung in den Argumentationsduktus einfließende Tradition« und zum andern »die von Paulus durch eine Einleitung vom Kontext abgegrenzte Herrenworttradition« (41). Im Grunde gibt es bei Paulus nur zwei »Paraphrasen« von Jesusworten, nämlich die Verweise in 1Kor 7,10 f. und in 1Kor 9,14, sowie ein einziges regelrechtes Zitat, die Abendmahlsparadosis in 1Kor 11,23–25. Zu fragen sei jeweils, wie sich das Referat bzw. Zitat einer auf Jesus zurückgeführten Aussage zu der eigenen Argumentation des Paulus verhält: Stellt »das Überlieferte den Höhepunkt der kontextuellen Argumentation« dar bzw. dient es »ihrer Unterstützung«, oder steht es »sogar in Spannung zu ihr«? Nur wenn es darauf Antworten gibt, kann nach dem »Stellenwert« gefragt werden, »den Paulus der Herrenworttradition zumisst« (43).
In Kapitel II untersucht J. den »Motivkomplex vom Feindesumgang und Vergeltungsverzicht«, wie er sich bei Paulus in Röm 12,14–21, aber auch im LkEv und im MtEv sowie als »Motivcluster« auch in der Umwelt des Neuen Testaments und im Neuen Testament findet. Sie zeigt, dass Paulus in Röm 12,19 f. die Schrift zur Legitimierung seiner Worte heranzieht, was gegen die Annahme eines Bezugs zur Jesusüberlieferung spreche (103), und sie verweist darauf, dass die hier zusammengestellten Einzelmotive weit verbreitet waren (120 f.). In Kapitel III prüft J. die mögliche Verbindung der Aufforderung zum »Wachsam sein in der Endzeit« (1Thess 5, 1–11) mit ähnlichen Aussagen in den synoptischen Evangelien, insbesondere in dem Q-Gleichnis vom Dieb in der Nacht. Sie kommt zu dem Ergebnis, schon die Frage der Rückführung des Gleichnisses auf Jesus sei nicht zu beantworten (184); Paulus jedenfalls »verbindet das ›Wachen‹ nicht unmittelbar mit der Person Jesu oder des Kyrios, sondern lässt es als Verhaltensmerkmal aus der neuen Wesensbestimmung der Christen folgen« (185). Die »Diebmetapher« sei vermutlich »schon früh in urchristlicher mündlicher Tradition verankert« gewesen und habe sich »wahrscheinlich bereits auf einer außerliterarischen Stufe mit der Wachsamkeitsmahnung« verbunden (186).
In dem knappen Kapitel IV fasst J. ihre in den vorangegangenen Kapiteln gewonnenen Ergebnisse zusammen (190–193); es habe sich gezeigt, dass es im frühen Christentum bestimmte Topoi gab, die thematisch zusammengestellt wurden, ohne dass der Rückgriff auf einen bestimmten Ausgangspunkt der Überlieferung dabei be­deutsam gewesen wäre.
Sehr eingehend untersucht J. in Kapitel V die Aussagen zum Thema Ehe(-scheidung) in 1Kor 7,10 f., wo sich Paulus ganz ausdrücklich auf den Kyrios beruft. In einem Exkurs (224–228) geht sie auch auf 1Kor 9,14 ein, wo ein von 1Kor 7,10 abweichendes Konzept von Autorisierung erkennbar werde: Würde Paulus das in 9,14 referierte Herrenwort befolgen, so würde er indirekt einräumen, dass er sich »mit τὸ εὐαγγέλιον καταγγέλλοντες« identifiziert, für die der Kyrios seine Anweisung erließ; aber tatsächlich waren auf Grund seiner Offenbarungserfahrung für ihn »solche Maßstäbe bindend, die er aus seiner unmittelbaren, persönlichen Begegnung mit und Beauftragung durch Christus ableitet« (228). Das Trennungsverbot in 1Kor 7,10 f. erweise sich als Teil der »Gemeindeethik, deren Ziel das individuelle und gemeinschaftliche ›Leben in Christus‹ ist«; Jesus ist dabei »lediglich Weisungsgeber«, dessen Aussagen in den Gesamtrahmen der Argumentation in 1Kor 7 eingebettet sind ohne besonders hervorgehoben zu werden (263 f.).
Zur Herrenmahlsparadosis in 1Kor 11,23-25 analysiert J. in Kapitel VI vor allem die einleitende Wendung in 11,23a (ἐγὼ γὰρ παρέλαβον ἀπὸ τοῦ κυρίου); sie sei von der Absicht geprägt, »mit Hilfe der angeführten Tradition auf die aktuelle Konstellation in der korinthischen Gemeinde einzuwirken und zugleich die Überzeugungskraft des Apostels zu stärken«. Paulus verkürze die Überlieferungsabfolge und präsentiere sich so »als Apostel, der die Tradition vom Kyrios entgegengenommen hat«. Dieselbe Tendenz zeige sich im Übergang von 11,25 zu 11,26, wo jeweils »die 2. Person Plural angeredet und ansonsten nicht näher spezifiziert wird«, so dass die Worte des Kyrios »beinahe als unmittelbar an die Gemeinde gerichtet« erscheinen (296). In Kapitel VII folgt schließlich die Auslegung von Röm 14,14 im Vergleich vor allem mit Mk 7,1–23. Paulus führe mit der seine Aussage zum Thema »(Un-)Reinheit« einleitenden Wendung οἶδα καὶ πέπεισμαι ἐν κυρίῳ Ἰησοῦ […] seinen Gedanken nicht auf Jesus zurück, sondern er sage vielmehr, dass sich ihm seine Überzeugung von der Reinheit aller Dinge »in Christus« erschlossen habe (345). Ein direkter überlieferungsgeschichtlicher Zusammenhang, der von Jesus ausgeht und sich in den Evangelien, in Apg 10,28 und Röm 14 zeigen würde, besteht nach J. nicht (385).
In Kapitel VIII fasst J. ihre Ergebnisse zusammen: Mit wenigen Ausnahmen führt Paulus Parallelüberlieferungen und Anklänge an synoptische Tradition nicht auf Jesus zurück; es ist vielmehr festzustellen, »dass Jesus als Traditionsurheber und als Lehrer für Paulus nicht relevant ist« (392), was sich gerade daran zeigt, dass die in 1Kor 7,10 f.; 9,14 ausdrücklich als Herrenworte gekennzeichneten Aussagen »von einer christologischen Perspektive her« relativiert werden (394).
Am Ende des Buches stehen ein umfassendes Literaturverzeichnis (397–425) sowie ein (Bibel-)Stellen- und ein Sachregister (426–430; 431 f.).
Die von J. vorgetragenen exegetischen Arbeitsergebnisse sind m.E. überzeugend. Die lebhafte Diskussion über das Thema wird mit dieser Arbeit nicht beendet sein. Aber schon mit ihren am An­fang stehenden methodischen Erwägungen hat sie Maßstäbe ge­setzt und dadurch Ergebnisse gewonnen, die bei jeder weiteren Auseinandersetzung mit dieser theologisch wie historisch gleichermaßen relevanten Thematik Berücksichtigung finden müssen, auch unabhängig davon, ob man im Einzelfall in der Exegese zu einem möglicherweise abweichenden Ergebnis kommt.