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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

353-355

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Weigert, Sebastian

Titel/Untertitel:

Hebraica veritas. Übersetzungsprinzipien und Quellen der Deuteronomiumübersetzung des Hieronymus.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016. 280 S. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 207. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-17-030381-2.

Rezensent:

Martin Meiser

Die Übersetzungsarbeit des Hieronymus an den alttestamentlichen Texten steht in einem doppelten Horizont. Sein Bestreben ist im innerchristlichen Kontext gesehen, angesichts der Diversität und gelegentlichen philologischen Mangelhaftigkeit der für inspiriert erachteten griechischen Texttraditionen einen neuen Referenztext zu erarbeiten, im Kontext pagan-antiker Bibelkritik einen dem Original auch stilistisch nahekommenden, gleichwohl der ge­nannten Kritik Rechnung tragenden Text zu erstellen. Den damit verbundenen Fragen des Vorgehens wie der Übersetzungstechnik des Hieronymus widmet sich Sebastian Weigert in seiner unter dem viel zu früh verstorbenen Friedrich Avemarie begonnenen und unter Angela Standhartinger, Karl Pinggéra und Lukas Bormann vollendeten Dissertation, deren gedruckte Fassung das hier anzuzeigende Buch darstellt.
In der Einleitung begründet W. einleuchtend die Wahl des Bu­ches Deuteronomium: Hier ist kaum mit dem Einfluss christlicher theologischer Traditionen zu rechnen (16).
Der folgende erste Hauptteil (25–79) präsentiert nach biographischen Angaben die Übersetzungsprinzipien des Hieronymus. Bei ihm bedeutet der Begriff veritas im philologischen Sinn schlicht »Urtext«, hat aber, so W., 32, mit Schulz-Flügel, im Falle des Hebräischen auch eine »sprachphilosophische« Konnotation: Hebräisch ist »die Ur-Sprache des inspirierten Gotteswortes, die matrix aller anderen Sprachen« (32). Hieronymus arbeitet an den hebräischen Texten, um im Gegenüber zur verwirrenden Vielfalt der griechischen Überlieferung einen einheitlichen Referenztext zu schaffen, der auch in der Apologetik gegenüber den nicht an Jesus glaubenden Juden Verwendung finden kann (37). W. hebt auch eine entscheidende Differenz zwischen der Textkritik des Hieronymus und heutiger Textkritik hervor: Die heute gängige Vorstellung, die Septuaginta beruhe auf einer anderen Fassung des hebräischen Textes, war Hieronymus völlig fremd.
In der Frage der Übersetzungstechnik bevorzugt Hieronymus in der Tradition lateinischer Klassiker schon vor seiner Arbeit an der veritas hebraica das sinngemäße Übersetzen gegenüber dem wörtlichen (46 f.). Keinen Widerspruch dazu bilden die Feststellung in ep. 57,5, selbst der Wortfolge in der Bibel wohne ein Mysterium inne – das gilt (so W. mit Mülke) nur für die griechischen Texte –, und die Erwägung, Origenes’ De Principiis an dogmatisch verdächtigen Stellen verbum de verbo zu übersetzen, um nicht für häretische Irrtümer haftbar gemacht zu werden (48–55). Hieronymus betont, dass der Übersetzer bei dieser Option nicht nur den Text durchdringend verstehen, sondern auch Einblick in die proprietas, den unverwechselbaren Charakter der Ausgangs- wie der Zielsprache haben muss (56–59). Dass biblische Texte stilistischen Ansprüchen griechisch-römischer Oberschicht nicht genügten, führt auch bei Hieronymus zu einer steten Spannung zwischen dem Lob der sancta simplicitas – die Bibel spricht ja nicht nur zu den Eliten, sondern zu allen – und der Arbeit an der elegantia des Übersetzungsstils (59–67).
Der Abschnitt »Hieronymus und seine jüdischen Lehrer« verweist darauf, dass Hieronymus diese Lehrer nicht den Iudaei bei-gesellt, den Juden also, denen er für die Zeit nach dem Kommen Christi keine Existenzberechtigung mehr zuspricht, sie vielmehr aufgrund ihrer philologischen Kompetenz als Hebraei bezeichnet, was positiv gemeint ist (68–76). W. bringt den Selbstaussagen des Stridoniers recht großes Vertrauen entgegen, sowohl was seine Kontakte zu jüdischen Zeitgenossen als auch was seine hebräische Sprachkompetenz betrifft. In dem angemessen multiperspektivischen Abschnitt »Judentum und Christentum zur Zeit des Hieronymus« fließen Aspekte der reichsweiten Rechtsgeschichte ein, aber auch der Archäologie Israels. Jüdische Identität wird ab dem vierten Jahrhundert zunehmend auch in öffentlicher Repräsentation der Religion wahrgenommen, in der nun rabbinische Halacha immer mehr zum Maßstab wird (82).
Der zweite Hauptteil (83–247) ist Untersuchungen zu einzelnen Texten der Deuteronomium-Übersetzung gewidmet. Das erste Kapitel bespricht Stellen, bei denen sich Hieronymus an der hebräischen Vorlage orientiert. Zunächst jedoch werden Probleme ge­nannt, die sich gegen das Konzept der hebraica veritas richten können, nämlich der in Hieronymus’ Galaterkommentar begegnende Vorwurf jüdischer Textverfälschung, der später nicht mehr wiederkehrt (85–91), und die Frage des Zugangs des Stridoniers zu hebräischen Texten. Hieronymus hatte einen unpunktierten, vom Masoretischen Text nur wenig abweichenden Text zur Verfügung, später – gegen seine Selbststilisierung als Asket – wohl doch als persönliches Eigentum (92–97).
Der Abschnitt »Hieronymus und die Hexapla« (C.I.2.–7., 100–157) enthält jeweils Angaben zu den recentiores (Aquila, Symmachus, Theodotion) bei Hieronymus, Angaben zur neueren Forschung über die recentiores, Stellenuntersuchungen und eine Auswertung. Hieronymus hatte, so W. zu Recht vorsichtig, »Zugang zu eigenem hexaplarischen Material in seinem Besitz« (102). Ebenso vorsichtig beurteilt er unter gediegener Kenntnis neuerer Forschung antike Traditionen zu den recentiores. Die Einzeluntersuchungen zeigen Problembewusstsein (z. B. zu Dtn 11,30, 113–117). Insgesamt werden selektives Verfahren und Inkonsequenz des Stridoniers deutlich; die generelle Wertschätzung der Übersetzungstechnik des Symmachus führt keineswegs zu einer größeren Bevorzugung im Einzelfall (136). Dass tadelnde Bemerkungen über die Herkunft der recentiores gelegentliche Wertschätzung nicht verhindern (157), teilt Hieronymus mit anderen altkirchlichen Exegeten.
»Jüdische Parallelen zu Hieronymus’ Übersetzung« (158 [–213]) werden vermutet, wenn seine Übersetzung bei Abweichung von der Septuaginta auch »den heute greifbaren hexaplarischen Versionen nicht entspricht« (158), aber Parallelen vor allem in den Targumim und im Midrasch Sifre aufweist. Vieles ist überzeugend (z. B. 181 f. zu Dtn 17,8; 183–189 zu Dtn 18,8; 208 f. zu Dtn 33,3). Andernorts werden Urteile über den Einfluss jüdischer Traditionen wohltuend vorsichtig gefällt (z. B. 173 zu Dtn 13,6[7]; 179 zu Dtn 16,1; 18 zu Dtn 17,17 – hier wäre auf Salomo als Negativbeispiel zu verweisen; 190 f., zu Dtn 20,19). Etwas skeptischer bin ich nur zu Hieronymus’ Vorgehen bei Dtn 4,19 (162–169). Da könnte es sich auch um analoge Bemühungen handeln, jeden Anstoß zu vermeiden.
Bevorzugung der Septuaginta und Abweichung von der hebraica veritas (215–243) können sich für Hieronymus aufgrund außertheologischer (226) wie theologischer (238) Interessen ergeben, aufgrund des Kontexts (241), aber auch aufgrund des Anliegens, einen stilistisch zufriedenstellenden lateinischen Text zu schaffen (230. 240). Einflüsse christlicher Auslegungstraditionen beziehen sich auf lexikalische Parallelen wie auf christologisch bedingte Änderungen (244–247).
Die Zusammenfassung (249–257) bündelt eine straff gehaltene, mit Originaltexten reich belegte und gut verständlich geschriebene Arbeit, die in ihrem behutsamen Abwägen dessen, was in welchem Grade als wahrscheinlich gelten kann, von einem hohen wissenschaftlichen Ethos zeugt. Deutlich wird die Notwendigkeit, unterhalb einer Decke globalisierender Beschreibungskonzepte altkirchlicher Hermeneutik die philologische wie exegetische De­tailarbeit und die Detailentscheidungen antiker christlicher Bibelausleger zur Kenntnis zu nehmen. Man kann W. zu dieser Arbeit nur gratulieren.