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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

350-352

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Oorschot, Jürgen van, u. Andreas Wagner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Anthropologie(n) des Alten Testaments.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 301 S. m. Abb. = Veröffentlichungen der Wis­senschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 42. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-04092-6.

Rezensent:

Alexandra Grund-Wittenberg

Der vorliegende Band versammelt Beiträge der ersten Tagung der »Projektgruppe Anthropologie« innerhalb der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie. Er schließt an mehrere seit 2009 erschienene Sammelbände zur Anthropologie des Alten Testaments an und führt zentrale Fragestellungen dieser Forschung, insbesondere zum Personkonzept des Alten Testaments, fort. Nach zwei grundsätzlicheren Beiträgen sind die Aufsätze den Themenbereichen »Seele – Person«; »Anthropologie einzelner Texte und Textbereiche« und »Konzeptionelles« zugeordnet. Eine Auswahlbibliographie (279–301) und ein Autorenverzeichnis (sic; 303) beschließen den Band. Die Fragestellungen wie auch der Anspruch der Beiträge sind dabei, wie häufig in Sammelbänden, recht unterschiedlich.
Der Aufsatz von Andreas Wagner, »Anthropologie(n) des Alten Testaments im 21. Jahrhundert« (11–21) zeigt die Unentbehrlichkeit inter- und transdisziplinärer Forschung in diesem Bereich auf und misst der Unterscheidung zwischen einer Anthropologie des Sollens, die in expliziten Äußerungen zum Menschsein zu finden sei, und einer Anthropologie des Seins, die nach impliziten Menschenbildern einer Kultur fragt, besondere Bedeutung bei. Ob diese jedoch als Leitdifferenz anthropologischer Forschung weiterführend ist, kann gefragt werden, da in expliziten wie impliziten anthropologischen Konzepten deskriptive und präskriptive Aspekte ineinanderliegen, wie auch die von Wagner angeführten Beispiele aus der Urgeschichte zeigen: Die Befähigung des Menschen durch ein »Herz« ( lēb) erfordert nach Nicht-P einen angemessenen Umgang mit seinen ambivalenten Möglichkeiten, und das Dominium terrae gründet nach P in der Imago Dei.
Ernst-Joachim Waschke, »Grundlagen einer theologischen Anthropologie des Alten Testaments« (23–39), bewertet interdisziplinäre Forschung zur Anthropologie des Alten Testaments als hilfreich, möchte deren Fragestellung aber nicht nur als deskriptive, sondern als dezidiert theologische Aufgabe verstehen. Entsprechend wählt Waschke als Ausgangspunkt explizite Äußerungen zur Frage nach dem Menschen, wie sie in Ps 8; 144 und Hiob 7 zur Sprache kommen. Sie stellen nicht nur die Würde des Menschen coram deo, sondern seine Hinfälligkeit, seine grundlegende Angewiesenheit auf Gott und nicht zuletzt sein Ringen mit Gott heraus.
Bernd Janowski, »Das Herz – ein Beziehungsorgan. Zum Personverständnis des Alten Testaments« (43–64), schließt an einen erstaunlich vielbeachteten Aufsatz von R. Di Vito zum Personkonzept des alten Israel an, der dieses im strikten Gegensatz zu demjenigen der Moderne konstruiert hatte; Janowski hält diesem jedoch entgegen, dass die personale Identität auch im alten Israel durch »Binnenmotivationen« (45) konstituiert wird, die das Alte Testament im Funktionsbereich u. a. des Herzens ( lēb/lēbāb) verortet. Janowski präzisiert die Bedeutungsaspekte von lēb/lēbāb, die den Bereichen physiologisch-vegetative Funktionen, Emotionen und Gefühlen, Erkenntnis und Weisheit sowie Wille und Plan zuzuordnen sind.
Christian Frevel, »Person – Identität – Selbst. Eine Problemanzeige aus alt-tes­tamentlicher Perspektive« (65–89), bestimmt zu­nächst die in der Debatte um den Personbegriff des alten Israel einschlägigen Begriffe ›Identität‹, ›Person‹ und Selbst, legt dar, dass die oft erst in der Linie von Platon zu Augustin angesetzte ›Entdeckung des inneren Menschen‹ bereits in zahlreichen alttestamentlichen Texten impliziert ist und zeigt in einer kritischen Auseinandersetzung mit Di Vitos Entwurf (s. o.) auf, dass dieser einer problematischen Interpretationslinie folgt, die das alte Israel als »entwicklungsverzögert« versteht.
Michaela Bauks, »Neuere Forschungen zum altorientalischen »Seele«-Begriff am Beispiel der Anthropogonien« (91–116), präsentiert aktuelle Studien zu altorientalischen, altägyptischen und antiken Seelenvorstellungen, nach denen in vorplatonischer Zeit nicht mit immateriellen, sondern »holistischen« Seelenvorstellungen zu rechnen ist, bei denen die Grenzen zwischen Materialität und Immaterialität verschwimmen, und arbeitet auf diesem Hintergrund Semantik und Korrelation der hebräischen Begriffe rûaḥ, nešāmāh und næpæš in den alttestamentlichen Anthropogonien heraus.
Jürgen van Oorschot, »Lost in Translation, Regain by Exegesis. שפנ in alttes­tamentlicher Verwendung und Funktion« (117–131), widmet sich dem hebräischen anthropologischen Begriff næpæš neu über die in unterschiedlichen Literaturbereichen und Textsorten hervortretenden Funktionen des Begriffs. Bei aller Heterogenität des Gebrauchs zeigt næpæš den Menschen, »der in Kultus und Gebet Gegenüber Gottes ist« und macht ihn »aussagbar als nucleus, als vitaler Kern, als elementare Potenzialität« (131).
Annette Schellenberg, »›Ein beschwichtigender Geruch für JHWH‹. Zur Rolle der Sinne im Kult (nach den priesterlichen Texten)« (135–158), behandelt für priesterliche Texte der Sinaiperikope die Bedeutung der fünf Sinne, und zwar derjenigen der gewöhnlichen Menschen, der Priester, Gottes, im Zusammenhang von Unreinheit und Heiligkeit sowie die Sinne der Rezipienten. Damit leistet sie einen interessanten Beitrag zur Frage, wie Text- und Bildquellen die Sinneswahrnehmung der Menschen des alten Israel darstellen.
Joachim Schaper, »Schriftkultur und Orthodoxie. Anthropologische Beobachtungen zu einem theologischen Thema anhand des Alten Testaments« (159–169), macht eine These des britischen Sozialanthropologen J. Goody, wonach auf heiligen Schriften gründende Religionen zu Exklusivismus neigten, auch für das alte Israel geltend, und zwar am Beispiel des Dtn, insbesondere der im Alten Orient weit verbreiteten Wortsicherungsformel. Interessant wäre die Überprüfung der These am Befund des alten Mesopotamien, in dem es in der Mitte des 2. Jt.s zu namhaften Standardisierungsprozessen kam. Tatsächlich verdienen anthropologische Aspekte der Ausdifferenzierung der Schreibkultur verstärkte Aufmerksamkeit, darunter die Erleichterung komplexer kognitiver Leistungen und ihre kulturellen Auswirkungen.
Judith Gärtner, »Der Andere und der Fremde. Überlegungen zu einer spätprophetischen Anthropologie am Beispiel von Jes 56,1–7« (171–185), untersucht die soziale Eingebundenheit des Einzelnen aus der Perspektive der Gemeinschaft, und zwar in den in der Komposition des Jesajabuchs aufeinander bezogenen Texten Jes 56,1–7.8; 66,23 und 1,10–17: Sie sind allesamt auf verschiedene Weise geprägt von der Leitvorstellung, gerade den »Anderen« ( personae miserae, »Verschnittene«) und Fremden die Teilhabe an der Gemeinschaft zu ermöglichen.
Irmtraud Fischer, »Zur Arbeit erschaffen. Zur Arbeitsteilung nach Intersektionalitätskriterien in Alt-Israel« (187–202), stellt die Arbeit als schöpfungsgemäße Aufgabe des Menschen gemäß der Urgeschichte heraus und betont, dass anstelle des in der Antike verbreiteten Ideals der Muße als Privileg einiger im alten Israel die Leitvorstellung das Arbeiten aller sei. Sie untersucht archäologische, literarische und Quellen zu Arbeitsteilung und Frauenarbeit, bevor sie dem Überschreiten der Gendergrenzen in der Arbeit in Prov 31,10–31 nachgeht.
Thomas Wagner, »Von der Sehnsucht des Menschen nach Göttlichkeit. Natürliche Sterblichkeit als Thema der alttestamentlichen Weisheit« (203–219), deutet die Paradieserzählung, im Gegensatz zu einem neueren Trend der Exegese, als Kritik am Erwerb von Weisheit, da diese auf Kosten »natürlicher Unsterblichkeit« (passim) gehe. Die argumentative Voraussetzung, dass die ältere Spruchweisheit mit dem Versprechen von »Leben« nicht nur auf langes Leben in Fülle, sondern auf die Überwindung der natürlichen Sterblichkeit ziele, bleibt problembehaftet; auch wird dem Unterschied zwischen ῾ēṣ ḥajjîm in Prov 11,30; 13,12; 15,4 (indet., in metaphorischem Gebrauch) und ēṣ haḥajjîm (det.) in Gen 2,9; 3,22.24 nicht Rechnung getragen.
Uta Schmidt, »Anthropologie, Körper und Macht in Daniel 2« (221–238), arbeitet heraus, wie die Wahrnehmung der anthropomorphen Statue in der Traumvision Dan 2,31–45 wie beim menschlichen Körper von den mit Körperteilen verbundenen Wirkungen her geschieht und legt die anthropomorphe Herrscherstatue aus Dan 2 auf die Zerbrechlichkeit menschlicher Körper (238) aus, wobei die machtpolitische Dimension der Zerstörung der Herrscherstatue zugunsten anthropologischer Perspektiven etwas zurücktritt.
Thomas Staubli, »Ikonographische Quellen als Grundlagenmaterial für die Rekonstruktion anthropologischer Themen der Südlevante« (241–264), zeigt exemplarisch den Wert von Bildquellen für die Anthropologie auf: So werden an den Kleidern auf den Lachisch-Reliefs u.a. Darstellungscharakteristika herausgearbeitet, die Statusdifferenzen zwischen Kolonialherren und loyalen oder rebellischen Vasallen markieren. Am Beispiel der Pithoi aus Kuntillet Aǧrud werden durch Gesten, Haltungen und Handlungen dargestellte Emotionen herausgearbeitet und schließlich Inszenierungen des menschlichen Körpers als zerbrechliches Gefäß in Kunsthandwerk der Levante und alttestamentlicher Literatur erörtert.
Andrea Beyer, »Vom Menschen erzählen. Implizite und explizite anthropologische Aspekte in narrativen Texten« (265–278), analysiert die Josephsnovelle, die Murrgeschichten sowie die Erzählung von Hanna 1Sam 1 in anthropologischer Absicht. Die Ergebnisse der Untersuchung könnten durch Präzisierung der Fragehinsichten noch profilierter werden, doch ist dieser neue anthropologische Ansatz weiterführend, auch im Blick auf Di Vitos These einer grundsätzlichen Heteronomie der Menschen im alten Israel. Ihr widerspricht der Befund, dass in zahlreichen alttestamentlichen Erzählungen das Überschreiten von Rollengrenzen von Hauptfiguren überraschend wertschätzend dargestellt wird.
Bedauerlicherweise werden in mehreren Beiträgen des Bandes, den Fußnoten nach zu urteilen, einschlägige neuere Monographien zu den traktierten Themen, etwa zur Anthropologie der Urgeschichte sowie von Ps 8, zu Körperbildern in den Psalmen, zur Schreibkul-tur oder zum Sabbat nicht berücksichtigt. Dass dies überwiegend Forschungsarbeiten von Frauen sind, ist hoffentlich ein bloßer Zufall.
Wer den Fortgang der anthropologischen Forschung zum Alten Testament verfolgen möchte, wird um diesen interessanten Band nicht herumkommen.