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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

347-349

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Loader, James Alfred

Titel/Untertitel:

Proverbs 1–9.

Verlag:

Leuven: Peeters 2014. XXVIII, 410 S. = Historical Commentary on the Old Testament. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-90-429-3144-2.

Rezensent:

Rolf Schäfer

Als unlängst emeritierter Ordinarius für Altes Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien hat James Alfred Loader mit diesem ersten Teil eines groß angelegten Kommentars zum Buch der Sprüche Salomos damit begonnen, die Ernte seiner langjährigen Forschungen auf dem Gebiet der biblischen Weisheitsliteratur einzubringen. Angesichts einer ganzen Reihe von Kommentaren (Meinhold 1991, Whybray 1994, Clifford 1999, Waltke 2005, Fox 2009, Sæbø 2012) und einer stattlichen Zahl von Einzelstudien, die in letzter Zeit zum Sprüchebuch und speziell auch zu Spr 1–9 erschienen sind, hält L. vorab eine »justifica-tion of yet another commentary on the Book of Proverbs« (IX) für angebracht. Er sieht seinen besonderen Beitrag darin, das Auseinanderfallen von historischen und literarischen Fragestellungen (oder anders ausgedrückt: von diachroner und synchroner Betrachtungsweise) durch einen in erster Linie exegetisch ausgerichteten Kommentar (X) zu überwinden. Außerdem bezieht er dem Profil der Reihe HCOT entsprechend die Rezeptionsgeschichte der Texte in seine Darstellung mit ein. Letzteres kommt – wie aufgrund der außerordentlichen theologischen Relevanz dieser Passage nicht anders zu erwarten – vor allem in einem längeren rezeptionsgeschichtlichen Exkurs zu Spr 8 zum Tragen (367–375).
In der Introduction (1–46) gibt L. zunächst Hinweise zur Benutzung des Kommentars und klärt die von ihm verwendete poetologische Terminologie. Daraufhin behandelt er die üblichen Einleitungsfragen zum Sprüchebuch: dessen Stellung im Kanon, Textüberlieferung, Datierung, Inhalt und Aufbau. Anhand der sieben Überschriften (Spr 1,1; 10,1; 22,17; 24,23; 25,1; 30,1; 31,1) gliedert L. das Sprüchebuch in sieben Teile, die er im Anschluss an Tournay mit den in Spr 9,1 erwähnten »sieben Säulen« in Zusammenhang bringt. Diese sieben sehr ungleichen Teile gruppiert er zu drei Textkomplexen: eine Sammlung von Lehrgedichten (Spr 1,1–9,18) und zwei umfangreiche Sammlungen von Sprichwörtern (10,1–22,16 und 25,1–29,27), jede von ihnen wiederum mit zwei kürzeren Anhängen (22,17–24,22 und 24,23–34 sowie 30,1–33 und 31,1–31). Als Pointe dieser Gliederung betrachtet L. die Kapitel 8 und 9 gleichfalls als zwei »supporting appendices« (8) zu den Lehrreden in den Kapiteln 1–7, sodass demnach die drei großen Textkomplexe des Sprüchebuchs alle nach dem gleichen Prinzip (Textsammlung mit zwei Anhängen) aufgebaut wären.
Das Sprüchebuch als Ganzes charakterisiert L. als Anthologie, zusammengestellt aus unterschiedlichen weisheitlichen Texten und Spruchsammlungen, wobei er das Entstehen der älteren Spruchsammlungen in vorexilischer Zeit ansetzt (cf. Spr 25,1). Im Blick auf die längeren Texteinheiten in Spr 1–9 teilt er die verbreitete Auffassung, dass dieser Komplex »by the late Persian or early Hellenistic period« (9) als Einleitung für das Sprüchebuch gestaltet worden sei. Diesen Vorgang beschreibt er im Anschluss an Fox als einen längeren Wachstumsprozess, für den er den Begriff »cumulative growth« (10) prägt. Die Redaktion hätte demnach hier die textgestaltende Rolle eines kollektiven Autors übernommen, indem sie Vorhandenes (einen Zyklus von Lehrreden) planvoll ausarbeitete und (mit insgesamt fünf Zwischenstücken bzw. Anhängen) sukzessive anreicherte, sodass aus den recht unterschiedlichen Be­standteilen am Ende ein klar strukturiertes Ganzes entstand, un­tergliedert in 16 Texteinheiten: das »preface« (1,1–7), zehn »les-sons« (1,8–19; 2,1–22; 3,1–12; 3,13–26; 4,1–9; 4,10–19; 4,20–27; 5,1–23; 6,20–35; 7,1–27) und fünf »poems« (1,20–33; 3,27–35; 6,1–19; 8,1–36; 9,1–18).
Mit seiner Abgrenzung der zehn Lehrreden (»lessons«; Fox und Waltke ge-brauchen stattdessen den Begriff »lectures«) folgt L. einem weitverbreiteten Konsens. Lediglich bei der vierten Lehrrede in Spr 3 weicht er von der vorherrschenden Meinung ab. Während man aufgrund der erneuten Anrede »Mein Sohn, …« in 3,21 üblicherweise den Abschnitt 3,21–35 als vierte Lehrrede anspricht (so z. B. Meinhold und Fox), erkennt L. diese in 3,13–26 und klassifiziert 3,27–35 als ein eigenständiges Gedicht (»poem«). Hier ebenso wie im Fall von 6,1–19 bleiben aber im Blick auf L.s Einordnung dieser Texteinheiten unter die »poems« gewisse Zweifel, die sich zwangsläufig auch auf die von ihm vorgetragene Hypothese zum Gesamtaufbau des Textes auswirken, denn nach dieser sollen in Spr 1,20–7,27 drei Textblöcke vorliegen, in denen immer jeweils drei »lessons« und ein »poem« einander zugeordnet seien. Das Vorwort (1,1–7) zusammen mit der ersten Lehrrede (1,8–19) und die beiden abschließenden Gedichte (8,1–36 und 9,1–18) rahmen nach L.s Auffassung diese drei Textblöcke ein, wobei die Rahmenteile einander thematisch entsprechen:1,1–7 und 8,1–36 handeln vom Wesen bzw. vom inneren Charakter der Weisheit, 1,8–19 und 9,1–19 von der Alternative, vor der die jungen Leute im Leben stehen.
Die Einleitung mündet in vier Essays (15–46). Dabei handelt es sich um für den vorliegenden Zusammenhang erstellte Kurzfassungen von vier Studien, die L. zunächst als separate Aufsätze in ZAW (1999) und OTE (1997, 2001 und 2013) veröffentlicht hat. Sie befassen sich mit dem sozialen Milieu der Weisheit, mit dem weisheitlichen Ordnungsdenken, mit dem vermeintlichen Fehlen der Kategorie »Offenbarung« in der weisheitlichen Überlieferung und mit dem Problem der Vergeltung (»retribution«), d. h. mit der weisheitlichen Konzeption des Tat-Folge-Zusammenhangs und deren Grenzen. Mit diesen vier Essays skizziert L. in Grundzügen sein Verständnis der alttestamentlichen Weisheit. Nachdrücklich betont er dabei die theologische Relevanz des Sprüchebuchs. Er betrachtet die weisheitliche Tradition nicht nur als einen reichen Schatz überlieferter Lebenserfahrung, sondern erkennt darin eine Form der natürlichen Theologie, die Beobachtungen und Erfahrungen sammelt und auf diese Weise Zusammenhänge und Ordnung in der Welt findet, in denen sich JHWH als Schöpfer zu erkennen gibt und mitteilt. Der Glaube an JHWH, den Schöpfer, sei im weisheitlichen Unterricht Israels immer schon vorausgesetzt (cf. 1,7). Die einzelnen Lehren und Sprichwörter setzten demnach nichts Geringeres als die Weltordnung und mit ihr den Willen des Schöpfers in konkretes alltägliches Handeln um. Nach L. liegt das Sprüchebuch damit theologisch auf einer Linie mit dem Jakobusbrief, insbesondere mit Texten wie Jak 2,14–26.
In den insgesamt 16 Kapiteln des Kommentarteils (48–401) be­handelt L. der Reihe nach die von ihm in Prov 1–9 identifizierten Texteinheiten (s. o.). Den Vorgaben der Reihe HCOT entsprechend ist die Kommentierung jeweils in vier Ebenen unterteilt: Translation, Essentials and Perspectives, Exposition I und Exposition II. Bereits im Layout der Übersetzung bildet L. die von ihm ermittelte und im Kommentar dann ausführlich erläuterte Textstruktur (Verse, Strophen, logische Einheiten) ab. Unter Essentials and Perspectives ist zunächst die für die jeweilige Texteinheit relevante Sekundärliteratur zusammengestellt, sodann werden die wich-tigsten inhaltlichen und formalen Aspekte der Perikope in ihrem Verhältnis zum größeren Kontext erörtert. Unter Exposition I: Introduction to the Exegesis befasst sich L. eingehend mit der Struktur und dem Stil der jeweiligen Texteinheit sowie mit ihrer literarischen Gattung und ihrem thematischen Schwerpunkt. Dementsprechend sind seine Ausführungen hier in der Regel in die drei Unterabschnitte Structure, Genre and Style und Theme(s) gegliedert. In einigen Fällen (z. B. zu Spr 2, 7, 8 und 9) kommt noch ein vierter Unterabschnitt Literary Criticism hinzu. Hier referiert L. literarkritische Beobachtungen und diskutiert die in der Forschung vertretenen Schlussfolgerungen. Er selber allerdings vermeidet literarkritische Urteile und bleibt mit seinen Erläuterungen durch-gehend auf der Ebene des Endtextes. Unter Exposition II folgt schließlich Vers für Vers der ausführliche und materialreiche Kommentar mit allen grammatischen, syntaktischen, semantischen und inhaltlichen Einzelheiten.
Die Bibliography (XV–XXVIII) verzeichnet einen umfangreichen und repräsentativen Bestand der international vorhandenen und für Spr 1–9 relevanten Kommentar- und Sekundärliteratur, ohne jedoch Vollständigkeit anzustreben. Zwei Register (403–407) der im Kommentar zitierten Autoren und außerbiblischen Quellen be­schließen den Band.
Bei der Lektüre stolpert man gelegentlich über kleine Unstimmigkeiten und Druckfehler wie beispielsweise die folgenden: »Lesson 4« (163) erscheint im Inhaltsverzeichnis (VI) versehentlich als »Lesson 6«; beim Kommentar zu 2,1–22 beginnt die logische Einheit »Bii« in der Übersetzung (101) mit Vers 9, laut dem erläuternden Text (103) jedoch mit Vers 12; der Fundort des als »H. D. Preuss 1974« zitierten Aufsatzes ist nicht »Ephem Theol Lov 23« wie angegeben, sondern BEThL 33, und der ehrenwerte Gustav Boström ist im Literaturverzeichnis zu »Böstrom« mutiert. Insgesamt bleibt die Zahl solcher Versehen aber erfreulich gering.
In eindrucksvoller Weise ist es L. gelungen, mit seinem »exegetischen« Kommentar die formale und inhaltliche Architektur der Texte bis ins Detail auszuleuchten und dem Leser sowohl die literarische Form als auch die Gedankenführung der Lehrreden und Gedichte klar und nachvollziehbar zu erläutern. Er lässt vor dem geistigen Auge des Lesers das Panorama der Text- und Gedankenwelt von Spr 1–9 vorüberziehen. Dabei steht die überlieferte Endgestalt des Textes im Mittelpunkt.
Sein Anliegen, mit der literarischen Perspektive auch historische Fragestellungen zu verbinden, bringt L. insofern zur Geltung, als er auf literarkritisch bedeutsame Phänomene stilistischer, inhaltlicher und theologischer Art hinweist, in den Texten »dif-ferent foci and even varying degrees of piety« (10) wahrnimmt und daher grundsätzlich durchaus mit unterschiedlichen Verfassern bzw. Textebenen rechnet (so z. B. in seinen Ausführungen zu 1,1–7 auf S. 51, zu 8,22–31 auf den S. 321 f. u. 344 oder zu 9,7–12 auf den S. 380 f. u. 391 f.). Die historische Tiefe der Kommentierung bleibt jedoch gegenüber der literarischen vergleichsweise gering, weil L. darauf verzichtet, die literarkritisch relevanten Beobachtungen traditionsgeschichtlich zu überprüfen und redaktionsgeschichtlich auszuwerten. Nach Ansicht des Rezensenten ließen sich auf diese Weise in Umrissen durchaus noch die Profile und die Dialektik unterschiedlicher weisheitlicher Positionen nachzeichnen, die erst in der Synthese des Endtextes ineinandergeflossen sind. Doch L.s Kommentar »neither puts forward novel propositions about the composition of the Book of Proverbs nor grand claims for alternative reading strategies. More modestly it strives to take the text seriously at the philological, structural and compositional levels in an effort to indicate the amplitude of the text we have in the Book of Proverbs and the possibilities for handling its potential« (IX). Dies ist L. für Spr 1–9 glänzend gelungen, und so bleibt zu hoffen, dass in absehbarer Zeit auch sein Kommentar zu Spr 10–31 als sub conditione Jacobaea versprochener zweiter Teil des Werks folgen wird.