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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

95–97

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lohmann, David

Titel/Untertitel:

Das Bielefelder Diakonie-Managementmodell.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlaghsaus 1997. 334 S. gr.8 = Leiten, Lenken, Gestalten, 1. Kart. DM 48,-. ISBN 3-579-02082-X.

Rezensent:

Friedrich W. Bargheer

Ein Prozeß kommt in Gang, in dem - wenn auch verspätet - ökonomisch-betriebswirtschaftliche, systemtheoretische und organisationssoziologische Wissensbestände auf Strukturreformen in Kirche und Diakonie angewendet werden. "Die praktisch-theologische Unterdisziplin der Kybernetik" belebt sich und gewinnt Gestalt (E. Hauschildt, PTh 86, 1997, 201).

Beispiele: Ende der 80er Jahre stellte die Württembergische Landeskirche ihre Leitungsstrukturen auf den Prüfstand professioneller Management-Beratung (vgl. A. Jäger: Konzepte der Kirchenleitung für die Zukunft 1993). - 1992 gab eine Perspektivkommission der EKHN Empfehlungen zur "Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft" (Titel: "Person und Institution").

Von 1995 datiert das "Evangelische München-Programm", ein Projekt der bayerischen Landeskirche mit der Unternehmensberatung McKinsey & Co. Der Kirchenkreis Bochum sichtet noch Erträge seiner "Bestandsaufnahme: Zielklärung" (1997) in prekärer Finanzlage. - "Kirche als Unternehmen ... - so lautet die neue Perspektive" (E. Hauschildt). "Qualitätssicherung", "Leitbild- und Profilentwicklung" sind verwandte Parolen. Sie signalisieren Transfer unternehmerischer Sichtweisen auf Großinstitutionen im kirchlich-diakonischen Bereich.

1. Für Anstalts-Diakonie mit ihren Großbetrieben hatte A. Jäger 1986 mit "Diakonie als christliches Unternehmen" Grund gelegt: Diakonische Anstalten sollten sich als Unternehmen verstehen, die Management brauchen. Ihre Leitung müsse unternehmerisch und christlich sein (vgl. H. Lorenz in: VF 35, 1990, 2, 46). Was das theologisch bedeutet, läßt sich nicht endgültig sagen, sondern bedarf Theorien ’mittlerer Reichweite’ (H. Schelsky) etwa im Abstand von Jahrzehnten.

Aus der Schule A. Jägers liegt nun ein weiteres Werk zu der 1986 eröffneten Debatte vor: David Lohmanns Betheler Diss. über Das Bielefelder Diakonie Managementmodell, 1997 erschienen in der von A. Jäger im Gütersloher Verlagshaus herausgebrachten Reihe "Leiten, Lenken, Gestalten - Theologie und Ökonomie". Der Autor, nach dem Studium der Evangelischen Theologie als Kundenberater einer Bank tätig, ist heute Betriebsdirektor des Collegium Augustinum in München.

Warum "Bielefelder ... Modell"? - Die Kirchliche Hochschule Bethel, die L. promovierte, liegt in einem Bielefelder Ortsteil; Bielefeld beherbergt mit den traditionsreichen Betheler Anstalten und dem Evangelischen Johanneswerk, einer Nachkriegsgründung, zwei diakonische Großbetriebe und damit potentielle Anwendungsfelder. - Und wieso Management? Dazu L.: "Diakonie-Unternehmen befinden sich ... in einer theologischen und ökonomischen Anpassungskrise. ... Die Betriebswirtschaftslehre hat für diesen Bereich ... Managementmodelle... entworfen, an denen sich eine praxisorientierte Diakonie-Theologie orientieren kann. Die theologische Gestaltung diakonischer Unternehmensstrukturen gelingt dabei nur, wenn Theologie und Management zusammengedacht werden" (75).

2. L.s Werk verknüpft, interdisziplinär und "integrativ", theologische und betriebswirtschaftliche Aspekte. Im literarischen Umfeld mit dessen Diakonie theologisch legitimierenden und/oder sozialpolitisch kritisierenden Publikationen besetzt L. einen "dritten Ort", von dem aus er angesichts der ökonomischen und gesellschaftlichen Wandlungen durch Verschränkung des ökonomischen Horizonts mit dem theologischen (und umgekehrt) Grundlagen diakonischer Großbetriebe reflektiert. Diakonie wird der Realitätskontrolle unterzogen.

L.s Buch durchzieht die Auseinandersetzung mit J. Degen, der das Verhältnis von Diakonie und Sozialstaat mehrfach beleuchtete und 1994 "Diakonie als soziale Dienstleistung" erklärte. Es ist leserfreundlich geschrieben: Klare Komposition, verständliche Sprache. Kurzresümees am Ende oder Anfang neuer Abschnitte nehmen auch betriebswirtschaftliche Laien mit. Der Autor reklamiert nicht nur das Theologie und Ökonomie verknüpfende Korrelations-Programm, sondern hält es durch. Zum Beispiel bei "Wirtschaftsethik als integrative(r) Mitte" (167): Der Ansatz führt, auf weniger als zehn Seiten konzentriert, zu "Grundzügen eines theologischen Managementmodells" (165-174). Hier bündelt eine Denkfigur im Anschluß an Arthur Rich ("wirtschaftsethischer Trichter", 170 u. ö.) die Erörterungen. L.s Darlegungen nehmen Diakonie als komplexes christliches Unternehmen vom Typus ’Non-profit-Organisation’ in Blick, die aber wirtschaftliche Verluste vermeiden müsse (53 ff.). In der "Leistungserstellung" liege der "Primär-Prozeß" diakonischer Unternehmen. Demgegenüber seien Verwaltungsaufgaben sekundär und in Grenzen zu halten (64ff.). Auf Seite 141 ff. werden exemplarisch Management-Modelle vorgestellt ("St. Galler Konzept" u. a.).

3. Nach einer Würdigung von J. H. Wichern (theologisches "Theorie-Defizit", 25) setzt sich L. mit gegenwärtiger Diakonie auseinander und beklagt die Ausblendung von Fragen "theologischer Organisations- und Leitungsstrukturen" sowie in der Unternehmenspraxis eine "Entfremdung zwischen Ökonomie und Theologie" (27). Die statische Anwendung der "Zwei-Reiche-Konzeption" stelle in Frage, "ob Diakonie überhaupt noch ... der christlichen Motivation bedarf" (28).

Der Autor entwickelt eine spezifisch auf Diakonie-Unternehmen zugeschnittene Theologie. Als diakonisches ’Globalziel’ postuliert er die Verwirklichung der soteriologischen Perspektive bei Relativierung des ökonomischen Managements. Beides zusammenzudenken, ist die diakonie-theologische Kunst. Ihr dient die Reformulierung der theologischen Sinnmitte der Diakonie ("Aufhebung der Entfremdungszustände menschlichen Lebens und seine Beheimatung im ’Neuen Sein’", 19.29 u. passim) und des "wirtschaftsethischen Trichters" für Konzernentscheidungen (170 ff.).

L. zum "Proprium" von Diakonie: Ihre Handlungen seien religiöse Hinweis-Symbole, mit denen die tragende Sinnmitte der Diakonie, das Neue Sein, anschaulich werde. Dieses erkennt er auch an der geistgewirkten Gemeinschaft (48) oder an der Verbindung aus wirtschaftsethischer Reflexion, "theologischer Effizienz" und Realisierung Neuen Seins (318). L. bietet angewandte Theologie (Paul Tillich und Arthur Richs Wirtschafts ethik unter Mitverwendung weiterer Komponenten). "Auf eine innertheologische Exegese ... (wurde) verzichtet ... Tillichs Theologie bildet als geschlossenes Konzept das Fundament zur Entwicklung handhabbarer Gestaltungsmodelle für diakonisches Management" (12). Neben dem ’Neuen Sein’, der ’Geistgemeinschaft’ und dem Reich-Gottes-Gedanken hat für die Rekonstruktion der Sinnmitte von Diakonie (30-50) u. a. Bedeutung, daß Ausgangspunkt und Motivationszentrum von Diakonie, mit Tillichs Begrifflichkeit in Christus als Manifestation des Neuen Seins liegen (29.42).

Daneben finden Grundgedanken A. Richs Verwendung: ’Lebensdienlichkeit’ als Sinnmitte von Wirtschaften und ’Menschengerechtheit’ als Kriterium für Lebensbedingungen im Neuen Sein (98 ff.). - L.s Vermittlung des Ökonomischen mit dem Theologisch-Ethischen führt auf wirtschaftsethische Kriterien: Gottgemäßheit (sic!), Ehrfurcht vor dem Leben, Verantwortung und Sachdienlichkeit (192-196); ferner zur Beschäftigung mit "Corporate Identity" und "Corporate Design" ("Prägung eines sozialen Groß-Systems mit einheitlichen, prägnanten Merkmalen" [204]; Konkretisierung der Management-Theologie zur Unternehmens-Theologie bzw. -Philosophie. "Die theologische Sinnmitte der Diakonie wird so zu einer erfahrbaren Wirklichkeit für die jeweiligen Interessengruppen diakonischer Leistungen" [206]). ’Personal-Controlling’ erscheint als funktionales Äquivalent zu Seelsorge; Marketing-Strategien (249) und unternehmensadäquate "Nutzenstiftung" werden als Realisierungen der tragenden Sinnmitte angesprochen (213.222). L. empfiehlt statt hierarchischem "schlankes" Management; Holding-Organisationen für mehr wirtschaftliche Effektivität (209); Crews (Teams) als flexibel und mobil operierende Einheiten (280 ff.). Den ’Kunden-Stamm’ der Diakonie sieht er in Alten, Kranken, Behinderten und Abhängigen (302 ff.).

4. L. benutzt sein Material (Tillich, Rich, ’St. Gallen’) postmodern wie funktional verwendbare Versatzstücke. Zugleich betont er "Zentrierung auf die theologische Sinnmitte ... unter dem Gesichtspunkt theologischer Zielvorgaben ..., wie sie in der Realisierung des Neuen Seins zusammengefaßt sind" (318). Abschließend spricht er vom "Paradigmen-Wechsel in der Diakonie-Theologie" (321).

Grenzen des Buches, Fragen und Hinweise (exemplarisch):

Programmatisch ausgeklammert ist diakonische Praxis "im kleinen". - Würde ’Management-Theologie’ bei Gemeinde-Diakonie oder Diakoniestationen prinzipiell nicht greifen? Es spricht doch einiges dafür, daß gerade auch hier fachgerecht gemanagt werden muß!

Ein Paradigmenwechsel nur für Diakonie-Theologie? Steht er nicht allenthalben auf der Schwelle, wo nach ’Corporate Identity’ von evangelischen Kirchen und Regionen, nach ihrem ’Corporate Design’ - und sei es unter Chiffren wie Leitbild oder Zielklärung - gesucht wird? Angenommen, L.s Ansatz, mit angewandter Theologie zu arbeiten, fände dabei Nachahmer: Es käme darauf an, daß aus angewandter nicht technokratisch funktionalisierte Theologie wird - es sei denn um den Preis ihrer Funktion als Kritische Theorie kirchlicher (und diakonischer) Praxis. L.s korrelativ-integraler Ansatz beansprucht diese und klammert sie durch den Verwendungszusammenhang doch zugleich ein.

Kurzum: Die Entwicklung von Management-Modellen auch für Landeskirchen und Kirchenkreise auf nicht ausgetretenen theologischen Pfaden steht auf der Tagesordnung!