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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

288–291

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Vogel, Viola

Titel/Untertitel:

Abgestorben? Religionsrecht der DDR und der Volksrepublik Polen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XVII, 450 S. = Jus Ecclesiasticum, 111. Lw. EUR 104,00. ISBN 978-3-16-153732-5.

Rezensent:

Martin Honecker

Die Göttinger juristische Dissertation von Viola Vogel ist bemerkenswert und schließt eine Forschungslücke (vgl. z. B.: Claudia Lepp, Christen und Kirche in der DDR. Eine Nachlese [1990–2014], ThR 81 [2016], 4–73, enthält keine Texte zum Staat-Kirche-Verhältnis). Ihr Titel »Abgestorben?« greift die marxistische These vom Absterben der Religion und des Staates auf. Das Recht im Allgemeinen und das Religionsrecht als Teil des bürgerlichen Rechts wird nach der marxistischen Gesellschaftsutopie, wie ebenfalls der Staat, mangels Notwendigkeit »absterben«.
Die Arbeit ist in vier Teile gegliedert: 1. »Die Ideengeschichte des Marxismus-Leninismus und sein Verhältnis zur Religion« (9 ff.), 2. »Das Staatssystem der DDR und seine Grundaussagen zum Phänomen der Religion« (59 ff.), 3. »Deutsches ›Staatskirchenrecht‹ im Sozialismus am Beispiel der evangelischen Landeskirchen in der DDR« (127 ff.) und 4. »Katholische Kirche in der Volksrepublik Polen und in der DDR. Relevanz kirchlicher Verfasstheit für die Widerstandsfähigkeit der Kirchen gegen totalitäre Herrschaftssysteme« (293 ff.). Die »Zusammenfassung« (389–398) resümiert in 20 kurzen Abschnitten das Ergebnis der Untersuchung. Das Inhaltverzeichnis ist ausführlich. Register erschließen das Buch; es ist aber kein lexikalisches Nachschlagewerk.
Die Voraussetzungen der marxistisch-leninistischen Religionspolitik sind die religions- und rechtsphilosophischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus als Ideologie. Es beginnt deshalb mit einem ideengeschichtlichen Rückblick auf dessen Verhältnis zur Religion. Ausgehend von Hegel, Ludwig Feuerbach, den Junghegelianern, kommt zunächst Karl Marx zu Wort. Er geht davon aus, dass die Religion in der gesellschaftlichen Entwicklung von selbst absterben wird. Gott wird von ihm gleichgesetzt mit der »Fremdherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise« (35). Er hatte dabei keine kämpferische Einstellung zur Religion. Das änderte sich durch Lenin, der den Ideologiebegriff bewusst aufnimmt und scharf konfrontiert der zu beseitigenden bürgerlichen Ideologie. Marxismus ist positiv wissenschaftliche Ideologie. Lenin instrumentalisiert das marxistische Denken zur Theorie einer revolutionären Bewegung, die von einer Kaderpartei geführt wird. Für die Kaderpartei des sozialistischen Proletariats ist die Religion aber keineswegs »Privatsache«. Lenin propagiert einen kämpferischen Atheismus. Nach der Oktoberrevolution 1917 war für den Marxismus-Leninismus nun das Problem, dass die Religion nach wie vor existierte und eben nicht, wie Marx angenommen und erwartet hatte, als Teil des Überbaus abstarb.
Auf diesem Hintergrund stellt der zweite Teil das Staatssystem und die Grundaussagen des staatlichen Rechts der DDR zum Phänomen Religion vor. Marx und Engels hatten weder eine geschlossene und konsistente Rechtslehre noch einen bestimmten Rechtsbegriff. Recht und Staat gehören vielmehr zum Überbau, der im Sozialismus entbehrlich wird. Recht galt als Klassenrecht und darum als historisch-gesellschaftliches Übergangsphänomen. Die Be­hauptung und Beanspruchung eines klassenneutralen, objektiven Rechts ist Ideologie des bürgerlichen Rechtsstaats. Folglich kennzeichnet die marxistische Rechtstheorie das überkommene Recht als Überbau und zu bekämpfende bürgerliche Ideologie. An die Stelle des bürgerlichen Rechtsstaats mit Gewaltenteilung und Grundrechtsschutz tritt eine andere Auffassung vom Recht. Aus dem Grundsatz »sozialistischer Gesetzlichkeit« folgt das Prinzip der Gewalteneinheit. Die Suprematie der Partei entscheidet. Vom Recht wie vom Richter wurde »Parteilichkeit« verlangt. Gegen Akte der Verwaltung gab es in der DDR keinen verwaltungsgericht-lichen Rechtsschutz. Das sozialistische Grundrechtsverständnis lehnte zudem die Auffassung von Grundrechten der Person, von Freiheitsrechten ab, die der Einzelne einfordern kann. Stattdessen bestimmt Kaderpolitik und das Nomenklatursystem mit einem ausgeklügelten System von Belohnungen und Bestrafungen, was als Recht Geltung beanspruchte. Nach der Rechtstheorie der DDR konnte es keinen Spielraum für Religion und Kirchen geben. Die gelegentlich pragmatische und moderate Kirchenpolitik war den Zeitverhältnissen geschuldet.
Auf diesem Hintergrund wird im dritten, ausführlichsten Teil das »Staatskirchenrecht der DDR« in seiner Anwendung auf die evangelischen Landeskirchen geschildert (127–281). Die Anfänge waren aufgrund des Einflusses der Alliierten auf das deutsche Staatskirchenrecht – seit der Potsdamer Konferenz – zurückhaltend. Man nahm die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung wieder auf. Auch die Kirchenpolitik der SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland) war nicht kirchenfeindlich. Bei der Gründung der DDR 1949 gab es kein vorliegendes Konzept der Kirchenpolitik. Die Religionsfreiheit wurde in der DDR zwar verfassungsrechtlich gewährt. V. interpretiert die religionsrechtlichen Aussagen der drei DDR-Verfassungen, 1949, 1968, 1974. Zwischen Verfassungstext und politisch praktizierter Verfassungswirklichke it klaffte jedoch eine erhebliche Diskrepanz. Denn nicht der Staat, sondern die Partei verfügte über das Religionsrecht. Neben den staatlichen Einrichtungen gab es außerdem weitere kirchenpolitisch tätige Instanzen: Staatssekretariat für Kirchenfragen, Hauptabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Abteilung für Kirchenfragen im ZK der SED und auch die Ost-CDU (168 ff.). Die Kirchenpolitik der DDR und der SED beruhte folglich nicht auf dem geschriebenen Staatskirchenrecht, sondern war ein Kommunique-Recht (157 ff.). Der Vorwurf der Landeskirchen an den Staat, er übe Rechts- und Verfassungsbruch, lief daher ins Leere (220). Dazu kam, dass die Landeskirchen gegenüber der staatlichen Religionspolitik immer wieder unterschiedliche Positionen vertraten.
V. zeichnet die Kirchenpolitik der DDR detailliert sorgfältig nach. Sie nennt 24 Etappen dieser Kirchenpolitik. Das beginnt mit dem Kampf um die Junge Gemeinde, um die Jugendweihe, um den schulischen Religionsunterricht. Markante Station war nach der Lösung der ostkirchlichen Gliedkirchen aus der EKD und der Forderung der DDR, wonach die Staatsgrenzen auch Kirchengrenzen sein müssen, die Gründung des Kirchenbundes (229 ff.). Wichtig waren auch das Grundsatzgespräch zwischen Staat und evangelischer Kirche vom 6. März 1978 (259 ff.), die Lutherfeierlichkeiten 1983 (264 ff.). Das Ergebnis (273 ff.) lautet: Das sozialistische Recht inklusive des Verfassungsrechts hatte gegenüber der Politik keine be­grenzende Funktion. Verfassungsrechtlich gewährte religionsrechtliche Freiheiten existierten nur auf dem Papier. Dennoch blieben trotz der Inkongruenz von Theorie und Praxis die Kirchen weitgehend autonome Größen, die aus dem Körperschaftsstatus der Weimarer Verfassung die Organisations-, Finanz- und Perso nalhoheit faktisch behielten (274). Der Kampf der SED richtete sich primär gegen das Bürgertum als gesellschaftlich (mehrheitlich gläubige) Klasse (284). Die Kirchenfrage war immer der Klassenfrage untergeordnet.
Der Vergleich im vierten Teil mit der Situation in der Volksrepublik Polen ist instruktiv (283 ff.). Behandelt werden die politische Entwicklung und die kirchlichen Strukturen in Polen. Die polnische Kirche war und ist papstzentriert, wiewohl die Provisorische Regierung das Konkordat mit Rom am 12. September 1945 gekündigt hatte. Die marxistisch-leninistischen Prinzipien des Rechts galten auch in Polen. Aber die katholische Kirche war nie Teil des polnischen Staates gewesen. Dazu kamen starke charismatische Persönlichkeiten wie Kardinalprimas Stefan Wyszynski und Papst Johannes Paul II. (Karol Wojtyla). Die kirchliche Verfasstheit ist für die Widerstandsfähigkeit gegen die staatliche Religionspolitik also nur ein Faktor unter vielen, auch wenn sie durchaus relevant ist. Wesentlich ist der politische Kontext.
Diese These belegt auch der Vergleich in einem Annex »Die römisch-katholische Kirche in der DDR« (364–387). Anders als die evangelischen Landeskirchen vermied die katholische Kirche die Auseinandersetzung mit dem Staat. Sie war in der DDR kein Kris-tallisationspunkt bürgerrechtlichen Widerstandes. In »pragma-tischer Koexistenz« (377) zog sie sich auf Gottesdienst und Kult zurück. Sie war darum auch weniger Repression als die katholische Kirche in Polen ausgesetzt (383 ff.).
Das Ergebnis ist bündig. Die sozialistische Rechtstheorie sollte sich, im Gegensatz zum bürgerlichen Rechtsbegriff, in der Theorie durch Zweckmäßigkeit und Realismus auszeichnen, in der sozialis- tischen Rechtspraxis waren Relativität, Instrumentalität und Parteilichkeit Kennzeichen. Erodiert sind jedoch in der DDR und in Polen nicht die Religionsgemeinschaften, sondern das sozialistische System. Im Vergleich zeigt sich, dass es angesichts der Pluralität der Landeskirchen keine deutlich erkennbare protestantische Religionspolitik gab, im Unterschied zur katholischen Kirche in Polen und in der DDR. Polen zeichnete sich durch starke Geschlossenheit und charismatische Führer aus. Neben der Rechtslage sind deswegen religionssoziologische Faktizitäten, unterschiedliche re­ligiöse Mentalitäten und das Selbstverständnis der jeweiligen Kirche in Anschlag zu bringen.
V. hat eine eindrucksvolle Studie zum Religionsrecht zwischen 1945 und 1989 vorgelegt. Spannend wäre es nunmehr, die Entwicklung seit 1990 in beiden Ländern vergleichend heranzuziehen. Unter prinzipieller Fragestellung könnte man die anthropologischen Grundlagen von Recht und die Konsequenzen daraus für die staatliche Religionspolitik bedenken.