Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2017

Spalte:

279–281

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Negel, Joachim

Titel/Untertitel:

Welt als Gabe. Hermeneutische Grenzgänge zwischen Theologie und Phänomenologie.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2013. 805 S. = Jerusalemer Theologisches Forum, 26. Kart. EUR 78,00. ISBN 978-3-402-11017-1.

Rezensent:

Philipp Stoellger

Der knapp 800 Seiten umfassende Band des Fundamentaltheologen Joachim Negel aus Fribourg versammelt 15 Aufsätze aus seiner Zeit als Dekan des Theologischen Studienjahres Jerusalem (Dormition Abbey). Da die Dichte und Fülle des Buches schlicht »nicht zu fassen« ist im Rahmen des hier Erlaubten, beschränkt sich die Rezension unbefriedigenderweise auf die programmatische Einleitung, um wenigstens exemplarisch das Gewicht und einige Pointen des Bandes vor Augen zu führen.
Zur Information seien zumindest die Themen der folgenden Beiträge aufgeführt:
»Aufgang von Welt im Gebet«: 2. Kult und Kultur. Zur identitätsstiftenden Kraft von Gebet und Gottesdienst in Judentum, Christentum und Islam (95–114); 3. Welt im Modus des Dativs. Zur Phänomenologie der eucharistischen Gabe bei Jean-Luc Marion und Kenneth L. Schmitz. (Auch ein Beitrag zur Frage nach der Möglichkeit eucharistischer Gastfreundschaft zwischen den Konfessionen) (115–161); 4. Welt transzendieren? Welt transformieren? Überlegungen zu einem Grundproblem der Sakramententheologie (163–191); 5. »Als ob ich gegen eine Wand redete …« Von der Vergeblichkeit des Betens und dem Wunder der Erhörung. Systematischer Umriß einer Theologie des Gebets (193–215).
»Hermeneutik der Offenbarung«: 6. »In een Hoecksken met een Boecksken.« Theologie als Lesekunst (223–258); 7. Zweite Naivität. Begriffsgeschichtliche und systematische Erwägungen zu einem vielbemühten, aber selten verstandenen Konzept (259–288); 8. Christlicher Erlösungsglaube und jüdische Messiaserwartung. Reflexionen über ihr Verhältnis aus Anlaß der revidierten Karfreitagsfürbitte (289–330); 9. »… Quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est«. Die Fraglichkeit des Traditionsarguments. Erwägungen zu möglichen lehramtlichen Entwicklungen am Beispiel der Konzilserklärung »Nos­tra aetate« (331–352); 10. »Gott – inexistent, aber unabweisbar«? Die Religionstheorie Christoph Türckes als Anfrage an die Theologie (353–385).
»Biographische Bewährung«: 11. Theologie und Biographie. Trinitätstheologische Spurenlese eines prekären Verhältnisses (393–556); 12. Martyrium. Zur theologischen Valenz eines verstörenden Phänomens (557–603); 13. Sprachlosigkeit, Erlauschen, Erlauten. Zum Zeugnischarakter der Dichtung Paul Celans (605–616); 14. Erbsünde? Erbgnade? Grundlegung einer Höhenpsychologie als Beitrag zu einer existentiellen Theologie der Gnade (617–647); 15. Was würde fehlen, wenn die Osterhoffnung fehlte? Eine philosophisch-theologische Erkundung (649–748).
Die Einleitung entwirft »Grundlinien liminaler Theologie« (27–89), die sich dezidiert »der Phänomenologie verpflichtet weiß« und zugleich »der hermeneutischen Grenzgängerschaft« (27). Als maßgebenden Sitz im Leben dieses Programms zeichnet der Vf. »Jerusalem« aus, wo die Beiträge entstanden sind, das aber hier als ein theologisch-hermeneutischer Metatopos (oder Utopos?) markiert wird: als Ursprungsort der »umfassendsten Zentralperspektive« und deren »Zersplitterung« (28), die der Vf. in der Pluralität der Monotheismen und deren Friktionen vor Augen führt. Trotzdem habe es der christlichen Theologie ums Ganze zu gehen, mit zentralperspektivischem Anspruch, nur dann sei sie »im Wettstreit um die Wahrheit zugelassen und darf darauf hoffen, in ihm zu obsiegen« (32 – warum nur dann?). In pluralistischen Zeiten werde die Theologie daher als »aporetisches Unterfangen« erscheinen (36, vgl. Jüngel). Wo »Kein Durchkommen! Keine Furt!« sei (37), antwortet der Vf. mit seinem Konzept der »hermeneutischen Grenzgängerschaft« (39 ff.). Biblisch begründet und narrativ verkörpert findet er die in der Figur Moses und des Exodus, die der Vf. als »Dialektik eines ›aktiven Passivs‹« (mit H.-J. Höhn) begreift, »eines Greifens nach dem, was einen längst schon ergriffen hat« (41, geht dann ein mere passive voraus?).
»Hermeneutik« konzipiert der Vf. auf diesem Hintergrund erstens mit Bultmann als subtilitas intelligendi, zweitens als subtilitas applicandi, und drittens nicht als subtilitas explicandi, sondern als »Hermeneutik vor der Hermeneutik« (44), die Umgang suche und finde mit der skizzierten Aporie. Die »Urfrage« laute »Wie eigentlich kommt es zur Erfahrung eines Vertrauten im Un­vertrauten. Wie werden Namen für das Unnennbare gefunden? Wie erklärt sich einem Menschen das Unerklärliche, das ihn umgibt?« (44; hier hätte ein konfessioneller Grenzgang zur ›Hermeneutik der Religion‹ und zu den Fragen einer Hermeneutik der Differenz sowie des Nichtverstehens einen Seitengänger finden können, vgl. 50). Seine »Hermeneutik vor der Hermeneutik« entfaltet der Vf. als Hermeneutik der Offenbarung (45–58). Gegenüber dem üblichen Einwand, das Unbedingte könne im Bedingten nicht als Unbedingtes erscheinen oder nur verfälscht als Bedingtes, in-sistiert der Vf. auf die starke »Differenz« von Gott und Welt. »Sein verfremdend-gewährter Aufgang ereignet sich niemals direkt, sondern immer nur auf den verschlungenen Pfaden von Widerfahrnis und Deutung« (46, dito. hätte ein konfessioneller Grenzgang Seitengänger entdecken können), die er als »vermittelte Unmittelbarkeit« zu begreifen vorschlägt (vgl. den Beitrag zur »zweiten Nai-vität«, 259 ff.). Das führt er im Gespräch mit Richard Schaefflers Erfahrungstheorie näher aus (48 ff.), um religiöse Erschließungserfahrungen als Horizontveränderung zu präzisieren. Führt die religiöse Erfahrung an die Grenzen unserer Erfahrungsfähigkeit, führt der Vf. (mit Husserl und Schaeffler) die »Originäre Gegebenheit« als erfahrungskonstitutive Form von Erfahrung ein, in der Gott offenbar wird. »Gottes Wort wird uns immer nur im Medium unserer eigenen Antwort vernehmbar«, lautet die vielleicht »responsorisch« zu nennende Antwort des Vf.s (57, die Medienfrage wäre weiterführend). Eine dementsprechende Form der Vernunft findet der Vf. in W. Welschs Konzept der transversalen Vernunft, die als »hermeneutisches Vermögen der Theologie« aufgenommen und weitergeführt wird (61 ff.).
Auch wenn man Rückfragen gegenüber der transzendentaltheoretischen Anlage (Schaeffler) und der transversalen Weiterführung (Welsch) anmelden kann, liegt die Pointe im Gebrauch, den der Vf. von beiden macht, etwa indem er das quo maius cogitari nequit als formalen Rahmen der Transversalität einführt (65 f.). Wenn damit aber die transversale Vernunft ihre »transzendental-ontologische Rahmung« findet, ohne die sie »in sich selber zusammensacken muß« (65), fragt sich womöglich, ob damit nicht die Situation der Aporie als immer schon überwunden gilt und die Figur der Grenzgängerschaft ins Offene als immer schon umfangen und gesichert erscheint. Wird hier die liminale Labilität der Theologie überkompensiert durch eine Stabilisierung, über die hinaus eine größere nicht gedacht werden kann (oder die gar größer wird, als dass sie noch gedacht werden könnte)? Solch eine latente Ambivalenz setzt sich fort, wenn der Vf. schließlich »Theologie als phänomenologische Fragekunst« entfaltet (69 ff.) – und für sein Phänomenologieverständnis maßgebend auf Hegel rekurriert (vgl. zu Picht und Gadamer, 233 ff.). »Angezielt ist in dieser Art des Denkens [Hegels oder des Vf.s?] […] eine Verwandlung des Subjekts, das sich gewinnt, indem es sich von seinem Gegenstand infrage stellen läßt […]« (74, vgl. 54 mit Röm 12,2). Dem Zug zur immer noch größeren Stabilisierung des Subjekts in dieser Verwandlung steht der Rekurs auf Vattimo entgegen, dessen schwaches Denken vom Vf. als »Überbietung von Nietzsche, Heidegger und Gadamer (und wohl auch Lévinas)« aufgefasst wird (75). Bei noch so großer Ohnmacht also eine immer noch größere Macht? Oder mit dem Vf. formuliert: »Das Machtvolle eines solchen ›schwachen Denkens‹ liegt denn auch in seiner Fähigkeit, anderes als es selbst gelten lassen zu können« (ebd.). So stark diese Schwäche dann wäre – ist sie doch Ermächtigung des Anderen –, wäre der doch ›nur‹ von Gnaden ebendieser schwachen Stärke. Gilt diese Ermächtigungsdialektik für Gottes Weltverhältnis oder auch als Modell der hermeneutischen Theologie? Jedenfalls konzipiert der Vf. sein Theologieverständnis in diesem Sinne und ruft als Zeugen u. a. Marion, Merleau-Ponty, Schmitz, Waldenfels, Henry, Lacoste, Ricœur, Gadamer und Picht auf (79).
Sein eigenes Programm setzt der Vf. schließlich auch der kritischen Revision aus, um die »Stärken und Schwächen hermeneutischer Phänomenologie« auszuloten, die er mit der Spannung »Imaginative Prägnanz vs. analytische Präzision« beschreibt (79 ff.; ist hier dieselbe ›Schwäche‹ gemeint wie im affirmativen Rekurs auf Vattimo?). Er argumentiert gegen den Verzicht auf »jede Zentralperspektive«, »auf die Autorität der Tradition« (vgl. 331 ff.) und »die Möglichkeit einer Wahrheitsfindung« (81). Dem setzt er die Titelformulierung entgegen, die »Welt als Gabe« zu verstehen unter dem Regulativ »verum […] quod/quia datum« (85), auch wenn die Differenz von Gabe und Gemachtem wie Tausch noch differenzierungsfähig bleibt (vgl. dazu 3. Welt im Modus des Dativs, im Anschluss an K. L. Schmitz und J.-L. Marion, 115 ff.). Bei aller Differenz der Perspektiven und Horizonte lassen sich hier interkonfessionell vielerlei Chiasmen entdecken und künftig weiterentwickeln.