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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

276–279

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Nachtwei, Gerhard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Hoffnung auf Vollendung. Zur Eschatologie von Joseph Ratzinger.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2015. 288 S. = Ratzinger-Studien, 8. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-7917-2732-5.

Rezensent:

Gunther Wenz

Der Mensch ist eine psychosomatische Differenzeinheit, welcher im Geist der Grund ihrer selbst und ihres Daseins in der Welt gegeben ist. Diesem anthropologischen Grundsatz entspricht – wenn diesbezüglich überhaupt von Entsprechung die Rede sein kann – die Bestimmung des menschlichen Todes als einer vorläufigen Trennung von Leib und Seele, die kraft des Geistes darauf angelegt ist, am Jüngsten Tag, wenn Menschheits- und Weltgeschichte enden und endgültig das Reich Gottes anbricht, definitiv behoben zu werden. Ausnahmslos jeder Mensch wird dann als Ganzer mitsamt seiner individuellen – sozial- und universalgeschichtlich ge­prägten – Lebensgeschichte seinem eschatologischen Endgeschick zugeführt werden, für das die richtende und rechtfertigende Ge­rechtigkeit Gottes entscheidend ist. Der Seele nach bereits im Todesaugenblick antizipiert wird Gottes absoluter Rechtsspruch am Ende der Zeiten in Bezug auf den mit seiner Seele wiedervereinigten Leib ratifiziert. In der, wenn man so will, Interimszeit zwischen dem Moment individuellen Abscheidens von der Welt und dem universalen Weltende greifen Zwischenlösungen wie insbesondere diejenige des Purgatoriums, in dem die im Prinzip bereits Gerechtfertigten so lange zu verbleiben haben, bis die Vollkommenheit hindernde Defizienz ihrer lässlichen Sünden bereinigt und die reine Seligkeit bei Gott für sie angebrochen ist. Mit der Hölle ewiger Verdammnis ist das Fegfeuer nicht zu verwechseln. Denn es ist kein Ort letzten Unheils, sondern zuletzt um der endgültigen Heiligung derer willen da, die zwar bereits definitiv für das ewige Heil vorgesehen, seiner aber noch nicht derart vollkommen teilhaftig sind wie beispielsweise Maria, die ob ihrer – im gottmenschlichen Sohn gegründeten – Sündlosigkeit und Unschuld nach vollzogener Entschlafung unmittelbar mit Seele und Leib in den Himmel aufgenommen worden ist.
Ungefähr so stellen sich die traditionellen Rahmenbedingungen dar, innerhalb derer Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. seine Eschatologie entwickelt hat, deren Deutung Thema des vorliegenden Sammelbandes ist. Er dokumentiert ein einschlägiges Erfurter Symposion. Die wichtigsten Referenztexte liegen mit dem zehnten Band der Gesammelten Schriften Ratzingers vor: Auferstehung und ewiges Leben. Beiträge zur Eschatologie und zur Theologie der Hoffnung, Freiburg 2012. Was die Genese von Ratzingers Lehre »De novissimis« betrifft, so sei auf Nachtweis Dissertation »Dialogische Unsterblichkeit. Eine Untersuchung zu Joseph Ratzingers Eschatologie und Theologie« verwiesen, die 1986 in Leipzig erschienen ist. Auf ihre Ergebnisse greift Gerhard Nachtwei in seinem Einführungsbeitrag zurück, indem er die trinitätstheologisch begrün-dete Überwindung eines subjektivistisch-monologischen Person- und Seinsverständnisses zugunsten eines dialogischen Personalismus sowie einer relationalen Ontologie als Möglichkeitsbedingung und Basis der Ratzinger’schen Eschatologie zu erweisen sucht.
Der fundamentaltheologischen Grundlegung dienen auch die beiden Folgebeiträge des ersten Teils des Sammelbandes (Geschichte: In Gegenwart und Zukunft): J. L. C. Quy analysiert Ratzingers antidualistisches Verständnis von Zeit und Ewigkeit, L. Weimer die Baugesetze seiner Geschichtstheologie, die ganz vom Konzept einer entschieden präsentischen Eschatologie bestimmt sei, wie beispielsweise der Neutestamentler Charles Harold Dodd (»realized escha-tology«) sie vertreten habe. Während man an dieser Stelle Fragezeichen anbringen kann, sind die Bemerkungen von M. C. Hastetter zu Pilgermotiven fraglos richtig und unproblematisch, ohne freilich zur materialen Mitte von Ratzingers Eschatologie vorzudringen. Dies wird erst von den Beiträgen im zweiten Teil des Sammelbandes (Seele: Zentraler Begriff der Eschatologie) geleistet, die auf die eine oder andere Weise um den eschatologischen Seelenbegriff kreisen, um von dort her den Gesamtzusammenhang der Ratzinger’schen Lehre von den Letzten Dingen zu erschließen. Besonders gut gelingt dies dem Augsburger Dogmatiker Th. Marschler, der keinen werkgenealogischen, sondern einen streng systematischen Zugang wählt; erst sein Beitrag schafft die für eine weiterführende Diskussion nö-tige begriffliche und argumentative Klarheit.
Marschler rekonstruiert Ratzingers Lehre »dialogischer Unsterblichkeit« anhand folgender Aussagensequenz: Obwohl genuin theologisch fundiert und nicht etwa Ergebnis eines streng philosophischen Beweises, kann sich die aus dem biblischen Gottesglauben hervorgehende Annahme einer Fortexistenz des Menschen über den Tod hinaus der Notwendigkeit einer Einsicht in ihre ontologischen Prämissen nicht verschließen. »Die ›Seele‹ als Inbegriff der wesensbestimmenden dynamischen Relation zu Gott ist in dieser Perspektive für den Menschen als unverlierbar und ›substantiell‹ anzusehen. In eschatologischer Hinsicht ist sie dasjenige Bestimmungsmoment, das die Fortexistenz des Menschen über den Tod hinaus ermöglicht.« (105) Bleibt zu fragen, was man präzise unter einem postmortale Fortexistenz ermöglichenden Bestimmungsmoment von unverlierbarer »Substantialität« zu verstehen hat. Diese Frage wird umso dringlicher, als Ratzinger die postmortale Seele nicht eigentlich als anima separata denken, sondern an ihrem konstitutiven Leibbezug festhalten will, der unveräußerlich zu ihrer Wesensnatur gehöre. Nach Marschler versucht er das diesbezügliche Problem folgendermaßen zu lösen: »Der Verlust des eigenen Leibes im Tod vor der vollen Wiederherstellung des Menschseins in der Auferweckung wird für die Seele im Zwischenzustand durch ihre Beziehung zum ›Leib Christi‹ (verstanden in seiner christologisch-ekklesiologischen Dimension) überbrückt, so dass eine gänzlich leiblose anima separata nicht anzunehmen ist.« (112)
Für die Organisation des traditionellen Lehrstoffs der Eschatologie und seine konstruktive Aufbereitung kommt dieser Vermittlungsidee eine Schlüsselfunktion zu. Sie erlaubt es Ratzinger, sowohl die Trennung der die individuelle Existenz in ihrer Selbigkeit postmortal gewährleistenden Seele von Leibhaftigkeit, sei es des eigenen Leibes, der leibhaften Welt bzw. des Leibes Christi, der zu sein die Kirche bestimmt ist, als auch die unmittelbare Gleichschaltung individueller und universaler Eschatologie durch die von ihm zu Zeiten vehement bekämpfte These einer Auferstehung im Tode zu vermeiden. An der Tragfähigkeit dieses Konzepts, wonach die Seelen der im Herrn Verschiedenen in der Gemeinschaft seines chris­tologisch-ekklesiologisch-kosmisch verfassten Leibes ihrer noch ausstehenden Vollendung und der mit dieser verbundenen Reinte gration leibhafter Lebensgeschichte entgegensehen, hängt nicht we­niger als die Stimmigkeit der eschatologischen Gesamtkonstruktion inklusive der von Marschler zur Ratzinger’schen Eschatologie vorgetragenen Abschlussthese: »Die durch den Seelenbegriff ermöglichte Annahme eines ›Zwischenzustands‹ nach dem Tod und vor der Auferweckung sichert die fortdauernde Beziehung zwischen dem Existenzmodus der Verstorbenen und der fortlaufenden irdischen Geschichte und wehrt eine spiritualistische Verkürzung der christlichen Vollendungshoffnung ab.« (115)
Auf gedankliche Schwierigkeiten, die sich mit Ratzingers multidimensionalem Begriff eschatologischer Leiblichkeit verbinden, hat Marschler in einigen syste-matischen Abschlussbemerkungen seines Beitrags ausdrücklich hingewiesen. Um sie zu beheben, kommt man seiner Meinung nach »am Bekenntnis zum Dualismus in einem grundlegenden philosophischen Sinn und der anima separata-These nicht vorbei« (124). Ob damit nicht mehr Probleme geschaffen als gelöst werden, ist eine andere Frage. Ihre ökumenische Relevanz hebt Chr. Gestrich in seinem Beitrag zu Ratzingers Hoffnungslehre und seiner Kritik an der zeitgenössischen Eschatologie, insbesondere an ihren Defiziten bei der Lehre von der Seele, mit guten Gründen hervor. Mit Recht insistiert er unter Berufung auf Thomas, dessen Auferstehungsrealismus M. Stickelbroeck eine spezielle Studie gewidmet hat, auf den »passageren und der Ordnung nicht entsprechenden Charakter« (131) der sogenannten anima separata. Zugleich unterstreicht er die Bedeutung des Gedankens, »dass die entschlafenen Christen bzw. ihre Seelen am Leib des auferstandenen, in den Himmel emporgehobenen Christus bis zum Jüngsten Tag subsistieren« (132). Ob die »Ausständigkeit der Vollendung« (ebd.) im Wesentlichen hamartiologisch oder auch anderweitig bedingt ist, wäre ebenso weiterer Erörterungen wert wie Gestrichs These, derzufolge Ratzingers Eschatologie mit Grundlinien von Luthers Lehre von den Letzten Dingen konvergiert (vgl. 140 etc.).
Stellen W. Teifkes Erwägungen zur sogenannten Memoria-Zeit einen weiteren Beitrag zur eschatologischen Grundlagendebatte und zu den materialdogmatischen Zentralbeständen der Lehre »De novissimis« dar, so sind die im dritten Teil des Bandes (Erlösung: Zwischen Utopie und Hoffnung) gesammelten Texte sehr viel allgemeiner gehalten, ohne deshalb uninteressant zu sein. S. Wiedenhofer entfaltet breit Ratzingers Auseinandersetzung mit politischer Theologie und Befreiungstheologie, V. Neumann greift das Thema unter dem Gesichtspunkt der Ideologiekritik erneut auf, bis schließlich J. Kreiml die Enzyklika von Benedikt XVI. aus dem Jahr 2007 über die christliche Hoffnung »Spe salvi« als reife Frucht eines langen Denkwegs vorstellt. Ihn und seine Ergebnisse anhand der in JRGS 10 vereinten Texte des Theologenpapstes eigenständig nachzuverfolgen, besteht für Vertreter aller Konfessionen Anlass und guter Grund.
Mag der eine oder andre Aufsatz des vorliegenden Sammelbandes der Bedeutung des zur Verhandlung anstehenden Gegenstandes nur bedingt entsprechen, die Eschatologie Ratzingers selbst ist derart gehaltvoll, dass sie unbedingt studiert werden sollte, auch von evangelischen Theologinnen und Theologen.