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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

267–268

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sziede, Maren, u. Helmut Zander[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Von der Dämonologie zum Unbewussten. Die Transformation der Anthropologie um 1800.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter (Oldenbourg) 2014. XXII, 300 S. m. 7 Abb. = Okkulte Moderne, 1. Geb. EUR 54,95. ISBN 978-3-11-037981-5.

Rezensent:

Walter Sparn

Dieser Band eröffnet eine neue Buchreihe (vorgestellt XXI f.), die nichts weniger als »ein neues Kapitel der okzidentalen Religionsgeschichte« (XI) der Moderne aufschlagen will. Seine gegen die herrschende Historiographie (und ihre Definition von Hegemonia-lität) auftretende These ist, dass die Wissensproduktion auch nichthegemonialer Gruppen – Esoteriker, Okkultisten, Spiritisten, Mag­netisten, Geistheiler – gesellschaftliche Innovation ermöglichten oder realisierten; unterlaufen wird damit die bloß abstrakte Alternative von »Aufklärung« und »Gegenaufklärung«. Die Beiträge des Bandes stellen Ergebnisse eines DFG-Projektes dar, das jene These auf dem Feld der sogenannten okkulten Phänomene seit 1770 erprobte; dabei hat sich der Mesmerismus als synchron und diachron besonders ergiebiger Forschungsgegenstand herausgestellt.
Die Herausgeber, die wie auch einige der Beiträger in Fribourg tätig sind, erläutern einleitend (VII–XVI), dass die Transforma-tion der Anthropologie den Raum der Psyche als »Grenzobjekt« konstituiere, in dem externe (»dämonologische«) Faktoren an Plausibilität verloren hätten gegenüber internen (»psychologi­sche«) Faktoren – dies aber nicht in einer Ablösung des Veralteten durch Neues, sondern als je neue Konstellation der religiösen und der wissenschaftlichen Erklärungsmuster. So tritt an die Stelle einer normativ teleologischen Darstellung der »Entdeckung des Unbewussten«, wie sie noch H. Ellenbergs Klassiker (1970) war, eine bescheidenere, rezeptions- und kontinuitätssensible Wissens­geschichte in den »osmotischen« Beziehungen von Theorie und Praxis (XV f.).
Christian Kassung eröffnet die »Kartierung« des Geländes mit »Übertragungen zwischen Physik und Okkultismus« im Zuge der Erforschung der (instantan fernwirkenden) Elektrizität im 18. Jh.: Geister haben nun ein physikalisches Wirkmedium. Im elektromagnetischen Feld des 19. Jh.s lösen sie sich von der Bindung an bestimmte Kräfte und an ein vermittelndes Fluidum – eine Immanentisierung, in der sich hegemoniales und nichthegemoniales Wissen neu verbanden (»Selbstschreiber und elektrische Gespens­ter«, 1–20). Friedemann Stengel geht, nicht weniger weiträumig, dem verwickelten Zusammenhang der Rede von Geistern, Seelen und Fluida in der »Aufgeklärte(n) Dämonologie« E. Swedenborgs und bei seinen Rezipienten in Frankreich, Deutschland und den USA nach (21–46). Obwohl Swedenborg die Geister aus der Physik verbannte, wurde die (ihm offenbarte!) Geisterlehre popularisiert und mit mesmeristischen und somnambulistischen Praktiken kombiniert – eine der Wurzeln des Spiritismus des 19. Jh.s. In einem quellenmäßig leichter zugänglichen Bereich, der seit 1774 debattierten Konfrontation des Heilens mittels animalischem Magnetismus mit exorzistischer Praktik, widerspricht Karl Baier der gängigen Kontrastierung des »Aufklärers« F. Mesmer mit dem »antiaufklärerischen« Priester J. Gassner: Psychologische Innovation liegt bei Letzterem! Aber auch die Praxis Mesmers und seiner Schüler stehe für Transformation, wie Maren Sziede meint: Die Annahme eines kosmisch-fluidalen Übertragungsmediums zog die Idee eines individuellen »inneren« oder »sechsten« Sinnes nach sich – ein Schritt hin zur Idee des Unbewussten (»Jenseits der fünf Sinne«, 85–108). Der praktischen Hand- und Augenarbeit der mesmeristischen Magnetiseure, speziell dem 1784 vom Marquis de Puységur entdeckten somnambulen Verfahren, wendet sich Tilman Hannemann zu. Auch er stellt fest, dass die Beziehungen zwischen öffentlicher, naturwissenschaftlicher Medizin und privatem religiösem Spiritismus so intensiv wie komplex waren (»Konzepte und Praxis des Somnambulismus zwischen 1784 und 1812«, 109–131). Dass es sich bei den Magnetiseuren stets um Männer, bei den Patienten mehrheitlich um Frauen, und zwar auch heilerische und hellseherische handelte, thematisiert Nicole Edelman an Fällen in Frankreich (»Les liens entre magnétiseurs et somnambules magnétiques [1784 – années 1840«], 133–148).
Komplex ist auch die Konstellation von »Mesmerismus und Transzendentalphilosophie«, die Jean-Claude Wolf im idealtypisch-kursorischen Kontrast von Skepsis und Romantik vorstellt (149–166): Wie I. Kants Kritik am rationalen Schein von Erkenntnis auch auf die Rettung der Phänomene Moral und Religion ziele, so schließe die »fiktionalistische« Ergänzung der Transzendentalphilosophie (seit Schelling und Schopenhauer) die Rettung der okkulten Phänomene ein.
Zwei weitere Essays wenden sich der Transformation der Figur der Hexe zu, Kathrin Utz Tremp anlässlich »Muhlers Hexe« aus dem Kanton Fribourg, speziell der Fortbildung der realen Prozesshexe zu der (nicht mehr der Teufelsbuhlschaft bezichtigten, jedoch selber als »Teufelin« verantwortlichen) Sagenhexe seit 1800 (167–181). Den Wandel des konfessionell differenzierten Hexereidiskurses um 1800 durch religiöse, juristische und medizinische, also immanente Deutungen thematisiert Johannes Dillinger – aber auch er stellt »Kontinuitäten im Umbruch« fest (183–201). In ein anderes hermeneutisches Genre wechselt die Analyse der (Nicht-)Rezeption der anspruchsvollen, jedoch Wissenschaft und Wundergeschichten poetisch vermengenden »Christliche(n) Mystik« von Josef Görres (1836–1842) – schon früh hatte Jean Paul »Görres’ Lehrgebäude auf [dem] Musenberg« deplatziert gefunden; die (neuscholastisch induzierte) Verdrängungsgeschichte dauert noch an ( Martina Neumeyer, 203–232).
Die Vielschichtigkeit von Innovation zeigen wieder die Versuche der empirisch gemeinten Psychologie im 19. Jh., sich vom re-ligionsverdächtigen Mesmerismus und seinem Handauflegen abzugrenzen (hier wird auch auf Justinus Kerner und Christoph Blumhardt referiert) und die Hypnose als einen Weg strikt wis-senschaftlicher Psychotherapie zu etablieren – ein neues, zwischen Ärzten und Laien strittiges Feld (Stephanie Gripentrog, 233–253). Sabine Haupt schließt mit einer Analyse des literarischen Mesmerismus als ›missing link‹ zwischen der traditionell-religiösen Inspiration und romantischen, tendenziell pantheistischen Theorien künstlerischer Kreativität, beginnend mit E. T. A. Hofmann (»Vom ›Genius‹ zum ›versteckten Poeten‹«, 255–287).
Diese Exploration eines abgeschatteten religions- und wissensgeschichtlichen Geländes des Westens (nicht bloß »um 1800«, nicht bloß deutsch) ist ein großer Gewinn. Sie liest sich nicht immer leicht, schon weil sie die Ambition einer neuen Meistererzählung vermeidet (vgl. die Charakteristiken der Beiträge in der Einleitung, XVI–XX). Gelegentlich irritiert mangelnde Lektorierung. So tauchen Jahreszahlen von Erstpublikationen oft erst in den angefügten Bibliographien auf, diese sind außerdem nicht abgeglichen; der ausdrücklich korrigierte und im Namenregister richtig notierte Vorname des Marquis de Puységur wird meist falsch angegeben, einmal sind es gar Brüder. Für Theologen nennt das Buch viele Namen und Vorgänge, die eigentlich in ihr Gedächtnis gehören, oder platziert sie in vergessene Kontexte, wie J. S. Semler oder J. C. Lavater. Nicht zuletzt erinnert es daran, dass ihr Fach lange Zeit nicht nur mit der Philosophie, sondern auch mit der Medizin korreliert existierte. Es hilft ihrer »offenbarungstheologisch« lässlichen religions- und kulturgeschichtlichen Amnesie ein Stück weit auf.