Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2017

Spalte:

265–266

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schüßler, Werner, u. Marc Röbel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Liebe – mehr als ein Gefühl. Philosophie – Theologie – Einzelwissenschaften.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2016. 442 S. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-506-78513-8.

Rezensent:

Lukas Ohly

Ein Buch über Liebe kann natürlich »das Thema in keiner Weise erschöpfend behandeln« (13). Der Rezensent kann es nur kritisch würdigen in dem »Überblick« (ebd.), den es vermittelt. Die drei Leitperspektiven, die im Untertitel versprochen werden, setzen dabei unterschiedliche Akzente: Während der erste Teil einzelne Autoren der Philosophiegeschichte darstellt, für die man leicht Alternativen hätte finden können, versuchen die beiden übrigen Teile eher re­präsentative Informationen aus ihren jeweiligen Fachgebieten weiterzugeben. Der Band einer Tagung der Katholischen Akademie Stapelfeld enthält zwar im theologischen Teil keine evangelische Perspektive – Paul Tillich wird im ersten, philosophischen Teil verhandelt (23–31). Zumindest in den exegetischen Beiträgen von Renate Brandscheidt und Hans-Georg Gradl werden aber auch evangelische Forscher aufgenommen, und Johannes Schelhas be­tont die ökumenische Perspektive, vor allem in Akzeptanz der Theologie der Rechtfertigung (224). Weitgehend vermittelt der Band Allgemeinwissen.
Dabei entscheidet er sich nicht, welche Liebe im Fokus steht. Es geht um Elternliebe (324), Freundschaft (236 f.), Nächstenliebe (252 ff.), Liebe als Bindung (322.396), zu Gott (41) oder Gottes Liebe zum Menschen (236). Fast in jedem Beitrag wird auch die erotische Liebe berücksichtigt; vor allem in den einzelwissenschaftlichen Darstellungen verstärkt sich der Blickwinkel darauf. Dennoch wird Liebe weniger über Formen unterschieden als über Wertungen: Eine »ehrliche und unschuldige« (Gradl, 211), »echte« Liebe ( Mirijam Scheidt, 273), »Liebe im Vollsinn« (Johannes Brantl, 236) oder »rechte Einheit« (Papst Benedikt XVI. im Beitrag Brantls, 239) wird von angeblichen Gegenmustern abgegrenzt, von Menschen, die nur »meinen zu lieben« (Scheidt, 277), oder von einer erotischen Liebe, »soweit im Genießenwollen des Anderen eine Instrumentalisierung steckt« (Hans-Joachim Werner, 94; ähnlich auch Verena Mayer, 112, oder die Herausgeber, 11). So sehr daher eine ethische Liebe zum Thema gemacht wird, so sehr überrascht, dass kaum explizite ethische Beiträge zu finden sind (am ehesten von Ange-lika Krebs, 128–134; ferner kurze Passagen 78.112.421). In humanwissenschaftlichen Beiträgen finden sich darüber hinaus Einsprüche gegen eine Relativierung der erotischen Liebe: Elisabeth Grözinger erwartet durch die Entkopplung von Sexualität und Liebe (ähnlich Alois Hahn, 357) »vielleicht auch die Chance, gerade die Seite der Liebe nüchterner […] zu gestalten« (328). Auch Krebs rechnet die erotische Liebe »zum Kernbestand eines jeden guten menschlichen Lebens« (115) dazu und weitet sie sogar auf Freundschaften aus (122).
Im philosophischen Teil fällt eine Ontologisierung von Liebe auf (Werner Schüßler, 17), sie wird etwa bei Martin Buber mit dem »ontologischen Begriff des ›Zwischen‹« (Werner, 74) gefasst oder beschreibt eine »Wesenshaltung« (Werner, 80). Bei Max Scheler wird sie zu einer »Dimension der Wirklichkeit« (Marc Röbel, 59). Eine solche ontologische oder kosmologische (Schüßler, 17; Röbel, 50) Qualität der Liebe wird evolutionsbiologisch und neurowissenschaftlich flankiert: Zwischen Tieren und Menschen besteht keine we­sentliche Differenz in der Entstehung von Bindung (An­dreas Bartels, 412), und Sexualität erhöht gegenüber asexueller Reproduktion die Variabilität und damit die Anpassungsfähigkeit an eine sich stark verändernde Umwelt (Susanne F. Schmehl/Elisabeth Oberzaucher, 376). Leider stellt der Band die Beiträge aus den unterschiedlichen Disziplinen weitgehend unverbunden nebeneinander, sonst hätte ihm nicht nur eine positivere Einschätzung von Erotik und Sexualität aus ontologischen oder schöpfungstheologischen Gründen gelingen können, ohne sich auf Reproduktion zu reduzieren. Vielmehr hätten auch ontologische und evolutionstheoretische Modelle komplementär verarbeitet werden können.
Wie positioniert sich die Theologie in diesem ontologischen Einfluss der Liebe? Es fällt auf, dass schöpfungstheologische Entsprechungen vor allem im philosophischen Teil zu finden sind, der ohnehin weitgehend Religionsphilosophen referiert. In religiöser Hinsicht ist Liebe ein Widerfahrnis: »›Agape‹, schreibt Tillich, ›ist Liebe, die in die Liebe einbricht‹« (Schüßler, 29; Herv. i. O.), sie »er­weckt« (35; Herv. i. O.) zu einer tieferen Kommunikation; sie ist »auferlegtes Schicksal« (Mayer, 111) und hat damit offenbarungstheo-logischen Charakter (vgl. Gradl, 199). Zugleich könnte man ihr Auftreten als Menschwerdung des Göttlichen verstehen: Mit Karl Jaspers kann Liebe nicht »ohne Medien des relevanten Weltdaseins« existenziell bleiben (Schüßler, 36). Insbesondere zeigen diese Me­dien auf gegenständliche Weise die Ungegenständlichkeit Gottes: »Gott wird gegenstandsloser Gegenstand der Liebe […] Auch die Liebe zu Gott nimmt diese Form an, während ihr Gegenstand ständig verschwindet« (41). Röbel beschreibt einen Musikliebhaber, der nicht nur eine »Aneinanderreihung von Tönen erlebt. Er hört noch etwas Anderes darin« (61). Eine solche Offenbarung des Ungegenständlichen im Gegenständlichen charakterisiert etwa die »anthropologische Wende« bei Max Scheler (50).
Dagegen bleiben schöpfungstheologische Beschreibungen der Liebe im theologischen Teil hinter anthropologischen oder sogar appellativen Verortungen der Liebe zurück. »Christen müssen zuerst sich darum sorgen und mühen, dass sie selbst Liebe praktizieren« (Schelhas, 231). Zur Vereinigung mit Gott muss der Mensch »bereit« (Scheidt, 293) sein. Dem entspricht eine Vorbild-Christologie (ebd.; Brantl, 244). Einer Nachfolgetheologie wird ein ganzer Beitrag gewidmet: Alexandra Pleshoyano beschreibt Leben und Werk des Holocaust-Opfers Etty Hillesum (249 ff.). Gott erscheint im theologischen Teil eher als Gehilfe denn als Begründer der Liebe: Auch wenn »sakramental geschlossene Ehen scheitern« können (Brantl, 242), können Menschen im Sakrament der Ehe »auf das helfende Mitsein Gottes bauen« (ebd.).
Etliche ethisch schwergewichtige Aussagen tauchen en passant und unversehens auf, so etwa der Vorzug der heterosexuellen Liebe (Werner im Anschluss an Buber, 77; homosexuelle Partnerschaften werden im Band nicht behandelt). Angeblich könne man »nicht gleichzeitig viele Personen lieben. Wer dies versucht, wird scheitern« (Krebs, 133). Das kann man allenfalls von der erotischen Liebe sagen, und selbst hier ist diese Aussage inzwischen begründungsbedürftig, wenn sich doch die Partnerwahl zunehmend von Reproduktion unabhängig machen kann. Denn: »Die Ehen und die zunehmend mit ihr konkurrierenden Alternativen sind Freizeitveranstaltungen geworden« (Hahn, 362). Die ethischen Auswirkungen auf die erotische Liebe bleiben undiskutiert.
Es hätte diesem Buch gut angestanden, wenn die Fälle des Kindesmissbrauchs in katholischen Einrichtungen ausdrücklich be­handelt worden wären. Manches kann man als implizite Stellungnahmen dazu verstehen: »Sexualität und damit Eros kann und darf kein Bestandteil von Erziehung sein« (Reinhard Uhle, 309). Ist der Grundzug des Bandes damit berechtigt, den Eros einer Instrumentalisierung zu verdächtigen? Zwar gibt es keine Liebe ohne Aggression (Schmehl/Oberzaucher, 374), und Zahlen zum Kindesmissbrauch (Grözinger, 339) erschrecken. Die Frage bleibt aber offen, ob die Gefahr des Eros im Eros liegt oder in seiner Instrumentalisierung durch Gewalt.