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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

260–262

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rüttenauer, Alban

Titel/Untertitel:

Schelling und die Bibel. Philosophie und Exegese im Gespräch.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2015. 335 S. = Theologie im Dialog, 14. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-451-31329-5.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Mit dieser Monographie legt Alban Rüttenauer eine eingehende Studie zu Friedrich Wilhelm Schellings Spätwerk vor, in dem sich der Philosoph mit der Bibel auseinandersetzt. Die Studie, von R. im Vorwort mit einer Art Bescheidenheitstopos als »unreifes Buch« bezeichnet, stellt Schellings Methode der Analyse biblischer Texte in den Rahmen der historisch-kritischen Erforschung der Bibel.
R. zeigt auf, dass Schelling sich vor allem »der Beschreibung des Werde- und Entstehungsprozesses biblischer Texte verpflichtet« weiß. Dabei opponiert Schelling gegen die Literarkritik als zu einseitigen Ansatz. Der Philosoph geht bei seiner Analyse zu sehr in die Tiefe, um nur literarisch fixierte Texte zum Vergleich heranzuziehen. Ein kollektives, nach Schelling angeborenes Menschheitsbewusstsein wird zum Träger aller religiösen Ideen, die in ihrer ursprünglichsten Gestalt als Mythen erzählt werden. Insofern alle religiösen Ideen in einem inneren Zusammenhang stehen, ist eine Beschäftigung mit den Naturreligionen für Schelling auch nötig, um das Christentum als Religion, die von den Mythen befreien will, zu verstehen. So stellt R. die Integration des »Konkret-Ge­schichtlichen« in die »abstrakt-philosophische Reflexion« als Hauptanliegen Schellings in seiner Spätphase dar. Für Schelling ergibt sich daher auch eine neue Bewertung des Alten Testaments und seines Zusammenhangs mit dem Neuen Testament als Konsequenz der philosophisch gebotenen Sicht auf das Ganze, wobei er auf exegetische »Spitzfindigkeiten« – so R. – nicht eingeht. Gemäß diesem Ansatz setzt R. ein mit grundsätzlichen Hinweisen zur Spätphilosophie Schellings, wobei besonders der Abschnitt »Die gottsetzenden Potenzen und ihre Bedeutung« für die folgenden sich im engeren Sinne mit der Bibel auseinandersetzenden Ausführungen grundlegend ist. Mithilfe des Begriffs der Potenz ge­langt Schelling »zu einer lebendigen Verbindung zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen«. Die Potenzlehre ist mithin – so R. – »nichts anderes als die Erneuerung des alten Versuchs, Einheit und Vielfalt zusammenzubringen.« Sie wird zum Hilfsmittel, Be­sonderheiten einzelner Mythologien auf der Grundlage aller My­thologien herauszuarbeiten.
Das Verhältnis von negativer und positiver Philosophie sowie deren Beziehung zur Theologie und dem Begriff der Offenbarung bilden dann den Hintergrund für die Entfaltung der evolutiven Ethnologie bei Schelling. Dabei wird Schellings idealistischer Ansatz darin sichtbar, dass er die realistische Zuordnung zwischen Volkszugehörigkeit und Göttervorstellung umkehrt und die »vorgängige religiöse Einstellung« über die Volkszugehörigkeit entscheidend sein lässt. So wird das religiöse Bewusstsein ausschlaggebend für den jeweiligen Volkscharakter, wird geistige Kraft hö­her bewertet als genetischer Zufall. Erst von diesem Ansatz aus gelangt der Philosoph zu einer Entstehungsgeschichte der Völker.
Vor diesem theoretischen Hintergrund entwickelt R. in Teil B der Monographie unter der Überschrift »mythologische Spuren in der hebräischen Bibel« seine Analyse der exegetischen Betrachtungen Schellings. Er beginnt mit den spezifischen Auslegungen Schellings zu Gen 11. Dabei greifen die üblichen ätiologischen Ansätze für Schelling zu kurz. Das Bezugssystem von Einheit und Vielfalt studiert Schelling anhand des Vergleichs verschiedener Sprachen unter Einbeziehung von Musikalität und des Verhältnisses von Sprache und Instinkt. Auch Sprachenbildung und Völkertrennung sind für Schelling primär religiös motiviert, in der Eigentümlichkeit der Sprache bildet sich eine Vorliebe für bestimmte Götter ab. Für die Rückführung der Sprachenbildung auf verschiedene Götter benennt R. im Genesiskommentar von Claus Westermann zitierte sumerische Texte. Im Einzelnen zeigt R. auch auf, welche Ergebnisse Westermanns und auch Rainer Albertz’ Schelling bei größerer philosophischer Tiefe vorwegnimmt und worin er sich unterscheidet. Auch im Sprachenvergleich lässt sich nach Schelling eine Entwicklung von der Einheit zur Vielfalt erkennen, die im Gestaltungswillen Gottes liegt. Demnach dient das Eingreifen Gottes nach Schelling nicht dazu, die Entstehung der Sprachen zu erklären, »sondern ist bereits selbst Ausdruck jener geistigen Bewusstseinsveränderung, von der die Sprachen nur das äußere Erscheinungsbild darbieten. Die Geschichte der Sprachen und die Geschichte der Religionen laufen nach Schelling in dieser frühen Zeit vollkommen parallel.« (105)
In der Betrachtung biblischer Texte – so auch von Gen 11 – kommt es für Schelling nicht auf die ursprüngliche Textgestalt, sondern auf die ursprüngliche Bedeutung an. Die Sprachenverwirrung ist für Schelling gleichbedeutend mit dem Beginn des Polytheismus, der demnach in Babylon seinen Anfang nimmt. Vor diesem Hintergrund entwickelt Schelling auch die evolutive Ge­schichte von Monotheismus, Polytheismus und Monolatrie. Eine Wurzel des Polytheismus sieht Schelling in Gen 3,22, da die Gottebenbildlichkeit nicht mehr vollständig sei, das Gottesbild einseitig werde und zum Erstarken patriarchalischer Herrschaftsstrukturen führe. Die Pluralform Elohim in Verbindung mit dem Plural des Verbs sieht Schelling nicht als Rest eines früheren, sondern als Potenz eines entstehenden Polytheismus. Eine Monolatrie, ge­meinhin als Vorstufe des Monotheismus verstanden, ist für den Philosophen ein falscher oder auch relativer Monotheismus und bleibt Anreizen zur Vielheit unterworfen, wofür das Alte Testament (Gen 32!) Beispiele enthält. Es entsteht ein simultaner Polytheismus, den Schelling vom »sukzessiven« Polytheismus unterscheidet. Darunter versteht er eine geschichtliche Folge von Göttersystemen. Polytheismus ist also – so folgert Schelling – seinem Wesen nach Göttergeschichte. Diese geschichtliche Folge ist wichtig, um den simultanen Polytheismus zu überwinden.
Diesen theoretischen Ansatz verfolgt Schelling dann anhand gegebener Beispiele aus dem religionsgeschichtlichen Umfeld des Alten Testaments. Im Alten Testament lässt sich die Entwicklung einer synkretistischen Verknüpfung des Gottesnamens mit anderen Gottheiten (El, Baal) zur Polemik gegen diese, damit die Entwicklung von simultanem zu sukzessivem Polytheismus als Voraussetzung zum Erreichen des wahren Monotheismus, als Ziel beschreiben. Die geschichtliche Entwicklung ist wichtig, um zur wahren Religion zu kommen, nicht zu dogmatisch festgeschriebener Begrifflichkeit, sondern zu unmittelbarer Beziehung »zu dem lebendigen Gott in der Fülle und Einheit aller seiner Aspekte«. Diese Grundgedanken verfolgt R. weiter anhand der Themen »Zwischen Zwangsehe und Prostitution«, ausgeführt durch Exegese von Hos 1, »Menschenopfer, Missbrauch, Attentate« (Gen 22), Freiwilliges Leiden als Gegenwurf (Jes 52,13-53,12) und »Frau Weisheit als Gegenbild« (Prov 8,22-31). Besonders interessant hierbei ist die von Schelling hergestellte Parallele zwischen dem leidenden Gottesknecht und Herakles, die beide Leiden auf sich nehmen und »leise dagegenhalten«. Während R. im Allgemeinen Schellings Ansätze nicht zuletzt aufgrund seiner Nähe zu manch modernem Forschungsergebnis bestätigend hervorhebt, betont er hier die Besonderheit und unterzieht sie einer kritischen Würdigung unter Einbeziehung biographischer Informationen zu Schelling. Dass die Präexistenz der Weisheit in Prov 8,22 dem idealistischen Ansatz entgegenkommt, dürfte auf der Hand liegen. Interessant ist auch besonders der Schlussteil, in dem R. versucht, Schellings Erkenntnisse von ihrer Wirkungsgeschichte her zu aktualisieren. Besonders beachtenswert dabei ist das Unterkapitel »Das fortwirkende Prinzip Hitler«, womit nicht die historische Person, sondern ebendas bis heute kaum überwundene Prinzip gemeint sei. Auf die Unterkapitel »Schelling und die Judenfrage« sowie »Rassenwahn und Projektion unbewältigter interner Probleme« sei in diesem Zusammenhang hingewiesen.
Die Aufbereitung des Spätwerks von Friedrich Wilhelm Josef Schelling unter dem Aspekt des Bibelverständnisses des Philosophen durch die Erläuterung vieler Originalzitate ist eine besondere Stärke der Monographie. Die bibliographischen Angaben zu den einzelnen Zitaten hätte man sich an den entsprechenden Stellen inhaltlich genauer gewünscht.