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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

258–260

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Henry, Michel

Titel/Untertitel:

Radikale Religionsphänomenologie. Beiträge 1943–2001. Hrsg. v. R. Kühn u. M. Enders. Übers. aus d. Franz. v. R. Kühn.

Verlag:

München: Verlag Karl Alber 2015. 380 S. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-495-48746-4.

Rezensent:

Stefano Bancalari

Man würde der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen Michel Henrys – einer der kreativsten Stimmen innerhalb der zeitgenössischen Phänomenologie – nicht gerecht, verstünde man sie als eine neutrale Übersetzungsarbeit und reduzierte sie dadurch in ihrer Bedeutung. Dasjenige, was dem deutschsprachigen Leser angeboten wird und was das von den Herausgebern realisierte Vorhaben interessant (und fragwürdig zugleich) erscheinen lässt, ist ein dezidierter Interpretationsvorschlag: eine umfassende Annäherung an das Denken Henrys unter religionsphänomenologischem Ge­sichtspunkt.
Aus dem Geleitwort der Herausgeber und aus dem überaus nützlichen Nachwort, das von Rolf Kühn, dem Übersetzer der Texte aus dem Französischen, zweifelsohne einer Autorität auf dem Gebiet der Henry-Studien, verfasst wurde, ergibt sich deutlich, dass zwei Hauptanliegen die Ausrichtung der Sammlung bestimmen: erstens das Ziel, den »bedeutenden Beitrag« von H. »zur Erneuerung der gegenwärtigen Religionsphilosophie« (7) zu unterstreichen; zweitens zu zeigen, dass man sich, um ebenjenen Beitrag in all seiner Tragweite zu begreifen, nicht auf die Trilogie beschränken darf, an der H. in seiner letzten Schaffensperiode arbeitete und die ausdrücklich als eingehende Auseinandersetzung mit dem Inhalt der christlichen Offenbarung ( »Ich bin die Wahrheit«, 1996; Inkarnation, 2000; Christi Worte, 2002) konzipiert ist. Zwischen der »radikalen Lebensphänomenologie« und dem Christentum exis­tiert weit mehr als eine schlichte Affinität, der sich H. lediglich in der Endphase seines Werks bewusst geworden sein könnte: Es handelt sich vielmehr um eine strukturelle Solidarität, die es erlaubt, das eine durch das andere zu erhellen.
Es ist hinlänglich bekannt, dass die entscheidende Entdeckung der »materialen« Phänomenologie in der ursprünglichen Dimension der Offenbarung besteht, die der radikal immanenten und praktischen Lebenserfahrung eigentümlich ist und die H. in den Termini der »Selbstaffektion«, der »Selbstgebung« und, auf einer Metaebene, sogar der »Gebung der Gegebenheit« (216) definiert: einer Dimension, zu der die klassische Phänomenologie, dominiert durch das Paradigma der Intentionalität und damit der ek-statischen Transzendenz, prinzipiell keinen Zugang hat. Anders verhält es sich nach H. mit dem Christentum, denn es »nennt das Leben Gott« (221) und tut damit nichts anderes, als in seiner eigenen Sprache und auf der Ebene der Praxis genau diejenige ursprüngliche Dimension der Manifestation zu verkündigen, der sich die Phänomenologie auf theoretischem Wege nähert. Die Ausarbeitung dieser Korrespondenz durchzieht den ganzen Bogen von H.s Denkweg, wie die hier gesammelten Texte, von denen viele zum ersten Mal in deutscher Sprache zugänglich sind, hervorzuheben beabsichtigen.
Aus philologischer Sicht besonders interessant ist die Entscheidung, den Sammelband mit einem Text zu eröffnen, der bezeichnenderweise der Erarbeitung der ausgereiften philosophischen Perspektive vorangeht: Dabei handelt es sich um zwei Kapitel aus H.s Diplomarbeit zu Spinoza, in denen sich einige Züge als noch unreif, aber schon eindeutig typisch für H. erweisen, beispielsweise die Idee, dass das »Gefühl keine Ekstase mehr« ist (20), die Entdeckung des gefühlsmäßigen Charakters der Vernunft oder das Insistieren auf der Seligkeit als Schlüssel zur Lektüre der gesamten Ethik. Der von den Herausgebern umsichtig abgesteckte Pfad zieht sich durch alle Phasen in H.s Denken, wobei der Leser zu überprüfen veranlasst wird, bis zu welchem Punkt dieses Denken dauerhaft mit den klassischen Fragen der Religionsphilosophie beschäftigt ist, also mit der Bedeutung des Leibes (und seiner vermeintlichen Geringschätzung seitens des Christentums), der Mystik, dem Pantheismus, dem Verhältnis zwischen Zeit und Ewigkeit, der gnostischen Versuchung. Hinzuweisen ist insbesondere auf den Aufsatz über die Theodizee, in welchem H. mit einer Argumentation von großer Originalität hervortritt. Er legt darin nämlich dar, wie das dramatische Problem der Beziehung zwischen Gott und dem Übel am Anfang durch die irrtümliche Sicht verzerrt worden sei, die Freude und Leid als zwei separate »Dinge« betrachtet habe, das eine im Widerspruch zum anderen, die unabhängig irgendwo außerhalb von uns existieren und mit denen wir gelegentlich in Kontakt geraten.
Nun lässt ausgerechnet der Überblick, den diese Sammlung ermöglicht, die Tatsache hervorstechen, dass die Kategorie, die als konzeptueller Kern der gesamten Editionstätigkeit fungiert, nicht von H. stammt: »Religionsphänomenologie« ist ein Ausdruck der Herausgeber, die gleichwohl an keiner Stelle eine explizite Definition für diesen Begriff geben und in ihm ein unverfängliches Synonym zu »Religionsphilosophie« zu sehen scheinen, einem weiteren Begriff, auf den zurückzugreifen H. – et pour cause – vermeidet. Hier liegt, wie deutlich erkennbar ist, kein rein terminologisches Problem vor: Das Problem besteht stattdessen erstens darin, zu verstehen, welche die Frage ist, die zu beantworten die »Religionsphänomenologie« übernehmen müsste. Zweitens ist zu ermitteln, ob sich entlang H.s Denkweg eine derartige Frage in substantiell einheitlicher Weise abzeichnet. Diese Fragen dürfen nicht als überholt erachtet werden, vor allem, wenn man der Tatsache Rechnung trägt, dass H.s Problem weniger die »Religion« zu sein scheint als vielmehr das Christentum; und nicht das Christentum als solches, sondern in dem Maße, in dem es substantiell als gleichartig im Vergleich zur und übersetzbar in die Lebensphänomenologie er­scheint. Es ist Kühn, nicht H., der die religio einführt und explizit definiert als »das Ursprünglichste, was vom Erscheinen überhaupt gesagt werden kann« oder als »ständiges Wesen« der Existenz (358). Dagegen bietet H., in einer der (wenigen) Gelegenheiten, in denen er sich des Terminus bedient, keine direkte Übersetzung in seine eigene phänomenologische Fachsprache, sondern er beschränkt sich auf eine ziemlich konventionelle Definition: »Religion, religio, bezeichnet ein Band, nämlich dasjenige, welches den Menschen mit Gott verbindet« (225). Im Übrigen ist religio gerade derjenige Begriff, bei dessen Verwendung sich unmittelbar das Problem der historischen Pluralität dieses Bandes, also der Vielfalt der »Religionen« stellt. Auch diese Frage liegt eher außerhalb von H.s begriff-lichem Horizont.
Das Problem, wie das Verhältnis (die Unterscheidung, die Artikulation, die Spannung, die Konvergenz) zwischen Phänomeno-logie und Religion überhaupt zu denken und auszusprechen sei, welches die eigentliche Daseinsberechtigung darstellt für jegliche Religionsphänomenologie, wie auch immer diese sich selbst verstehen mag, ist kein Problem für H., aus dessen Perspektive es immer schon gelöst ist. Es verwundert daher nicht, dass die vier Abteilungen, in denen das Textmaterial arrangiert wird, statt spezifisch religionsphänomenologischer Fragenkomplexe sehr allgemeine Themen erkennen lassen, die für H.s Denken charakteris­tisch sind (die Metaphysik, Eckhart, das Christentum, die Intersubjektivität). Es ist im Gegenteil bezeichnend, dass viele der Aufsätze, die spezifischer religionsphilosophische (oder, wenn man so will, religionsphänomenologische) Fragen behandeln, wie jener bereits zitierte Beitrag über die Theodizee, aus der Teilnahme H.s an den römischen, vom Istituto »Enrico Castelli« organisierten Kolloquien zur Religionsphilosophie resultieren und mithin auf Im­pulse reagieren, die in gewissem Sinne als extrinsisch zu be­zeichnen sind.
Wie zu Beginn gesagt, handelt es sich bei der hier besprochenen Textsammlung um ein legitimes Unternehmen, welches aber in starkem Maße interpretativ ausgerichtet ist. Angesichts der Tatsache, dass die dem Christentum gewidmete Trilogie vollständig ins Deutsche übertragen wurde, obgleich sie nicht das phänomenologische Hauptwerk ist – von dem monumentalen L’essence de la manifestation werden hier, herausgerissen aus dem Kontext, zwei Kapitel übersetzt –, ist es notwendig, dass der soeben aufgezeigte interpretative Charakter durchwegs explizit gemacht wird. An­dernfalls laufen deutschsprachige Leser Gefahr, ein einseitiges (und dadurch irreführendes) Bild eines Denkers vorzufinden, der höchs­te Aufmerksamkeit verdient.