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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

255–256

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Dremel, Erik, u. Ute Poetzsch [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Choral, Cantor, Cantus firmus. Die Bedeutung des lutherischen Kirchenliedes für die Schul- und Sozialgeschichte.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag (in Kommission Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle) 2015. VIII, 184 S. m. Abb., 1 Kt., 3 Tab. = Hallesche Forschungen, 42. Geb. EUR 36,00. ISBN 978-3-447-10387-9.

Rezensent:

Konrad Hammann

Wenn Bücher Klänge hervorbringen könnten, würde dieser Sammelband gewiss schön klingen. Er versammelt die Beiträge zu einer interdisziplinären wissenschaftlichen Tagung zum lutherischen Choral, die im Rahmen des Themenjahres der Lutherdekade »Re­formation und Musik« 2012 in Halle (Saale) stattfand. Der detailreiche Band dokumentiert eindrucksvoll die prägende Bedeutung, die die Kirchenmusik und zumal das Kirchenlied für die lutherische Konfessionskultur der Frühen Neuzeit hatten.
Den Reigen der elf Beiträge eröffnet Erik Dremel, einer der beiden Herausgeber, mit einem instruktiven Überblick über die Musik im Schulwesen vom späten Mittelalter über die Reformation bis zum 18. Jh., ihre Stellung im städtischen Gemeinwesen und in der kirchlichen Praxis, die Organisation des Musikunterrichts und das Amt des Kantors sowie – anhand von Beispielen in der kleinen Stadt Neumarkt bei Halle und im Halleschen Waisenhaus – die lutherische Musikpraxis (1–27). Sodann geht Friedhelm Brusniak den Entwicklungen nach, die das Berufsbild des Lehrers und des Kantors in verschiedenen Territorien zwischen dem 16. und 20. Jh. veränderten und immer wieder neuen Rahmenbedingungen anpassten (29–40). Ausgehend von der Umgestaltung des Schulwesens durch die Reformation zeigt Jean-Luc Le Cam anhand der Gegebenheiten im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel die pädagogischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren auf, die für die von der lutherischen Lateinschule getragene Kantorei und den Schulchor während des 16. und 17. Jh.s bestimmend waren (41–71).
Anschließend gewährt Thomas Töpfer interessante Einblicke in ein bisher noch kaum erforschtes Gebiet, nämlich die Bedeutung der Schule und der Musikpflege für die Sicherung und Visualisierung der »Guten Ordnung« in den Gemeinwesen der Frühen Neuzeit (73–92). Aus dem Vergleich der Verhältnisse an der Lateinschule in Saalfeld mit Notensammlungen anderer Lateinschulen vermag Dietlinde Rumpf begründete Rückschlüsse auf das ebenso breite wie anspruchsvolle Niveau der Aufführungspraxis im 16. und 17. Jh. zu ziehen (93–107). Erik Dremel wiederum macht aufmerksam auf die vielfältigen Beziehungen zwischen Text und Melodie, Musik und Sprache, Theologie und Bildung, wie sie sich im lutherischen Choral und im Gesangbuch der Frühen Neuzeit widerspiegeln (109–126). An den Choralbearbeitungen von Michael Prätorius demonstriert Thomas Synofzik die Vielfalt der Besetzungsmöglichkeiten der verschiedenen Stimmen und die Einbeziehung der Gemeinde in die Aufführungspraxis (127–138). Im Anschluss daran beschreibt Matthias Schneider die Rolle der Orgel und die Aufgaben, die die Organisten vom 16.–18. Jh. im Gottesdienst zu erfüllen hatten, unter ihnen besonders das Improvisieren, das jeweils im Probespiel nachzuweisen war (139–150).
Die drei letzten Beiträge nehmen die weitere Rezeption und Wirkung des lutherischen Chorals bis in die Gegenwart in den Blick. Dietmar Hiller verfolgt die Adaption von Luthers Lied »Ein feste Burg ist unser Gott« bei Otto Nicolai, Felix Mendelssohn Bartholdy, Franz Liszt, Giacomo Meyerbeer, Richard Wagner und Claude Debussy (151–158). Sven Hiemke widmet dem lutherischen Choral im kirchenmusikalischen Schaffen Hugo Distlers und Ernst Peppings eine das unterschiedliche Selbstverständnis dieser beiden Komponisten berücksichtigende Studie (159–167). Den Abschluss bestreiten Erik Dremel und Gregor Meyer mit der »Concert lecture in der Marktkirche zu Halle«, die auch die dreitägige Tagung ausklingen ließ (169–178).
Der Band ist mit 26 Abbildungen ausgestattet. Ein Personen- und ein Ortsregister erschließen die Textbeiträge. Deren Polyphonie veranschaulicht nicht nur die vielschichtigen ursprünglichen Kontexte des lutherischen Chorals vom 16. bis zum 18. Jh., sondern gibt auch Anstöße, das reiche Erbe der evangelischen Kirchenmusik in der Gegenwart neu anzueignen und in harmonischen Klängen hörbar zu machen.