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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

252–255

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Czapla, Ralf Georg [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»… euer Leben fort zu dichten.« Friedrich Rückerts »Kindertodtenlieder« im literatur- und kulturgeschichtlichen Kontext.

Verlag:

Würzburg: Ergon Verlag 2016. 449 S. m. Abb. = Rückert-Studien, 21. Geb. EUR 28,00. ISBN 978-3-95650-123-4.

Rezensent:

Mathias Wirth

Eine gewisse Kontinuität protestantischer Lyrik ist frappierend, die mehr sein will als poetische Theologie, aber auch in diesem Sinne nicht ohne Aufschluss ist. Zu dieser Riege protestantisch-geprägter Dichter gehört neben Paul Gerhardt (1607–1676), Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), Matthias Claudius (1740–1815) und Eduard Mörike (1804–1875) auch Friedrich Rückert (1788–1866). Seine um­fangreiche Gedichtsammlung »Kindertotenlieder« mit mehr als 450 Gedichten, die als »größte Totenklage der Weltliteratur« (Hans Wollschläger) bezeichnet wurde, eröffnet unvergesslich die einsame Welt verwaister Eltern und ist durch die Vertonung Gustav Mahlers (1860–1911) vorm Vergessen bewahrt worden. Für das Genre des Kindertotengedichts ist Rückerts Werk eines der berühmtesten und besten Beispiele, wie der Heidelberger Literaturwissenschaftler Ralf Czapla in seinem Vorwort notiert. Der Tod des eigenen Kindes erscheint als kaum annehmbare Vorstellung, Rückerts literarische Bewältigung dieses schier Unvorstellbaren wurde durch den Tod seiner beiden kleinsten Kinder Ernst und Luise, die im Winter 1833 an Scharlach gestorben sind, ein Zugangsweg zu einer auch christlich geprägten Hoffnung. Dabei liefert Rückert ein eindrückliches Bild für den Modus einer Hoffnung, der nicht schon dadurch unattraktiv ist, dass er einer Art eschatologischer Futurisierung das Wort redet, an die Trauer nach dem Tod eines Kindes kaum anknüpfen kann. In Rückerts eschatologischem Präsentismus, der Motive aus verschiedenen religiösen und kulturellen Kontexten, etwa aus dem Orient, variiert, liegt der Skopus auf dem Schon und keineswegs auf dem Noch-Nicht des eschatologischen Futurismus. Damit ist nur ein zentraler theologischer Gehalt der Kindertotenlieder Rückerts benannt, der hier als Einleitung zur nachfolgenden theologisch-orientierten Besprechung figuriert.
Die gewählte literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektivierung des Bandes ist dabei bis auf eine Ausnahme keiner genuin theologischen Fragestellung gewidmet. Sie ist aber durch die Denkrichtung impliziert, die einerseits Rückert selbst durch seine religiöse Herkunft vorgibt und die sich anderseits durch die Suche nach einer Hoffnung über den Tod des Kindes hinaus nahelegt. Im Folgenden sollen daher solche Beiträge des Bandes exemplarisch besprochen werden, die wegen auffallender Interferenzzonen auch für die theologische Diskussion relevant sind. Insgesamt imponiert in der erneuten Auseinandersetzung mit Rückert die Arbeit an den Schnittstellen von Erfahrung und Analyse in einem Universum von Verletzlichkeit, das der Tod eines Kindes anzeigt und bedeutet.
Material ist der Sammelband in drei Teile gegliedert: Der erste, umfangreichste Teil ist in einer Multiperspektive den Kontexten der Sammlung der Kindertotenlieder Rückerts gewidmet. Dazu gehören philosophische, theologiegeschichtliche, besonders aber literaturgeschichtliche und sogar medizinische Analysen. Im zweiten Teil geht es um poetologische und geschichtliche Fragen im weiteren Zusammenhang (»Ideengeschichte«). Der dritte, kürzeste Teil verlässt das Genre akademischer Analysen und will selbst ein Stück Literatur im Umfeld der Kindertotenliteratur sein.
Der Band hebt mit einer philosophischen Enquête an, die der Frage nach der Entstehung und dem Gehalt der »moralischen Ge­wissheit« (19) gewidmet ist, nach der der Tod eines Kindes als eines der schlimmsten Widerfahrnisse gilt (»Unvergleichlichkeitsbehauptung«). Dabei geht Andreas Urs Sommer von der Beobachtung aus, dass aufgrund einer »notorische[n] Abgehobenheit« (19) und des Fokus’ der Philosophie auf das Generelle, neben der hohen Prävalenz von Krankheiten, die zum Kindestod führten (sodass er als regelrecht normal empfunden werden konnte), eine philosophische Auseinandersetzung mit Sterben und Tod des Kindes weitgehend ausgeblieben ist (19 f.). Einerseits verwundert dieses Schweigen des philosophischen Feldes, da Sommer eine »Todesintimität« der Philosophie erinnert (»Philosophieren heißt sterben lernen«), andererseits ist es die generalisierbare Kinderlosigkeit der Philosophen und ihrer Philosophien, die dieses spezifische Ausbleiben erklären hilft (20 f.). In phänomenologischer Hinsicht macht Sommer dann aber Diskurse ausfindig, die Einblicke in Philosophie und Kultur des infantilen Sterbens ermöglichen. Dabei provoziert die berühmte und in Kritik geratene These Philippe Ariès’, nach der die Vormoderne durch Mitleidlosigkeit gegenüber dem Kind ge­prägt sei, die ab dem 16. Jh. und zunächst in der upper class ero-dierte.
Dies fand nach Ariès Ausdruck in entstehenden Kinderporträts (22–24). Sommer schließt sich der referierten Kritik an Ariès These unter Hinweis auf eine bereits in der Antike nachweisbare Benevolenz gegenüber dem Kind an (24). Gegen die Gleichgültigkeits-These erinnert Sommer exemplarisch an die von Zeitgenossen als exzessiv empfundene Trauer Ciceros nach dem Tod seiner Tochter Tullia mit infans mortuus. Die Freunde des Cicero konzipieren ihren Trost komparativisch, denn der Untergang der ganzen Republik sei gewiss noch bedauerlicher als der Tod des eigenen Kindes (26). Insgesamt scheint Trost kein suspekter Anwendungsbereich der Philosophie. Trostbriefe nach dem Tod eines Kindes, wie sie beispielsweise von Plutarch bekannt sind, haben auch Cicero erreicht. Servius Sulpicius baut in seiner Tröstung auf die Erfahrung des allmählichen Untergehens der Erinnerung an das tote Kind, wohingegen Plutarch in seiner Tröstung zwar auch bei der Erinnerung ansetzt, anamnesis aber nicht als Modus des Schwindens, sondern des Bleibens charakterisiert. Wichtigster Nes­tor der philosophischen Trostliteratur sei Seneca, der die Verblassungsstrategie noch radikalisiert und eine Gleichgültigkeit des Todes propagiert (»mors nec bonum nec malum est«). Gleichgültig ist der Tod aber noch in einer zweiten Hinsicht, in dem er alles wieder in den Zustand »vorgeburtlicher Ruhe« rückführe (28 f.).
Das spezielle Format einer christlichen Trost-Strategie in der Antike findet seinen Skopus in eschatologischer Perspektivierung: Hier erscheint das Leben als gravierende Prüfung, die einem Kind erspart bleibt, wenn es früh stirbt (32). Diese Hinsicht auf den kindlichen Tod hat sich neuzeitlich umgekehrt, denn zunehmend betrauert man die ausgebliebenen Chancen auf Selbstverwirklichung und versteht das Leben nicht als Prüfung des Bösen, sondern als Ermöglichung des Guten. Der Kindstod muss so als Grausamkeit erscheinen, weil Gutes entzogen wird und angesichts der Fulminanz dieses Entzugs eine elterliche Reaktion nur tiefe Trauer und Bitterkeit sein kann und jede andere Reaktion auf ein »moralisches Ungeheuer« zu deuten scheint, das in der Antike noch wegen seiner »Seelengröße« Lob gefunden hätte (42). Aber auch die theologische Wahrnehmung des Kindstods hat sich seit der christlichen Antike in gleichem Maße umgekehrt, denn in der neueren Theologie ist der Kindstod geradezu locus classicus der Theodizee-Frage (45). In summa betont Sommer die diachrone Variabilität der Reaktionen auf den Tod eines Kindes. Synchron fällt der »Projektcharakter« des Kindes auf, in das Eltern sich zuweilen selbst mit all ihren Hoffnungen und Sehnsüchten legten. Der Tod des Kindes bedeutet dann in einem noch verstärkten Maße den Tod der Eltern selbst (46 f.); was deshalb bemerkenswert ist, weil dies im Ambiente der neuzeitlichen »Entde-ckung« des mit Würde assoziierten Selbstzwecks des Individuums und auch des Kindes geschieht (47 f.).
Ralf Czapla analysiert Poesie als Bewältigungsform des Kindstods von Andreas Gryphius über Friedrich Rückert bis zur Nach-Schoa-Lyrikerin Nelly Sachs. Zwar sei der deus ex machina der Mirakelbücher unglaubwürdig geworden (67), der noch im 17. Jh. in vielen Erzählungen vom guten Ende eines Kindstods begegnet, das wundersam gerettet wurde. Geblieben sei aber ein Vertrauen in Textualitäten, die mutatis mutandis einen Modus der Hoffnung und des Bleibens für und des gestorbenen Kindes in Betracht ziehen (»Wi­derrede gegen das Unabwendbare«) (50 f.). Diese Widerrede gerät aber bei Rückert nicht zur Standfeste eines Überzeugten. Seine Kindertotengedichte erscheinen wie ein »unablässige[s] Um­herirren um das Unbegreifliche« (60). Mit etwas weniger Pathos: Geht es nicht eher um das Hinauszögern eines Abschieds, der schon längst gekommen ist und nur noch Raum lässt für ein ausschweifendes und »wehmütige[s] ›Adieu‹«? (64) Aus der Perspektive Rü-ckerts und trauernder Eltern steht diese Interpretationsweise allerdings in der Gefahr, etwas zu harmlos ausgefallen zu sein.
In dezidiert theologiegeschichtlicher Perspektive fragt Jost Eickmeyer nach der Kindertotendichtung im gesamten frühneuzeit-lichen Protestantismus und sieht Rückert in einer Traditions-Reihe, die wiederum Ariès’ These falsifiziert, nach der die Alltäglichkeit des Kindstods bis in die Neuzeit hinein die Alltäglichkeit der »emotionale[n] Gleichgültigkeit« evoziere (69). Eickmeyer legt theologische Motive frei, die in der umfangreichen protestantisch-poetischen Begleitung des Kindestods virulent sind: Heilsgewissheit und »elaborierte Jenseitsschau«, die jeweils Trost und eine »Bändigung der Affekte« intendieren (100). Dies beginnt bereits bei Martin Luther selbst, der seine Töchter Elisabeth und später Magdalena verliert. Neben schwerer Trauer und Mitleid artikuliert Luther in seinen Gedichten Glaubensstärke, die gegenüber der Trauer und dem Schmerz zu überwiegen scheint (72–74). Andere rezipierte Motive beziehen sich auf Christus den »Schmerzensmann« (86). Besonders wichtig scheint aber, etwa bei Paul Gerhardt, die Milderung der Affekte trauernder Eltern durch Verweis auf das Jenseits, in dem das verstorbene Kind nun nicht die Bitternis und Mühe der Welt durchleben müsse (89 f.). Affektkontrolle wird dadurch erreicht (»Ich will dich nicht mehr weinen«), dass ein freudiges Wiedersehen bei Gott in Aussicht steht (92 f.).
Aufschlussreich ist schließlich noch der Beitrag von Sascha Monhoff, der zunächst notiert, dass nicht alle Totengedichte Rü-ckerts sonderlich kunstvoll seien; vielleicht mit ein Grund dafür, dass Rückert selbst nie eine Veröffentlichung besorgt hat (213 f.). Dennoch stelle der gewaltige Gedicht-corpus Rückerts genau dies dar: einen neuen corpus, der an die Stelle des toten Körpers des Kindes trete (214). Monhoff scheut sich nicht, hier von einer »Anstatt-Setzung« zu sprechen und sie als Art Prothese zu verstehen (214), um sich so der These Czaplas anzuschließen, nach der durch poetische Bearbeitung des Kindstods eine Art Wiederbelebung stattfinde. Hier betont Monhoff die komplexe Struktur des Präsentismus bei Rückert, der nicht von einem bestreitbaren, einfachen Präsentismus ausgeht, wie er für Tote nur wahnhaft möglich wäre. Vielmehr beschreibt er eine Präsenz durch Leerstellen (»Anwesenheit durch Abwesendheit«) (219 f.). Monhoff notiert weiter das Ausbleiben eines eschatologischen Futurismus mitsamt den obligatorischen Vertröstungen. Zwar finden sich eschatologisch-biblische Bilder und Anspielungen im gesamten Gedichtkorpus, diese haben aber stets präsentischen Skopus: »Aber da, wo religiöse Bilder und Bezüge ausführlich und im Detail auftauchen, beziehen sie sich auffällig und gerade auf die diesseitige Welt und sparen einen Jenseitsbezug demonstrativ aus« (226).
Insgesamt nimmt dieser Band eine der schwierigsten Beziehungen in den Blick, in die Menschen geraten können. Dabei neigen die Beiträge weder zu Pathos noch hämischer Distanz, sondern leisten durch ihre Außen-Analysen auch einen gewichtigen Beitrag zu einer Innen-Analyse der Trauer um das tote Kind. Sie tragen dabei keine allgemeinen Klugheits-Argumente zusammen, sondern schreiten einen weiteren, interdisziplinären Raum ab. Etwas handstrichartig sind dabei zwar einige theologische Fragen behandelt worden, wobei nicht zu bestreiten ist, dass so dennoch eine umsichtige und beachtliche Würdigung Friedrich Rückerts gelungen ist, die theologische Aufmerksamkeit verdient.
Kritisch zu fragen wäre allerdings mit Blick auf den Band, welchen Sinn die »Widerrede gegen das Unabwendbare« hat, die zum Beispiel Czapla als Kontinuitätsmoment des literarischen Um­gangs mit dem Kindestod ausmacht. Besteht die Gefahr einer »poetischen Wiedererweckung« (51) nicht darin, so oft sie auch versucht und vorgenommen wurde, Poesie als Fassade und Analgetikum zu gebrauchen, um die letzte Verzweiflung zu verbergen, die die Wahrheit eines Lebens ist, das um ein totes Kind trauert? Anders gefragt: Ist die Art Präsentismus, der die Poetik Rückerts prägt und seinen Nahraum wie Garten und Wald zum Refugium der Erinnerung und Begegnung mit seinen verstorbenen Kindern macht, nicht etwas anderes als »Wiedererweckung«? Geht es nicht um das Spüren eines sanften, osmotischen Drucks, der sich aus dem Verweischarakter (der Natur) ergibt und das Sich-Einschließen in eine einsame Welt untersagt, die sich jede Hoffnung verbietet? Mit Rückert, dessen Trauer zu tief war, als dass eine »poetische Wiedererweckung« eine annehmbare Vorstellung wäre und mit den Worten seines Ghasels In des Waldes heil’gem Schweigen: »In des Waldes heil’gem Schweigen werd’ ich meine Kinder sehn / […] Wenn ich meine Augen schließe, kann ich fühlen, sie sind nah; / In des Herzens heil’gem Schweigen werd’ ich meine Kinder sehn.«