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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

247–248

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Greif, Stefan, Heinz, Marion, u. Heinrich Clairmont [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Herder Handbuch. Unter Mitwirkung von V. Stolz, T. Bender, A. Meywirth u. N. Lehnert.

Verlag:

Paderborn: Verlag Wilhelm Fink 2016. 858 S. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-7705-4844-6.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Johann Gottfried Herder (1744–1803) zählt zu den vielseitigsten deutschen Intellektuellen seines Jahrhunderts. Als Berufstheologe hat er nicht nur die Diskurse des eigenen Faches konstruktiv und provokativ stimuliert, sondern zugleich auch die Entwicklung der aufklärerischen Philosophie, Ästhetik, Pädagogik, Poetik und Literaturkritik vielfältig beeinflusst. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Herder setzt darum unverzichtbar einen interdisziplinären Zugriff und Austausch voraus. Inzwischen hat die fächerspezifische Herder-Forschung jedoch einen derartigen Grad an Spezialisierung erreicht, dass deren komplementäre Zusammenschau zu einer kaum noch erschwinglichen Aufgabe geworden ist. In solcher Lage wird man das vorliegende Handbuch, das die Ergebnisse der aktuellen Forschung »zu bündeln und für Lehr-, Forschungs- und Studienzwecke in übersichtlicher Form zugänglich zu machen« (11) verspricht, lebhaft begrüßen.
Als Ouvertüre ist dem Band ein erstmals in deutscher Sprache verfügbarer, leicht gekürzter Essay des kanadischen Philosophen Charles Taylor »Zur philosophischen Bedeutung Johann Gottfried Herders« (13–22) vorangestellt. Das eigentliche Handbuch gliedert sich in drei höchst asymmetrisch proportionierte Hauptteile. Den Anfang macht eine knappe, prägnante biographische Übersicht (23–38), am Ende sieht sich Herders »Wirkung« (669–748) eher eklektisch und skizzenhaft, zudem in weitgehender Fokussierung auf das 18. Jh. beschrieben, was die Herausgeber ausdrücklich als unbefriedigend ausweisen (vgl. 12), im Rahmen eines Autoren-Handbuchs aber doch wohl ungeteilter Nachsicht wird sicher sein können.
Der mittlere Hauptteil, der die eigentliche Substanz des Bandes darstellt, versieht die wichtigsten »Werke« (39–668) Herders mit gelehrter, hilfreicher Handreichung. Diese Schriften sind auf sechs Themenfelder verteilt, die jeweils, den einzelnen Werkporträts vorausgehend, mit einer das Nachfolgende essayistisch bündelnden »Einleitung« vorgestellt werden. Liest man allein diese Eröffnungsartikel unmittelbar nacheinander, so gewinnt man für Herders literarisches Schaffen bereits verlässliche Übersicht, wird andererseits aber auch dazu animiert, sich nun erst recht ins Detail zu vertiefen.
Die umfangreichste Sparte widmet sich der »Philosophie« (41–317). Hier werden von den einschlägigen Frühschriften über die sprach- und geschichtsphilosophischen Studien bis zu den metakritischen Etüden die einschlägigen Werke Herders kenntnisreich, differenziert und verständlich erläutert, zudem immer wieder auch die Vernetzungen mit anderen Themenfeldern herausgestellt. Demgegenüber begnügt sich die Präsentation dessen, was Herder zur »Theologie« (319–385) beigetragen hat, mit einem signifikant geringeren Umfang; immerhin findet sich dabei neben den bekannten Titeln auch erstmals das breite Predigtwerk ebenbürtig gewürdigt (vgl. 360–368). Hart an der Grenze zu einem Sammelsurium rangiert dann die umfangreiche Kommentierung der Schriften zu »Ästhetik, Poetik, Literaturkritik« (387–593). Angesichts der sachhaltigen, präzisen Informationsfülle, die hierbei dem Leser entgegentritt, sollte man sich keinesfalls mit der müßigen Frage aufhalten, weshalb etwa Herders Sammlung der »Volkslieder« (495–504) oder seine »Italienische Reise« von 1788/89 (540–551) unter der Zwischenüberschrift »Poetische Avantgarde« firmieren. Anders als diese philosophischen, theologischen und ästhetischen Themenschwerpunkte lassen sich Herders Schriften zur »Pädagogik« (595–622), seine »Nachdichtungen« (623–647) und eigenen »Poetische[n] Werke« (649–668) dann jeweils auf lediglich etwa zwei Dutzend Seiten in zureichender Deutlichkeit vorführen.
Das »Herder Handbuch« wird sich schon bald als ein unentbehrliches, interdisziplinär rezeptionsträchtiges Standardwerk ausweisen. Erst dessen aufmerksame Lektüre lässt das gesamte Ausmaß dessen, was bisher gefehlt hat, erkennbar werden. Aus Respekt vor dieser eindrucksvollen, gewaltigen Leistung mögen die folgenden Hinweise nicht als unbillige Kritik, sondern lediglich als unverbindliche Anregungen für eine wünschenswerte zweite Auflage verstanden sein. So hat etwa die hier verfolgte Zentrierung auf Herders Schriften zur Konsequenz, dass dessen Beziehungen zu für ihn wichtigen zeitgenössischen Personen (etwa zu Goethe, Schiller oder Wieland) und Strömungen (etwa zur Empfindsamkeit, Weimarer Klassik oder Neologie) nirgendwo selbständig thematisiert werden. Hilfreich wäre überdies neben dem schon existierenden Personenregister auch noch ein Werke- und Sachregister. Zu be­dauern ist ferner, dass die gelehrten Verfasser der diversen Artikel (wie viele Fachleute haben eigentlich mitgewirkt?) weder im In­haltsverzeichnis aufscheinen noch in einem Autorenverzeichnis vorgestellt werden.
In formaler Hinsicht erscheint der Band nahezu tadellos. Dass der Familienname des Rezensenten an einer Stelle (760 s. v. Spalding) um den letzten Buchstaben verkürzt worden ist, wird hoffentlich nicht als Ausdruck der Sorge zu deuten sein, das rühmenswerte »Herder Handbuch« könnte ihm etwa zur kritikastrisch ausgeschlachteten »Beute« anheimfallen.