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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

244–247

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Deutsche Søren Kierkegaard Edition. Hrsg. v. N. J. Cappelørn, H. Deuser, J. Grage u. H. Schulz in Zusammenarbeit m. d. Søren Kierkegaard Forschungszentrum, Kopenhagen. Bd. 5

Titel/Untertitel:

Journale NB6–NB10. Hrsg. v. M. Kleinert u. G. Schreiber.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XXVI, 677 S. Lw. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-024768-8.

Rezensent:

Walter Dietz

Dieser Band (der fünfte von insgesamt elf, ed. 2005 ff., aufgrund der kritischen dänischen Gesamtausgabe SKS 1997–2013, 55 Bde.) enthält Aufzeichnungen Kierkegaards aus der Zeit 1848/49, sehr verschiedener Natur. Wissenschaftliche Reflexionen sind rarer (z. B. zum Wesen der Gleichzeitigkeit, 117, und zur Versöhnungslehre, zu Christus als Vorbild und Erlöser, 332 ff.426; das Christentum als »das Absolute«, ethisch verstanden, 187 ff.). Im Hintergrund stehen die politischen Wirren des Jahres 1848, die auch auf Dänemark übergriffen, ferner der Krieg um Schleswig gegen Deutschland – sowie persönliche Probleme, insbesondere Geldsorgen (geerbtes Haus zum falschen Zeitpunkt verkauft, 468). Das Erbe des wohlhabenden Vaters konnte nur reichen, wenn K. rechtzeitig stirbt; denn für seine Bücher bekam er so gut wie nichts, die Auflagen waren niedrig (Zweitauflage nur bei E – O cf. 304.413).
Hohe Auflagen erreichten Zeitungen und Satirezeitschriften wie z. B. der Corsar, der sich auch der »Figur« K.s annahm, insbesondere der für ihn super interessanten Frage der Hosenbeinlänge K.s (rechts und links unterschiedlich lang – wie aufregend! 368 f. 411). K. nahm die Corsar-Affäre, durch die er auf den Straßen Ko­penhagens nun über Jahre zum Gespött wurde (klassisches Mobbing, vgl. 292, Sören als Anti-Name – »Spitzname« 155 f.361), dankbar an, um grundsätzlich über Wesen und Funktion der Presse (des Journalismus) nachzudenken und sein Christsein zu vertiefen. Darüber gibt der Band markant Auskunft. Von der Tages- und Boulevardpresse gelte insgesamt, dass sie »unendlich mehr Unglück als Nutzen bringt« (166, vgl. 122.407: Sie potenziert das Böse in einer Welt, die betrogen werden » will«; sollte ebenso verboten werden wie Schusswaffen 167) und den gesellschaftlichen Fortschritt verhindert (167). So gesteht K., niemals im Leben eine Schusswaffe auf Menschen oder andere Lebewesen richten zu können – es sei denn auf Journalisten; für dieses Kommando könne er »in Gottes Namen die Verantwortung übernehmen« (332). Der Journalist mache Verleumdung zu seinem Beruf (282). Denkwürdige Passagen, nicht frei von einer gewissen Schärfe, hier ganz unverblümt formuliert, da für den Hausgebrauch (Tagebücher). Für Goldschmidt, die »Cho-lera-Fliege« (112, vgl. 307.310: niederträchtig und erbärmlich, ohne Idee und Ethos), Herausgeber des Corsar, Hauptfigur der satirischen Lügenpresse, gilt jedoch: Ich vergebe ihm! (313) Durch ihn »bin ich jetzt […] entschiedener christlich geprägt« (ebd.).
In Kopenhagen sind intellektuelle Netzwerke an der Macht, und zwar hegelianischer Art (Heiberg, Mynster, Martensen): Mit diesen müsse man sich heutzutage »tunlichst gut stellen«, um »die Forderungen der Zeit zufriedenzustellen« (316, vgl. 41). Kurzum: Vernetzt sein, in den richtigen Klüngeln und Seilschaften sein – das ist das wahre Leben, dann ist man exzellent. Hier zeigt sich die unfreiwillige Aktualität K.s, auch wenn heute der Hegelianismus weithin tot und das Ende der Metaphysik überhaupt angesagt ist (ein Modenwechsel).
Die berühmte Krankheit zum Tode lag bereits seit dem Frühjahr 1848 druckfertig auf dem Tisch, wobei K. plant, sie als ersten Teil eines vierteiligen Werkes herauszugeben (»Werke der Vollendung«, 175 – biographisch, nicht eschatologisch gemeint). Nicht fehlen dürfen natürlich auch Reminiszenzen an die einzig und ewig Ge­liebte, Regine Olsen (mittlerweile Regine Schlegel): eine Liebe, die K. nur im Bruch, nur als Fragment, nur in der Negation gutbürgerlicher Vollendung realisieren konnte. Die Reflexionen darauf sind ohne Selbstgerechtigkeit – es war seine Schuld (97 f.; »Kollision mit Gott«, 409 f.); indirekte Kritik an Regine fehlt aber auch nicht (sie hatte ihn als Mörder hingestellt, 184, und ihm die Aufhebung der Verlobung so schwer wie nur denkbar möglich gemacht; sie sei naiv, zu wenig religiös gewesen; vgl. 247). Im Blick auf die Ehe vermerkt er: »Ich wurde kein Ehemann – aber ich wurde der begeis­tertste Verfechter der Ehe.« (432)
Wenn sich K. insgesamt als »Pönitierender« charakterisiert (z. B. 16 f.291 f.421), dann nicht im Blick auf Regine, überhaupt nicht im Blick auf die Kultivierung individueller Schuld (in Richtung auf Buße), sondern im Blick auf sein Martyrium: die Zeugenschaft gegen den Geist der Zeiten. K. fühlte sich grundsätzlich »fremd unter den Zeitgenossen« (122).
Im Blick auf die Kritik des Judentums teilte K. die Kritik seiner Zeit (Wucher: Dazu eigneten sich die Juden »am besten«, 331, vgl. 612; nicht originell, jedoch frei von jedem Antisemitismus). Allerdings könne es durchaus sein, dass der Gast aus der Fremde seinen Wirt zu gegebener Zeit ermorde (»sizilianische Vesper«, 347). Für das Christentum gelte, dass es sich (z. B. im Blick auf die Deutung des Segens) selber in eine Variante des Judentums zurückverwandelt habe (73). Insbesondere der Protestantismus »ist auch wirklich zu konform mit der Weltlichkeit geworden« (217). Recht verstanden ist das Christentum keine »Lehre«, sondern es soll Macht im Leben ausüben, das Leben »umbilden«, d. h. es darf nicht banalisiert oder ästhetisch depraviert werden (37, vgl. 19). Die Aktualität K.s ist an dieser Stelle unübersehbar. Auch seine praktisch-theologischen Erwägungen (die sich meist auf Homiletik und Kasualpraxis konzentrieren) sind erwägenswert. So votiert er z. B. für die Rehabilitierung der Konfirmation (weg von einem Pubertätsritual mit außerchristlichem Unterhaltungswert), verbunden mit dem Vorschlag, sie mit 25 statt mit 14 Jahren durchzuführen (134).
Ein besonderer Leckerbissen des vorliegenden Bandes sind die Erinnerungen an die Audienzen bei König Christian VIII. von Dänemark. Ihm war K. wohlgesonnen, überbrachte ihm einige seiner Werke (u. a. Entweder – Oder und Die Taten der Liebe) und gab ihm – natürlich nur auf entsprechende Nachfrage – Ratschläge zur Stabilisierung seines Amtes. Weniger existentielle als mehr regulative Bedeutung hat hier z. B. die Überlegung, ob er bei der Begrüßung dem König die Hand küssen soll (er tut es nicht). Angesichts des Aufkommens der kommunistischen Bewegung beruhigte K. den verunsicherten König: Die mobilisierten Massen hätten klassenspezifische Hühnchen zu rupfen, es gehe Christian VIII. dabei nicht an den Kragen. Wohl dem König, der so einen Kierkegaard zu seinen Untertanen zählen darf!
K.s Äußerungen über Dänemark im Allgemeinen (albern und charakterlos, 10 f.) und Kopenhagen im Speziellen (»prostituierte Spießbürgerlichkeitsresidenz«, 215; K. über sich selbst: »Genie in einer Kleinstadt«, 255, Hervorhebung W. D.) unterschreiten allerdings die Qualität einer echten Liebeserklärung oder auch nur eines Kompliments ganz erheblich. Jedes andere Land, so meinte er (wenn er sich da nur nicht irrt!), hätte ihm – wäre er dort aufgewachsen – wohl gebührendere Achtung und Aufmerksamkeit ge­schenkt als sein unendlich borniertes Heimatland (P. S.: Die dä-nische Regierung hat mittlerweile Wiedergutmachung geleistet durch staatliche Fördermittel zur Edition der 55 [!] Bände der SKS – sich kurz zu fassen war, von der äußeren Lebensdauer abgesehen, nicht K.s Stärke oder besser formuliert: Es war eine sich verzehrende, sich aufopfernde Produktivität, 157).
K.s Attacke gegen die bestehende Christenheit wirkt heute freilich deplaziert, denn sie bezieht sich auf eine selbstbewusste Gesellschaft, die sich in der Normalität ihres Lebensvollzugs eminent als christlich versteht (vgl. 220.408) – ganz anders als wir heute. Das Verhältnis zum christlichen Abendland hat sich durch die Katastrophen des 20. Jh.s. fundamental gewandelt, in eine Indifferenz und stille Verachtung der christlichen Wurzeln Europas, zugleich die Religion zu einer randständigen Privatsache gemacht. Dennoch bleibt K. ungemein aktuell, etwa in seiner Kritik einer geistig durch Massenmedien formatierten Gesellschaft, oder einer Banalisierung des Christentums durch Vernachlässigung seiner ethischen Relevanz im Horizont einer Ästhetisierung der Lebenswelt.
Von der Aufmachung her ist auch dieser Band grundsolide und gelungen, ebenso was die Übersetzung anbetrifft. Die beiden Hauptprobleme der Hirsch/Gerdes-Edition (Selektivität; deutschtümelige, etwas gestelzte Übersetzung) sind hier bravourös überwunden. Gewisse Dubletten im Kommentar finden sich freilich auch in diesem Band. Der Kommentarteil ist wie üblich separiert (Anhang, nicht gleiche Seite). Die Edition ist zuverlässig, wenngleich nicht sehr handlich. Gemessen am enormen Arbeitsaufwand der vielen Beteiligten ist der Preis des Ganzen sicherlich gut vertretbar. Man darf auf die weiteren (sechs) Bände gespannt sein.