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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

240–242

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Arndt, Andreas, u. Jörg Dierken [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Friedrich Schleiermachers Hermeneutik. Interpretationen und Perspektiven.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. X, 233 S. Kart. EUR 34,95. ISBN 978-3-11-045312-6.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Seit 2012 liegt die lang erwartete Ausgabe von Schleiermachers Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe (KGA – als Band II/4) vor. Dadurch ist nun ein Einblick in die Genese des Textes, aber auch in die Vortragspraxis möglich (103; der Editor der KGA-Ausgabe, Wolfgang Virmond, berichtet in der entsprechenden Einleitung zum Band über die Entwicklung des Textes). Es wird aber auch deutlich, dass die Anwendung der Hermeneutik auf das Neue Testament für Schleiermacher keine sekundäre Zutat, sondern integraler Bestandteil des gesamten Unternehmens gewesen ist. Die erste Ausgabe der Vorlesung, hrsg. durch Fr. Lücke in den Sämtlichen Werken (1838), erinnerte bereits im Titel an genau dieses Anliegen: Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament (103.163). Die nun vorliegende KGA-Ausgabe dürfte die älteren Editionen von Kimmerle und Frank zumindest im akademischen Kontext ersetzen; Kimmerle selbst spricht von einer »herausgeberische[n] Großtat« (183).
Ebendieser großen Tat hat man sich auf zwei Symposien versichert, die 2013 in Berlin und Wittenberg stattgefunden haben. Die im hier zu besprechenden Band gesammelten Aufsätze gehen auf diese Anlässe zurück. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, Schleiermachers wirkmächtigen Text mit einer im Vergleich zur Kimmerle- oder Frank-Ausgabe veränderten Hermeneutik-Diskussion ins Gespräch zu bringen – man denke an die langsame Rehabilitierung des Autors (204); an die erneute Wertschätzung dessen, was Schleiermacher »Divination« genannt hat; aber auch an die Ausweitung dessen, was verstanden werden soll jenseits des rein Textlichen – Personen, Handlungen, Bilder.
Die Mehrheit der Beiträge erinnert an die klassisch gewordenen Grundentscheidungen, die Schleiermachers Hermeneutik trotz aller Verschiebungen durchziehen: die Konzentration auf die Sprache (durchaus im Kontrast zu den Hermeneutiken vor Schleiermacher, etwa J. A. Ernesti und S. Fr. Morus, 148, 151; aber auch der von K. A. G. Keil, 165–168); die Betonung der Individualität der Sprachbenutzer in der Polarität zwischen Sprache und Sprecher (10–12); das Ausgehen von schwierigen Passagen, wonach sich das Missverstehen »von ganz allein« einstelle, so dass das Verstehen stets ge­wollt werden müsse (16.150); das Bewusstwerden dessen, was dem Autor selbst unbewusst war, wodurch man ihn besser verstehe, als er sich hat selbst verstehen können (31); die Duplizität des Verstehens als grammatische Interpretation (aus der Sprache) und als historische (später technische/psychologische) Interpretation (vom Sprecher aus) (18.59); und die Ablehnung einer genuinen hermeneutica sacra zugunsten einer allgemeinen Hermeneutik (28; etwas anders H. Patsch, s. u.).
Leider wird der Dialog zwischen Schleiermachers Hermeneutik und den skizzierten Entwicklungen in gegenwärtigen Theorien des Verstehens und Interpretierens nur selten gesucht. Bis auf die Beiträge von H. Birus und G. Keil, der Schleiermacher mit Autoren der analytischen Tradition ins Gespräch bringt, dominieren Aufsätze, die sich 1. auf Einzelfragen zu Schleiermachers hermeneu-tischen Texten konzentrieren, 2. deren innere Entwicklung und Rezeption nachverfolgen oder 3. diese auf generellere Fragen von Hermeneutik und Theologie beziehen.
1. Zu speziellen Fragen der Hermeneutik Schleiermachers: Andreas Arndt widmet sich in seinem Beitrag »Hermeneutik und Einbildungskraft« (119–128) dem Versuch, die »Divination« von ihrem Ruf, Teil schlechter Metaphysik zu sein, zu befreien (128). Mit Seitenblicken auf Schlegel und Kant wird der divinatorische Akt als Element der Komposition und als Analogon zur Einbildungskraft vorgestellt (126). Denis Thouard geht der »Sprachphilosophie der Hermeneutik« nach (85–99), um Schleiermachers Wertschätzung der Sprache zugleich von deren Ontologisierung bei Gadamer abzugrenzen (93–98). Simon Gerber geht der »Hermeneutik als Anleitung zur Auslegung des Neuen Testaments« nach (145–161) und verdeutlicht das Gewicht, das die exegetischen Veranstaltungen in Schleiermachers Lehre und dadurch auch in seiner Hermeneutik eingenommen haben (146).
2. Zu Fragen der Entwicklung und Rezeption: Gunter Scholtz stellt Schleiermacher in den »Kontext der neuzeitlichen Hermeneutik-Entwicklung« (1–26). Es wird deutlich, wie stark sich Schleiermachers Ruf, Begründer der Hermeneutik zu sein, dem Bild verdankt, das auf Diltheys Arbeiten zurückgeht (2–4). Jan Rohls zeichnet die Entwicklung von Schleiermachers Verstehenslehre anhand der einschlägigen Manuskripte und Vorlesungen nach (27–55). Sarah Schmidt hebt »Die Kunst der Kritik« hervor (101–117), die zum einen die philologische Kritik in die allgemeine Hermeneutik integriert, zum anderen darauf abzielt, als »Symkritik« ihrerseits kritische Leser hervorzubringen (115). Als solch ein kritischer Leser erweist sich Heinz Kimmerle (183–196), der an den Kontext seiner Hermeneutik-Edition erinnert und diese selbstkritisch kommentiert (193).
3. Zu generellen Aspekten der Hermeneutik und Theologie: Wilhelm Gräb geht einmal mehr »Schleiermachers Beitrag zu einer Hermeneutik der Religion« nach (129–143). Hermann Patsch fragt nach einer »Hermeneutica sacra in zweiter Potenz?« (163–176) und bejaht seine Frage, weil die spezielle Beachtung des Neuen Testaments eingebettet sei in eine allgemeine Hermeneutik (175). In einem kurzen Text bedauert schließlich Wolfgang Virmond, dass für Schleiermacher eine dynamische Hermeneutik verschlossen bleibe, da sein Werk – im Kontrast zu Picasso – in seiner Genese nur partiell nachzuverfolgen sei. Es bleiben die beiden Beiträge, die das Gespräch mit späteren Entwicklungen in der Hermeneutik nach Schleiermacher suchen. Hendrik Birus sieht Schleiermacher als Vorläufer sprachidealistischer Positionen des 20. Jh.s (etwa B. Whorf) und geht Ähnlichkeiten (und Differenzen) Schleiermachers zum Strukturalismus von Roman Jakobson, der Witz-Analyse bei Freud und dem performativen Charakter der Sprache bei Austin nach (57–83, besonders 62.76). Geert Keil geht von einem »Rezeptionsgraben« zwischen hermeneutischer und analytischer Tradition aus (197); und sein eigener Text ist ein schönes Beispiel, wie man ihn überspringen kann (197–224). Insbesondere legt er den Fokus auf Radikalisierungen innerhalb der Sprachphilosophie W. Quines und D. Davidsons gegenüber dem, was wir als hermeneutisch-skep-tischen Gestus bei Schleiermacher kennen. Dies betrifft die Be­deutungsskepsis bei Quine, die Überlegungen zur »radical interpretation«, aber auch das erweiterte »principle of charity«.
Nun ist es weder eine »radikale Interpretation« noch ein »Prinzip der Nachsicht«, wenn man den Herausgebern und Beiträgern für ihre Überlegungen zur Hermeneutik Schleiermachers dankt. Gerade für eine Hermeneutik, die den »Tod des Autors« so verarbeitet, dass dessen Absicht unter hermeneutisch komplexeren Konditionen vorsichtig rehabilitiert wird, mag Schleiermacher erneut interessant sein. Die hier versammelten Texte leben jedenfalls von diesem »divinatorischen« Akt und mögen in die weitere Debatte zum Dual von »Hermeneutik und Kritik« eingehen.