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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

238–240

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Weber, Max

Titel/Untertitel:

Hochschulwesen und Wissenschaftspolitik. Schriften und Reden 1895–1920. Hrsg. v. M. R. Lepsius u. W. Schluchter in Zusammenarbeit m. H.-M. Lauterer u. A. Munding.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XXXIII, 971 S. = Max Weber-Gesamtausgabe, I/13. Lw. EUR 399,00. ISBN 978-3-16-153432-4.

Rezensent:

Konrad Hammann

Im Herbst 1911 reagierte Max Weber mit zehn Leserbriefen auf Presseberichte über zwei Voten, die er kurz zuvor auf dem IV. Deutschen Hochschullehrertag in Dresden abgegeben hatte (397–408.409 f.). Er fand die Kritik, die er dort am »System Althoff« und an den Handelshochschulen geübt hatte, durch die Presse nicht korrekt oder zumindest unvollständig wiedergegeben und bemühte sich nun um Klarstellungen. Soweit seine Dresdner Diskussionsbeiträge die Person des bereits 1908 verstorbenen preußischen Ministerialdirektors Friedrich Althoff und seine Leserbriefe noch weitere Personen tangierten, stellte W. in Abrede, diese persönlich angegriffen oder gar verunglimpft zu haben. Bezüglich der Handelshochschulen kritisierte er im Rahmen eines Vergleiches zwischen dem deutschen und nordamerikanischen Hochschulwesen, dass die Ausbildung des kaufmännisch-industriellen Nachwuchses in Deutschland noch zu stark am Ideal des allgemein gebildeten Kulturmenschen, viel zu wenig hingegen an dem des speziali-sierten Fachmenschen orientiert sei (327–333). Im Hinblick auf das »System Althoff« ließ W. zwar gelten, dass dessen Erfinder die preußische Hochschulpolitik zu signifikanten Erfolgen geführt habe, jedoch monierte er die mangelnde Transparenz der von Althoff eingeleiteten Universitätspolitik, insbesondere die strukturelle Ge­fährdung der Forschungs- und Lehrfreiheit an den Universitäten sowie die Bürokratisierung des ganzen Hochschulwesens (319–324).
Das vehemente Eintreten für die Unabhängigkeit der Wissenschaft von kirchlichen, staatlichen und wirtschaftlichen Vorgaben und für die eigenverantwortliche Organisation von Forschung und Lehre durch die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen prägt auch viele andere der in diesem neuen Band der Max Weber-Gesamtausgabe versammelten über 100 Äußerungen des Juristen, Nationalökonomen und Soziologen zu Fragen des Hochschulwesens und der Wissenschaftspolitik. Die abgedruckten Gutachten zu akademischen Qualifikationsschriften, Berufungslisten und ge­planten Lehrstuhleinrichtungen geben paradigmatisch die Standards zu erkennen, an denen W. die Tätigkeit des Hochschullehrers ausgerichtet wissen wollte: akademischer Anstand, also persönliche Integrität, Rationalität, fachliche Spezialisierung, methodische Sauberkeit, Werturteilsfreiheit. Insofern spiegeln diese Voten zu konkreten Themen der universitären Lebensordnung wider, was W. in seinem Gutachten zum Werturteilsstreit (1913/ 1917) sowie in seinem berühmten, 1917 gehaltenen und 1919 publizierten Vortrag »Wissenschaft als Beruf« programmatisch entfaltet hat.
In nicht wenigen Fällen nutzte W. seine Stellungnahmen, um öffentlichkeitswirksam Konflikte zu provozieren und aus akademischen Streitereien Affären zu machen. Das gilt etwa für seine Auseinandersetzung mit dem Heidelberger Privatdozenten Arnold Ruge, der im Winter 1910/11 aufgrund seiner kritischen Äußerungen zur Frauenbewegung mit Marianne Weber in Streit geraten war (239.241 f.). Besonders hart ging er den Prager Wirtschaftshistoriker Paul Sander an, nachdem dieser eine Abhandlung des Nationalökonomen Arthur Salz, eines Schülers Alfred Webers, überaus kritisch rezensiert und Salz des Plagiats bezichtigt hatte. W. nahm Salz in Schutz, warf Sander seinerseits vor, die persönliche Integrität Salz’ in ehrenrühriger Weise verletzt zu haben, und zog überdies noch die Prager Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät in die Zwistigkeiten hinein (422–442.445 f.452–493.496–498). Die Schroffheit, die W. in diesem und in anderen Konflikten an den Tag legte, wird man nicht auf sein Naturell zurückführen wollen – er konnte etwa den Nationalökonomen Gustav Schmoller, den Vorsitzenden des Vereins für Socialpolitik, wegen dessen Umgang mit Friedrich Naumann auf der Generalversammlung des Vereins 1905 heftig kritisieren (62–64.67–79.73 f.) und dem Angegriffenen doch 1908 zu dessen 70. Ge­burtstag eine überaus freundliche und respektvolle Glückwunschadresse schicken (107 f.). Vielmehr dürfte die übermäßige Polemik, mit der er zumal auf die Verletzung akademischer Normen oder bestimmte wissenschaftliche Optionen anderer reagierte, damit zusammenhängen, dass er als Privatgelehrter, der er von 1903–1919 war, seine akademische Unabhängigkeit einer breiteren Öffentlichkeit extensiv demonstrieren wollte.
Instruktiv sind besonders die Texte, die W.s Verhältnis zum Verein für Socialpolitik und zur Deutschen Gesellschaft für Soziologie dokumentieren. Während er die Arbeit des seit 1872 bestehenden Vereins für Socialpolitik zu stark an praktischen Themen der Sozialpolitik ausgerichtet sah, verband er mit der 1909 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie die Hoffnung, durch sie theoretisch fundierte empirische Forschung auf korporativer Basis vorantreiben zu können (413–417). Zwar gelang es W., im Leipziger Statut der Gesellschaft 1909 das Postulat der Werturteilsfreiheit zu verankern (860), jedoch trat er, weil er diese Forderung nicht erfüllt fand, zuerst aus dem Vorstand und dann, 1914, aus der Gesellschaft aus (28 f.). So eindrucksvoll sein Eintreten für die Werturteilsfreiheit der wissenschaftlichen Forschung sich auch darstellt, bleibt doch die Frage, ob sich dieses Postulat überhaupt einlösen lässt. Zumindest W.s Vorschlag, diejenigen Fragen der Religion, die zu den dogmatisch gebundenen, apologetischen und praktischen Disziplinen gehörten, im Interesse des religiösen Lebens eher in »Institutionen freier kirchlicher Gemeinschaften« als in den staatlichen theologischen Fakultäten zu behandeln (137), zeugt angesichts der hier bestehenden komplexen Problemkonstellationen nicht gerade von Urteilsvermögen.
Der vorliegende Band der Max Weber-Gesamtausgabe ist unter erschwerten Bedingungen zustandegekommen. Heide-Marie Lauterer musste die Arbeit an der Edition krankheitsbedingt aufgeben; ihren Part übernahm und vollendete Anne Munding. M. Rainer Lepsius, der die Herausgeberschaft des Bandes übernommen hatte, starb 2014; statt seiner führte Wolfgang Schluchter die Edition zum Abschluss. Er änderte viele der ursprünglichen Editorischen Berichte sowie den von Lepsius geplanten Aufbau der Edition und schrieb auch die Einleitung (XXV f.). Schluchter entschied sich dafür, wegen der Heterogenität der in den Band aufgenommenen Texte und des langen Zeitraums, in dem sie entstanden, von einer rein chronologischen Anordnung der Dokumente abzusehen. Durchaus noch entsprechend den Richtlinien der Max Weber-Gesamtausgabe ist der Band aufgegliedert in I. Schriften und Re­den, II. Berichte über Reden und Universitätsbeiträge sowie zwei Anhänge, nämlich I: Mitunterzeichnete Aufrufe und II: Statuten der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1909–1910. Darüber hinaus hat Schluchter aber in den beiden Hauptabteilungen des Textbestandes weitere Rubriken eingeführt, in ihnen dann freilich die Texte jeweils chronologisch angeordnet. Ziel dieser Feinrubrizierung war es, das disparate Textmaterial in größtmöglicher Übersichtlichkeit darzubieten (50 f.). Wer – wie der Rezensent – nicht in die Deutungskämpfe um das Werk Max Webers verwickelt ist, dürfte die editorischen Entscheidungen Schluchters für plausibel begründet halten und ihr Ergebnis als leserfreundlich begrüßen.