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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

235–238

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Königseder, Angelika

Titel/Untertitel:

Walter de Gruyter. Ein Wissenschaftsverlag im Nationalsozialismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XI, 321 S. Geb. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-154393-7.

Rezensent:

Hasko von Bassi

Als der Berliner Verleger Walter de Gruyter 1923 mit nur 61 Jahren starb, musste sein Schwiegersohn Herbert Cram die Nachfolge antreten, denn beide Söhne de Gruyters waren im Ersten Weltkrieg gefallen. Für Herbert Cram bedeutete dies den Abschied von seinem eigentlichen Beruf als Maschinenbauingenieur. Auch wenn er vielleicht »keine kulturpolitische Mission« (2) verfolgte, stellte er sich der neuen Aufgabe mit höchstem Engagement. Er leitete das Unternehmen bis 1967.
Beinahe 50 Jahre nach dem Tod Herbert Crams, der den Verlag durch die Zeit des Nationalsozialismus hindurchzuführen hatte, haben die heutigen Nachfahren in Verbindung mit der Walter-de-Gruyter-Stiftung die Initiative zur Erforschung und Darstellung dieser Phase der Unternehmensgeschichte ergriffen und mit der Durchführung der Arbeiten Angelika Königseder betraut, eine fach­lich ausgewiesene Historikerin, die lange Jahre am Zentrum für Antisemitismusforschung tätig war.
Allein die Tatsache, dass dieser Schritt getan wurde, ist zu be­grüßen. Die Stiftung hat K. erkennbar freie Hand bei der wissenschaftlichen Forschungsarbeit gelassen und auch durch die Publikation der Ergebnisse nicht im eigenen Verlag, sondern im Hause Mohr Siebeck, zugleich symbolisch dokumentiert, dass keine Rücksichten zu nehmen waren (VII). Der Wunsch, an der Unabhängigkeit der Darstellung keine Zweifel aufkommen zu lassen, hat K. an einigen Stellen sogar zu schärferen Urteilen veranlasst, als ein unbefangener Leser der Quellen sie haben wird.
So wird etwa die Tatsache, dass der Verlag de Gruyter Hermann Göring zu dessen Hochzeit im Jahre 1935 die »Geschichte der deutschen Kunst« zum Geschenk machte, bei K. zu einem Beispiel dafür, dass das Unternehmen sich »in den Dienst der expansiven und verbrecherischen Ziele des Regimes« (40) nehmen ließ. Für diese Schlussfolgerung stellt der Vorgang nun gewiss keine ausreichende Basis dar. Richtig ist – und das zeigt K. durch ihre gesamte Darstellung hindurch sehr überzeugend –, dass Herbert Cram sich durch die NS-Zeit hindurch mit den Verhältnissen zu arrangieren suchte und als Kaufmann selbstverständlich auf die ökonomischen Vorteile schaute, die sich dem Unternehmen durch die neue Zeit boten. Er konzentrierte sich in seiner Arbeit in der Tat auf das »wirtschaftliche Gelingen« (2).
Detailliert schildert K. die nationalsozialistische Neuausrichtung der Literaturpolitik und beschreibt deren institutionelle Träger wie z. B. die Reichsschrifttumskammer, bevor sie sich dann dem Handeln des Verlags de Gruyter innerhalb der neuen Rahmenbedingungen zuwendet. Geschickterweise gaben die neuen Machthaber den Verlagen, und insbesondere den Wissenschaftsverlagen, gerade keine hundertprozentig klaren Anweisungen, sondern ließen manches in der Schwebe, womit durch Unsicherheit der Anpassungsdruck eher erhöht wurde.
In der Leitungsebene des Hauses de Gruyter gab es erst ab 1939 ein Parteimitglied, als Wolf Meinhard von Staa in die Geschäftsleitung eintrat. (33) K. hat darauf verzichtet, bei der Skizzierung der Haltung »des Verlags« in der NS-Zeit zwischen den einzelnen Ak­teuren zu differenzieren, also den Leitern der Verlagsabteilungen und den Mitgliedern der Geschäftsleitung – dies vermutlich mit einem gewissen Recht, weil im Verlag wenig geschehen sein dürfte, in das Herbert Cram als Patriarch nicht eingebunden und mit dem er nicht einverstanden gewesen wäre.
Der langjährige Geschäftsführer und persönlich haftende Gesellschafter des Verlags, Dr. Kurt Lubasch, hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Handeln Herbert Crams in der NS-Zeit nur zu verstehen ist, wenn man sich klarmacht, wie sehr Cram die Wahrung des schwiegerväterlichen Erbes als Auftrag empfunden hat. Verlag und Druckerei mussten auch der nächsten Generation zur Verfügung stehen. Man muss kein Psychologe sein, um sich vorstellen zu können, dass der Verpflichtungsgrad von einem Schwiegersohn, also einem angeheirateten Familienmitglied, so­gar noch höher empfunden worden sein dürfte, als es bei einem Sohn der Fall gewesen wäre.
Neben dem materiellen Erbe des Schwiegervaters gab es natürlich auch ein geistiges. Und dazu gehörte eine tendenziell liberale politische Haltung (Walter de Gruyter holte Friedrich Naumann in den Verlag) und eine Abneigung zumindest gegen den vulgären Antisemitismus. Walter de Gruyter war – merkwürdigerweise er­wähnt K. das gar nicht – zu Zeiten des Kaiserreichs Schriftführer und Vorstandsmitglied des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. Er hatte (1913) mit gutem Grund das unzureichende intellektuelle Niveau des durchschnittlichen Antisemiten beklagt: »Man sehnt sich ordentlich danach, endlich mal einen wirklichen Antisemiten zu finden, mit dem eine anständige Auseinandersetzung möglich wäre.« (ThLZ 133 [2008], 1367)
Auch wenn Walter de Gruyter nach dem Ersten Weltkrieg be­kannte, in seiner »Stellung zur Rassenfrage […] einen Pendel, we­nigstens des Gefühls, durchgemacht« (W. Wiede, Rasse im Buch, München 2011, 39) zu haben, blieb er doch von dem aggressiven Antisemitismus meilenweit geschieden. Es ist zu vermuten, dass Herbert Cram sich auch dessen bewusst war. Er selbst »teilte […] den Antisemitismus der NSDAP nicht« (36), konstatiert K. zu Recht.
Herbert Crams Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus war gewiss eine ambivalente. Als Mitglied der Paulus-Gemeinde in Lichterfelde stand er beispielsweise der Bekennenden Kirche nahe. Andererseits konnte er sich für Teile der aggressiven deutschen Politik durchaus begeistern. So zahlte er seiner »Gefolgschaft« eine Sondergratifikation anlässlich des sogenannten Anschlusses Österreichs ans Deutsche Reich (47). Die Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Politik blieb aber begrenzt. So unterstützte Cram (wenigstens in Einzelfällen – und das ist schon sehr viel mehr, als man den allermeisten Zeitgenossen zuerkennen kann) politisch Verfolgte. Und auch da, wo er Verlage von jüdischen Vorbesitzern erwarb, betätigte er sich nicht als rücksichtloser Arisierer. (Das gilt wohl selbst für die nicht unproblematische Übernahme von Stilkes Rechtsbibliothek, 124–133.)
Punktuell bewies Herbert Cram immer wieder Mut. Über eine nach NS-Maßstäben jüdische Ehefrau eines Mitarbeiters, die lange Jahre im Verlag tätig gewesen war, schrieb er an einen persönlich befreundeten Parteirichter: »Ich habe bei ihr das gefunden, was man früher altpreußische Pflichterfüllung und Sauberkeit der Gesinnung nannte. Ich wäre glücklich gewesen, wenn alle meine Mitarbeiter eine solche geistige Einstellung gehabt hätten.« (88)
Verlagsintern bemühte Cram sich darum, den totalitären An­sprüchen des neuen Staates Grenzen zu setzen, etwa wenn er der Belegschaft gegenüber im Zusammenhang mit der Einführung des sogenannten Deutschen Grußes erklärte: »Ich erwarte, daß jeder irgendwie geartete Druck auf andersdenkende Kameraden unterbleibt.« (43)
Cram bot zwei politisch Verfolgten durch Honoraraufträge ein Einkommen: dem ehemaligen preußischen Kultusminister Adolf Grimme und Paul Löbe, dem ehemaligen Reichstagspräsidenten, beide SPD.
K. stellt zu Recht fest, dass die Quellen keine Rückschlüsse über Crams Motive zulassen (97). Eine schriftliche Mitteilung Crams zu seinen Beweggründen muss unter Berücksichtigung dessen gelesen werden, was unter den Bedingungen einer mörderischen Diktatur sagbar war und was nicht. Wenn Cram an Adolf Grimme schreibt: »Ich tue dies in der Überzeugung, hiermit auch einen Dienst beim Aufbau unseres nationalen Staates zu leisten, und bin sicher, auch Sie werden unter Würdigung der wirtschaft-lichen Notwendigkeiten der heutigen Regierung das Ihrige dazu beitragen, den nationalen Aufstieg zu sichern« – so hat dies mit seinen tatsächlichen Motiven zunächst einmal rein gar nichts zu tun, sondern stellt erkennbar lediglich eine Rückversicherung für den Fall von eintretenden politischen Schwierigkeiten dar, zumal er Grimme denn auch ausdrücklich um Bestätigung bittet, die dieser umgehend liefert, wenn er Cram gegenüber erklärt, »dass wir einander im Wunsch und Willen zur Arbeit am nationalen Aufstieg begegnen« (94).
Die Verlagspolitik des Hauses de Gruyter in der NS-Zeit war weniger mutig. Jüdische Autoren wie z. B. der Religionsphilosoph Hans-Joachim Schoeps wurden nach und nach fallengelassen. Man kündigte Verträge oder ließ ihre Namen in Sammelwerken oder auch nur in Verlagskatalogen einfach nicht mehr auftauchen. Anstandslos verzichtete man auf die Nennung jüdischer oder po-litisch missliebiger Schriftsteller, als 1936 die Neuausgabe von Kürschners Deutschem Literaturkalender zu veranstalten war, und ähnlich 1940/41 beim Gelehrtenkalender. Speziell im Bereich der juristischen Literatur kann wegen der in Rechtsform gekleideten faktischen Aufhebung des Rechts ein großer Teil der damaligen Publikationen bei de Gruyter (wie anderswo) nur mit Grausen zur Kenntnis genommen werden, wie K. an zahlreichen Beispielen demonstriert.
Als Wissenschaftsverlag war de Gruyter in seiner Lehrbuchliteratur natürlich an die Entwicklung der Curricula gebunden, die in der NS-Zeit eben auch durch die NS-Ideologie geprägt wurde. Rassenhygiene z. B. wurde »Pflichtbestandteil des Medizinstudiums« (148). Von daher trifft K.s Kritik an der Aufnahme eines entsprechenden Lehrbuchs ins Verlagsprogramm, dass dem Verlag »die nationalsozialistische und vehement antisemitische Position« des Autors nicht entgangen sein kann, das Problem nicht hundertprozentig.
De Gruyter war (und ist) ein wissenschaftlicher Universalverlag, der ein großes Spektrum der universitären Disziplinen abbildete. Dazu gehörte auch die Theologie. Das Werk Friedrich Schleiermachers etwa war von Reimer her Bestandteil des Verlagsportfolios. 1935 wurde auf Anraten und durch Vermittlung des theologischen Beraters Herbert Crams, Hans Lietzmann, der Gießener Verlag Töpelmann erworben.
K. schildert sehr anschaulich und gut recherchiert die politischen Schwierigkeiten, denen die theologischen Verlage und auch die theologischen Verlagsabteilungen von allgemeinen Wissenschaftsverlagen ausgesetzt waren. Auch bei de Gruyter reduzierte sich die Zahl theologischer Neuerscheinungen deutlich. Und man vermied Titel, die den Verlag in die Nähe von konfessionellen Un­ternehmungen gerückt hätten. Eines der bedeutenden Editionsvorhaben des Hauses Töpelmann, die sogenannte Gießener Mischna, konnte während der Nazi-Zeit, d. h. nach Übernahme durch de Gruyter, nicht fortgeführt werden.
Anders verhielt es sich mit den beiden theologischen Zeitschriften des Hauses Töpelmann. Sie erschienen sogar bis gegen Ende 1944. Unrühmlich war die Herausgeberschaft der ZAW durch den Antisemiten Johannes Hempel, noch unrühmlicher die Tatsache, dass der Verlag ihn bis 1964 im Herausgeberkreis beließ. (Dies alles ist von Cornelia Weber in ZNThG 5, 1998, ausführlich dargestellt worden.) Hatte de Gruyter den ZAW-Herausgeber Hempel von Töpelmann gewissermaßen ererbt, so hatte man auf die Berufung Gerhard Kittels zum Mitherausgeber der ZNW im Jahre 1943 doch direkten Einfluss gehabt. K. hat keine Unterlagen dazu finden können. Immerhin scheint die Tatsache, dass Kittel seit 1933 Nazi war, nicht als Hinderungsgrund empfunden worden zu sein. Wohl nicht zu Unrecht wertet K. diese Personalentscheidung »als Kotau des Verlages vor den Machthabern« (255).
Die ZSTh hatte de Gruyter 1936 von Bertelsmann übernommen und damit u. a. den DC-Theologen Emanuel Hirsch ins Haus ge­holt. Auch diese verlegerische Beziehung setzte sich nach Ende der Nazi-Herrschaft bruchlos fort.
Der Historiker Christoph Jahr erklärte jüngst in der NZZ, er hätte dem vorliegenden Buch »mehr erzählerische Finesse […] gewünscht« (NZZ 31.8.16). Das mag man so oder anders sehen. Problematischer erscheint, dass die Strukturierung der Arbeit nicht an allen Stellen überzeugt. So fragt man sich, ob es im Abschnitt »Er­folgreiche und gescheiterte Verlagsübernahmen« (116 ff.) nicht sinnvoller gewesen wäre, bei den Verlagsübernahmen, also Ge­schäften, die den Verlag Walter de Gruyter von jeher geprägt ha­ben, »normale« Käufe, sprich solche, die ebenso gut auch 1925 oder nach dem Zweiten Weltkrieg hätten stattfinden können, von de­nen zu unterscheiden, die durch die nationalsozialistische Arisierungspolitik veranlasst wurden oder bei denen dies jedenfalls zu prüfen wäre, weil die Verkäufer nach NS-Definition Juden waren. Die Übernahme des Verlags Krayn oder von Stilkes Rechtsbibliothek sind in der historischen Beurteilung eben etwas vollkommen anderes als der Kauf des Gießener Verlags Töpelmann.
Auch der an die beiden historischen Kapitel (»Der Verlag 1933–1939« und »Der Verlag 1939–1945«) angehängte Abschnitt über »Wichtige Programmbereiche« ist in der Auswahl der dann ge­nannten Themenfelder nicht ganz plausibel, denn es werden eigentlich nur die Geisteswissenschaften (Jura, Altertumskunde, Theologie – »die Naturwissenschaften bleiben leider ausgeklammert«, so Reinhard Wittmann in der FAZ vom 10.8.16) adressiert und es werden dann in einem Unterabschnitt – systematisch eigentlich querliegend, weil nach Publikationsform kategorisiert – »Zeitschriften und periodisch erscheinende Veröffentlichungen« behandelt, obwohl z. B. im Abschnitt »Theologie« wesentlich auch über Zeitschriften und deren Entwicklung in der NS-Zeit berichtet wurde, nämlich über die ZAW, die ZNW und die ZSTh. Das wirkt etwas unorganisch.
K.s Fazit, dass de Gruyter sich »nicht vom Großteil der mittelständischen Unternehmen [unterschied], die sich im nationalsozialistischen Deutschland einrichteten und opportunistisch vom Aufschwung profitierten« (302), ist so unspektakulär wie zutreffend. Dass diejenigen, die heute als Nachfahren in der Walter-de-Gruyter-Stiftung Verantwortung tragen, sich dieser Erkenntnis stellen und sie publik machen, verdient Respekt.