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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

232–233

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Damberg, Wilhelm, u. Karl-Joseph Hummel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Katholizismus in Deutschland. Zeitgeschichte und Gegenwart.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015. 230 S. m. 5 Abb. u. 2 Tab. = Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen, 130. Lw. EUR 29,90. ISBN 978-3-506-78078-2.

Rezensent:

Sabine Joy Ihben-Bahl

Hinter dem weitgefassten Titel verbirgt sich ein Sammelband, dem eine Tagung zum 50-jährigen Bestehen der »Kommission für Zeitgeschichte« 2012 vorausgeht. Ursprünglich gegründet, um die Rolle der katholischen Kirche im Nationalsozialismus zu untersuchen, was nicht selten mit dem Vorwurf des apologetischen Interesses einherging, ist die Arbeit der Kommission im Laufe der Zeit selbst Gegenstand der Reflexion geworden, so berichten die Herausgeber im Vorwort und der ausführlichen Einführung von Damberg. Er zeigt den Wandel des Forschungsgegenstandes und auch der Methodik auf. Das Forschungsinteresse der Kommission hat sich bald dahingehend erweitert, dass sowohl die Zeit vor 1945 – seit der Etablierung eines sozialen und politischen Katholizismus in der 2. Hälfte des 19. Jh.s – betrachtet wird als auch die nach 1945 – so können auch die Entwicklungen seit dem II. Vatikanum nicht unbedacht bleiben. Freilich wird zum Jubiläum auch ein Blick in die Zukunft der Kommissionsarbeit gewagt. Diese Perspektiven werden in dem Tagungsband vereinigt und die Beiträge in drei Abschnitte unterteilt.
Unter der Überschrift »I. Gründerjahre der Katholizismusforschung« will M. E. Ruff Gründe ermitteln, warum es überhaupt in den 1960ern zum vehementen Wunsch nach der Aufarbeitung der Rolle der katholischen Kirche im Nationalsozialismus kam, der in erbitterten öffentlichen Diskussionen seinen Ausdruck fand. In fünf Thesen widerlegt bzw. differenziert er u. a. Antworten zur Entstehung und zum Verlauf der Aufarbeitung (z. B. müssen die Diskussionen als »›Stellvertreter‹-Kriege um die Positionierung des Katholizismus in der Politik und der Gesellschaft der Bundesre-publik« [33] bewertet werden). H. Maier analysiert, wie christlicher Widerstand im Nationalsozialismus nach 1945 wahrgenommen wurde (einhergehend mit einem Wandel des Widerstandsbegriffs): Von einer heroisch überschätzenden Rolle »der Kirche« entwickelte sich die Einschätzung hin zur Betonung des einzelnen, einsamen Widerständlers, der nicht auf eine große Widerstandstradition der Kirche gegenüber der Obrigkeit zurückgreifen konnte. Mit Statis­tiken untermauert, will A. Liedhegener die Interdependenz von Katholizismus und gesellschaftspolitischen Umbrüchen nach 1945 auch im Kontext der Bedeutung der Unionsparteien nachweisen. Ferner kann er interessante konfessionelle Unterschiede in der Be­wertung der gesellschaftspolitischen Gegenwart Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre aufzeigen. F.-X. Kaufmann erinnert sich in seinem Beitrag an die ihn prägende Zeit als Berater der Gemeinsamen Synode in Arbeitsgruppen mit u. a. Metz und Rahner. Unter der Überschrift »II. Zur Zukunft der Katholizismusforschung: Kontexte und Fragen« beleuchtet F. Bösch, wie – entgegen der landläufigen Kritik – Medien den Katholizismus auch konstruktiv mit-gestaltet und sogar einen Beitrag zur Ökumene geleistet haben. F. Metzger kann Transformationsetappen des Katholizismus feststellen, indem sie Verschiebungen in Sprache und Kommunikation analysiert. Sakralisierung wird zum Schlüsselbegriff ihrer konstruktivistischen Konzeption. M. Sellmann zeigt nach einer Diagnose der Wandlung der katholischen Kirche von der Institution zur Organisation, wie sich sieben von der Bochumer Pastoraltheologie im Kontext eines dafür eingerichteten Zentrums herausgearbeitete Herausforderungen ergeben, denen sich die Organisation nun stellen muss. Unter »III. Perspektiven künftiger Katholizismusforschung« folgen den von F. Kramer in 19 Thesen zusammengefassten auf der Tagung erarbeiteten Vorhaben der Kommission Kommentare, Anmerkungen und Vorschläge zu den Thesen von O. Blaschke, Th. Brechenmacher, H. Oelke und Th. Grossbölting. Der Tenor ist schnell klar (so dass Redundanzen nicht ausbleiben) – die Kommission will in den nächsten Jahrzehnten interdisziplinärer, internationaler, interkonfessioneller, interreligiöser, ferner gendersensibler arbeiten und dabei ihre Wurzeln – Quellendarlegung und Analyse (nicht zuletzt des bestimmt noch nicht »ausgeforscht[en]« [Brechenmacher, 161] Themas des Katholizismus zwischen 1933 und 1945) – nicht vergessen. Statt eines Schlusswortes schließt sich ein Dialog von W. Damberg und M. Kissener über diese Vorhaben an.
Der Aufsatzband dokumentiert eindrücklich die Bedeutung dieses erfolgreichen Langzeitprojektes, das Geschichte und Wandel des deutschen Katholizismus unter gesellschaftspolitischer und sozialer Perspektive aufgrund eines engagierten Forscherkreises unterschiedlicher Disziplinen reflektieren und darstellen kann. Die Aufsätze des zweiten Teils ragen mit ihren eigenen metho-dischen Konzeptionen zur Bestimmung des Katholizismus besonders heraus.