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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

228–232

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Bank, Jan, with Lieve Gevers

Titel/Untertitel:

Churches and Religion in the Second World War. Transl. by B. Doyle.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury Academic 2016. XV, 605 S. m. 20 Abb. = Occupation in Europe. Kart. US$ 29,95. ISBN 978-1-8452-0822-6.

Rezensent:

Martin Greschat

Der Autor dieses Buches ist Jan Bank, emeritierter Professor für niederländische Geschichte an der Universität Leiden. Da er mit Lieve Gevers, Emerita für Kirchen- und Theologiegeschichte an der Ka­tholischen Universität Löwen, mehrfach zusammenarbeitete, sie auch Leiterin der von der Europäischen Union geförderten Studiengruppe »Auswirkungen der nationalsozialistischen und faschis­tischen Besetzungen in Europa« war, wünschte B. ihre Erwähnung auf dem Titelblatt. Beide Gelehrte sind ausgewiesene Kenner der Materie, u. a. durch zwei 2007 edierte Sammelbände »Religion unter Druck« (Religion under Siege), in denen die kirchlichen Reaktionen des römischen Katholizismus bzw. von Protestanten, Orthodoxen und Muslimen im besetzten Europa behandelt werden. Das dort vorgelegte Material bildet auch die Grundlage des hier vorzustellenden Buches. Dabei soll es ausdrücklich um die Auseinandersetzung mit den beiden totalitären Ideologien gehen. Faktisch steht jedoch die Behandlung des Faschismus und Nationalsozialismus im Vordergrund. B. beruft sich zwar auf Timothy Snyder (Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011, XV). Doch die in dieser Studie geleistete Zusammenführung von nationalsozialistischem und sowjetischem Terror gelingt B. nicht im gleichen Maß. Leider werden hier auch nur die von Deutschland und der Sowjetunion beherrschten Gebiete behandelt, also nicht die Vorgänge in Asien, Afrika und Nordamerika. Mag diese Einschränkung verständlich sein, leuchtet der Verzicht auf die Berücksichtigung Großbritanniens kaum ein. Denn hier vollzog sich in jenen Jahren eine bemerkenswerte Annäherung führender anglikanischer Kirchenführer an den neuen Verbündeten in Gestalt eines idealisierten Stalinismus. Gleichzeitig begegnete in kirchlichen Kreisen auch eine weitreichende Zustimmung zu den britischen Flächenbombardements und somit der Vernichtung deutscher Städte. Bischof Bells Widerspruch kostete ihn die Anerkennung seiner Landsleute. Diese Dimension ist wichtig, weil sie zeigt, dass die nationalsozialistische Brutalisierung des Weltkriegs auch auf dessen Gegner übergriff. Mit dem Verzicht auf diesen Kontext bewegt sich B. methodisch auf der Linie von Xavier de Montclos, der in beeindruckender Weise das Verhalten »von Christen angesichts des Nazismus und Stalinismus« geschildert hat (Les Chrétiens face au Nazisme et au Stalinisme. L’épreuve totalitaire 1939–1945, Paris 1983).
Das Material ist in zwölf Kapitel und einen knappen Ausblick gegliedert. Am Anfang steht ein Panoramarundblick über das Christentum auf dem europäischen Kontinent in der Zwischenkriegszeit (1–52). Als kennzeichnend für den Protestantismus wird der Gegensatz zwischen Modernismus und Orthodoxie genannt (9). Das gilt sicherlich für Nord- und Westeuropa, aber kaum für den Süden und Osten des Kontinents. Dort überlagerten ethnische und nationale Überzeugungen und Zielsetzungen eindeutig die theologischen. Treffend wird auf den Aufschwung des römischen Ka­tholizismus hingewiesen (23), ausführlich die Verfolgung der Russischen Orthodoxen Kirche durch die Bolschewiken entfaltet (27–38). Knapp ist dann von den Orthodoxien auf dem Balkan die Rede sowie von den Anfängen der Ökumenischen Bewegung. Eben­falls chronologisch sind die folgenden Kapitel konzipiert. Das 2. Kapitel (53–113) behandelt die nationalsozialistische Ideologie und den daraus folgenden »Kirchenkampf« bis zum Beginn des Weltkriegs (53–79). Ebenso verfährt B. mit der Darstellung der Konfrontation des Katholizismus in derselben Zeit mit dem Faschismus in Italien, dem spanischen Bürgerkrieg sowie den Bedrückungen durch den Nationalsozialismus in Deutschland (79–99). Als exemplarisch für die Orthodoxien werden die Vorgänge in Rumänien behandelt (107–113). Unorganisch mutet der dazwischen eingefügte Absatz über die katholische Befassung mit der »jüdischen Rasse« an (100–107). Das war in jenen Jahren eine zentrale Frage der gesamten Christenheit.
Die beiden folgenden Kapitel erörtern die Lage der Kirchen bis 1941, dem Jahr des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, in den vom Nationalsozialismus überwältigten Ländern. Knapp wird eingangs die Entwicklung im Saarland und in Österreich geschildert, in Tschechien und der Slowakei, nach dem Hitler-Stalin-Pakt dann in Polen, der Ukraine sowie den baltischen Staaten (115–161). Es folgen in der Reihenfolge ihrer Unterwerfung Dänemark und Norwegen, Frankreich mit Elsass-Lothringen sowie Belgien und die Niederlande, im Südosten Rumänien, Albanien, Ungarn und Griechenland, schließlich Jugoslawien (163–203). Eigene Abschnitte sind dem Islam (203–206), dem Katholizismus (206–210) und der Orthodoxie gewidmet (210–213). Die unterschiedliche Anpassung der Kirchen an das Regime sei in dieser Region vor allem aufgrund der göttlichen Weisung des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit erfolgt oder aber als Strafe Gottes für den moralischen und religiösen Abfall in der Vergangenheit (214). Doch auch ein Nachdenken über die Berechtigung eines christlichen Widerstands habe es gegeben, insbesondere in Norwegen. Was hier »Widerstand« bedeutet, wird leider nicht definiert. Faktum ist, dass sich in diesem Zeitabschnitt auch in christlichen Kreisen in sämtlichen besetzten oder von Deutschland abhängigen Ländern ein ähnlicher Prozess vollzog: Eine Besinnung auf die eigenen nationalen, kulturellen und eben auch religiösen Traditionen setzte ein. Daraus konnten, wie im »freien Frankreich« (Vichy) oder in der Slowakei, für bestimmte Kirchenführer auch Schnittmengen mit der nationalsozialistischen Herrschaft erwachsen. Sehr verschiedene Formen der »An­passung« waren die Folge. Mit der Hervorhebung des Eigenen konnte jedoch, unter Umständen sogar gleichzeitig, eine partielle oder sogar umfassende Abgrenzung von den neuen Machthabern einhergehen. Dabei handelte es sich um einen geistig-geistlichen Widerstand. Hier betonte man die Distanz bis hin zur entschiedenen Ablehnung. Dass es sich bei alledem um einen Prozess mit allerlei Übergängen handelte, liegt auf der Hand. Die von Land zu Land unterschiedlichen politischen, kirchlichen und mentalen Voraussetzungen spielten ebenso eine Rolle, selbstverständlich auch das Vorgehen der Nazis, das sich in Polen grundsätzlich von dem in Dänemark unterschied. Schließlich ist der Zeitfaktor zu berücksichtigen. Was mancher 1939/40 noch positiv sehen mochte, hatte 1941 ein anderes Gesicht gewonnen. Einen qualitativ weiteren Schritt bedeutete schließlich die Teilnahme an Gewaltmaßnahmen. Diesen Weg konnten einzelne Christen gehen, jedoch nicht die Kirchen.
Das 5. Kapitel beleuchtet die Zeit von 1941 bis 1943, d. h. vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion bis zu den Niederlagen der Wehrmacht in Stalingrad und in der Kursker Schlacht (219–254). B. hebt nachdrücklich die Veränderung des Krieges in Europa durch das deutsche Vorgehen hervor. Das ist fraglos richtig. Doch breitere Auswirkungen ließen sich historisch nicht schon 1941, sondern erst infolge der deutschen Niederlagen erkennen. Kenntnisreich wird hier zunächst vom Engagement der verfolgten Russischen Orthodoxen Kirche für das Vaterland informiert, über das Chris­tentum in Deutschland in dieser Zeit, in der Ukraine und Weißrussland, im Baltikum sowie an den Rändern Europas, nämlich in Rumänien und Finnland. Knapp wird auf die religiösen Aufbrüche in den von Deutschen besetzten Gebieten eingegangen. Bemerkenswert ist, dass weder die deutschen Versuche, gefügige Bischöfe zu finden, noch deren Zögern, Taktieren und Intrigieren gegeneinander die lebendige Erneuerung des christlichen Glaubens in diesen Regionen zu beeinflussen oder gar zu behindern vermochte.
Die wachsenden Repressionen der Besatzungsmächte steigerten die Bereitschaft zum Widerstand, wie umgekehrt zunehmender Widerstand die Repressionen verschärfte. Von dieser Eskalation der Gewalt handeln die Kapitel 6 und 7 über die Haltung der »Kirchen zwischen Loyalität und Widerstand« (255–295) sowie »zwischen Zwangsarbeit und Widerstand« (297–331). Die Überschriften erfassen die Ereignisse von 1943 bis 1945 nur sehr bedingt. Widerstand gab es, wie erwähnt, in vielfältigen Formen seit Langem. Kommunistische Gruppen agierten ab 1941 gewaltsam, oft ohne Rücksicht auf die Folgen für die eigenen Landsleute. Zwangsarbeiter wurden von den Deutschen seit 1940 ausgehoben, verstärkt allerdings nach Stalingrad und der Landung der Alliierten in Nordafrika. Dass auch in diesen Kapiteln nicht exakt zwischen verschiedenen Motivationen und Formen des Widerstands unterschieden wird, erschwert die systematische Bündelung der höchst unterschiedlichen Vorgänge auf dem Balkan und in Skandinavien, in Westeuropa oder in Italien. Differenziert werden die komplexen Verbindungen sowie Gegensätze zwischen den unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppierungen dargestellt. Doch inwiefern handelte es sich dabei um spezifisch christliche Auseinandersetzungen? Natürlich gehörten Hilfestellungen aller Art für Verfolgte zum Widerstand, ebenso auch gewaltsame Aktionen. Doch dasselbe leisteten Nichtchristen, Agnostiker und Atheisten. Das hier erwähnte Konzept eines Widerstands aus »rein christlichen Gründen« (325) verstellt das Problem, weil es von der Fiktion eines rein transzendentalen christlichen Glaubens ausgeht.
Die folgenden drei Kapitel fallen insofern aus dem bis dahin Berichteten heraus, als sie den gesamten Stoff erneut chronologisch behandeln, jetzt unter dem Gesichtspunkt der nationalsozialistischen Massenmorde an Behinderten, Sinti und Roma, an Homosexuellen, Zeugen Jehovas sowie vor allem an Juden. Wiederholungen und Überschneidungen sind die Folge: Denn von alledem war zumindest andeutungsweise bereits die Rede, auch vom Widerspruch und Widerstand dagegen; jetzt geht es um Verfolgungen und Morde im Deutschen Reich (333–369). Manche Zusammenhänge überblickt B. nicht, so wenn er z. B. den württembergischen Pfarrer Hermann Diem zum bayerischen Landesbischof macht (348)!
Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums in den von Deutschland besetzten Ländern sind das Thema des 9. Kapitels (369–417). Ein dort weit verbreiteter Antisemitismus er­leichterte oft die von den Einsatzgruppen veranstalteten Massaker. Die kirchlichen Repräsentanten schwiegen in der Regel. Es gab gewiss durchgängig einzelne Christen, die anders dachten und handelten. Aber sie blieben Ausnahmen. Dasselbe gilt im Blick auf die Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den Staaten, die mit Deutschland verbündet waren (419–467). Ein knappes Kapitel ist schließlich dem Bereich »christlicher Hilfe und Zuflucht« für die Verfolgten gewidmet (469–481). Einzelnes wurde auch hier schon früher dargelegt.
Das letzte Kapitel behandelt die Rolle kirchlicher Führergestalten sowie der Ökumene im Kontext des Zweiten Weltkriegs (483–513). Ausführlich geht es um das Schweigen von Pius XII. zum Massenmord an den Juden. Der Papst wollte nach allen Seiten hin seine Neutralität bewahren. Über die damit verbundene Religiosität urteilte der Bischof von Triest: »Während die Welt in Flammen steht, meditiert der Vatikan über ewige Wahrheiten und betet leidenschaftlich.« (494) Nicht anders verhielten sich der Patriarch von Konstantinopel, natürlich der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche (denn hier gab es keine »jüdische Frage«) und auch der entstehende Ökumenische Rat der Kirchen.
Zusammengefasst: B. hat eine überaus materialreiche, dichte Studie zum Verhalten von Kirchenführern und teilweise auch zu einzelnen christlichen Persönlichkeiten in Europa während des Zweiten Weltkriegs vorgelegt. Über einzelne historische Ungenauigkeiten ist bei diesem weit gespannten Thema nicht zu rechten, auch nicht über die Möglichkeit anderer Akzentuierungen. Dass die Vorgänge auf der oberen kirchlichen und politischen Ebene im Vordergrund stehen, ist nicht zuletzt Ausdruck der Forschungslage in den verschiedenen Ländern und Konfessionen. Darin wurzelt dann, dass es hier vor allem um die Präsentation des Materials geht, weniger um dessen systematische Durchdringung.
B.s Ausblick auf die historischen und religiösen Folgen, die aus dem Verhalten der Kirchen während des Zweiten Weltkriegs erwachsen sind, betonen an erster Stelle, dass die Kirchen die Konfrontation mit den totalitären Systemen überlebt haben. »Die christlichen Kirchen überlebten Krieg und Besatzung und schafften es, aus dem Chaos des Endes, das so nahe schien, wieder aufzuerstehen, beschädigt vielleicht, aber doch wohlbehalten.« (515) Diesen optimistischen Ausblick konfrontiert der Politologe und Historiker Peter Graf Kielmansegg mit der eher pessimistischen »Vermutung, dass die – letztlich nicht bestandene – Bewährungsprobe des Nationalsozialismus beide Kirchen eher Substanz gekos­tet als sie gestärkt hat« (Das geteilte Land. Deutsche Geschichte 1945–1990, München 22007, 415). Die Antwort muss wohl offen bleiben, auch nach der Lektüre dieser gewichtigen Darstellung.