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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

224–226

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Köpf, Ulrich

Titel/Untertitel:

Martin Luther. Der Reformator und sein Werk.

Verlag:

Ditzingen: Philipp Reclam Verlag 2015. 254 S. Geb. EUR 22,95. ISBN 978-3-15-011042-3.

Rezensent:

Hellmut Zschoch

Wer ein wenig mit dem Œuvre von Ulrich Köpf vertraut ist, wird sein Lutherbuch mit gespannter Erwartung in die Hand nehmen – gespannt zum einen, wie der emeritierte Tübinger Kirchenhistoriker den Reformator in seinem Verhältnis zum mittelalterlichen wie zum neuzeitlichen Christentum zeichnet, zum anderen, wie er Luther zwischen Wissenschaft und religiöser Erfahrung erschließt, drittens, wie er sich in der ihm eigenen kritischen Nüchternheit dem nicht selten – positiv wie negativ – monumentalisierten Reformator nähert und dabei die didaktische Herausforderung meistert, auf knappem Raum Leben und Werk Luthers in seinem besonderen Profil einer interessierten Leserschaft nahezubringen. Um es vorwegzunehmen: Diese mehrfache Gespanntheit wird nicht enttäuscht. Das Buch präsentiert einen Luther, der für den Aufbruch in eine neue Zeit steht, ohne seine Herkunft aus der alten unkenntlich zu machen. Es lässt deutlich werden, wie eine monastisch gebildete Frömmigkeit sich im Horizont der humanistischen Zuwendung zur Philologie und zur Geschichte weitet und kirchliche und gesellschaftliche Gestaltungskraft gewinnt. Die Darstellung kommt ohne jeden protestantischen Überschwang aus und zeigt gerade so höchste Sensibilität für die Richtung und die innere Konsistenz der Theologie Luthers und seines kirchlichen und politischen Wirkens – und für die Brüche und Leerstellen darin. Dafür findet K. die Form der Aneinanderreihung von 35 inhaltlichen Kapiteln als Miniaturen von zwei bis dreizehn Druckseiten, die einerseits der Chronologie folgen und darin bestimmte gleichzeitige Entwicklungen auch auf mehrere Kapitel verteilen (z. B. die sich mit dem Jahr 1525 verbindenden Konstellationen und Ereignisse in den Kapiteln 23 bis 27, 132–169), die andererseits inhaltlich Zusammengehöriges zueinander ordnen (z. B. Kapitel 33: »Luthers Wirken an der Universität Wittenberg seit 1524«, 207–218).
Den Rahmen bilden zwei perspektivische Kapitel, überschrieben »Was wissen wir von Martin Luther?« (9–14) und »Wer war Martin Luther?« (242–245). Das erste informiert über die Quellenlage, notiert die Besonderheit der Zweisprachigkeit im auf Luther zurückgehenden Textbestand und benennt Grenzen des Wissens, die zu Forschungsdiskussionen führen. Bei den hier genannten Beispielen trifft K. für das Geburtsjahr 1483 oder 1484 keine Entscheidung, schließt sich hinsichtlich der Datierung und Zielrichtung der Romreise den jüngsten Forschungen von Hans Schneider an (ausgeführt 30–34) und hält die »Rede von ›Luthers Thesenanschlag‹« – nach Erörterung der Quellenlage – für »historisch unbegründet« (14) – die Darstellung zum »Schritt vom 31. Oktober 1517« (49–54) zeigt dann, dass die Initialzündung der Reformation auch ohne diesen Akt nichts an Dramatik verliert. Unter den Forschungsdiskussionen nicht genannt wird von K. die in der Lutherforschung des 20. Jh.s heftig diskutierte Frage nach Zeitpunkt, Charakter und Inhalt der »reformatorischen Entdeckung«, bei der es sich freilich eher nicht um eine Frage der historischen, sondern der theologischen Interpretation der Quellen handelt. Offenbar hält K. die Auseinandersetzungen darüber für erledigt, wenn er dann seinerseits ohne weitere Diskussion »die entscheidende Wende in Martins theologischem Denken« als »umstürzende Erkenntnis« (42) mit der Auslegung von Ps 70(71),2 in der ersten Psalmenvorlesung verbindet und damit zu der zuerst 1929 von Erich Vogelsang vertretenen Auffassung zurückkehrt.
Das Abschlusskapitel fasst die gegenüber heilsgeschichtlichen Deutungen der Bedeutung Luthers (Werkzeug Gottes oder Ketzer) nüchterne historische Betrachtung des Reformators zusammen: Zum einen erscheint dieser als Mensch, dessen »geistige[] und emotionale[] Wurzeln […] im späten 15. Jahrhundert« lagen (243) und dadurch vor allem in seiner Wahrnehmung der Gegner in Feindschaft gefangen blieb und sich zu »oft maßloser Polemik hinreißen« (243) ließ, während er das Ziel einer Reform der gesamten abendländischen Christenheit verfehlte. Zum andern sieht K. die »epochale Bedeutung« (244) des Reformators gerade in der Kehrseite dieses Scheiterns, in der – über Luthers eigene Intentionen hinausweisenden – »Begründung eines geistig-religiösen Pluralismus«, im 16. Jh. verbunden mit dem Übergang zu einer »erfahrungsbezogenen Schrifttheologie« (244) und deren sprachlicher Gestaltung, vor allem in Bibel, Katechismus und Gesangbuch. Luther bleibt gegenwärtig, für K. nicht in kurzatmiger Aktualisierung, sondern in geduldiger, engagierter, erfahrungsoffener Wahrnehmung seines Werkes: Dieses gehört »zu jenen großen sprachlichen Hinterlassenschaften, mit denen man sich immer wieder beschäftigen kann, um immer neue Entdeckungen zu machen. Geduldiger Lektüre erschließen sich ihre Schätze: ein Reichtum an Gedanken und Formulierungen zu vielen Themen des menschlichen Lebens und eine religiöse Tiefe, die Luther eine einzigartige Stellung in der neueren Geschichte zuweisen.« (245)
Die in diesen Rahmen gefügte Darstellung, die hier im Einzelnen nicht nachzuzeichnen ist, lässt sich als Anleitung zu den im zitierten Schlusssatz des Buches anvisierten Entdeckungen auf dem Weg zu Luther, mit Luther und über Luther hinaus lesen. K. füllt dabei die Bezeichnung des »Reformators« im Untertitel seines Buches, indem er theologische Einsichten, fromme Lebensgestaltung und kirchlich-politisches Handeln durchgängig unterscheidet und aufeinander bezieht. Es geht auf diesem Weg nicht um aneinandergereihte theologische Einsichten, die als »reformatorisch« kategorisiert werden, sondern um »evangelische« Erfahrungstheologie als treibende und verändernde Kraft in Frömmigkeit, Kirche und Politik. Und so geht es dann auch um die Grenzen dieser Kraft, die K. gerade in der sich zwischen 1523 und 1526 bei gleicher schrifttheologischer Ausgangsposition ins Gegenteil verkehrenden Positionierung gegenüber den Juden (vgl. 123–126 und 231–237) als »geistige Rückschritte« (231) wahrnimmt – womit deutlich genug ist, dass der Titel »Reformator« nicht unterschiedslos das gesamte Lebenswerk Luthers abdeckt.
Mit seiner in Anlage und Durchführung historischen, den Reformator in seiner Fremdheit wahrnehmenden und ihn gerade so dem gegenwärtigen Selbst- und Weltverstehen nahebringenden Darstellung hat K. das Buch vorgelegt, das auf allen Büchertischen zum Reformationsjubiläum in die vorderste Reihe gehört. Den Liebhaberinnen und Liebhabern der christlichen Religion, ihrer Theologie und ihrer Geschichte, die Luther und seine Bedeutung (besser) kennenlernen und (tiefer) verstehen wollen, gibt es klare, historisch-theologisch verantwortete Orientierung. Zugleich hält es für diejenigen, die Luther bereits kennen und verstehen (oder zu kennen und zu verstehen glauben), eine ebenso herausfordernde wie erbauliche Gesamtschau bereit. Ein Buch, das bleibt.