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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

222–224

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Goertz, Hans-Jürgen

Titel/Untertitel:

Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten. Eine Biographie. Völlig überarb. u. teilw. neu geschriebene Neuausgabe.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag 2015. 352 S. m. 25 Abb. u. 1 Kt. Geb. EUR 24,95. ISBN 978-3-406-68163-9.

Rezensent:

Konrad Hammann

Der 2002 emeritierte Hamburger Sozial- und Wirtschaftshistoriker Hans-Jürgen Goertz forscht seit über einem halben Jahrhundert zu Thomas Müntzer, der Täuferbewegung des 16. Jh.s und der sogenannten radikalen Reformation und ihren Protagonisten. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die zweite, überarbeitete und teilweise neu geschriebene Ausgabe der Müntzer-Biographie, die G. 1989 unter dem Titel »Thomas Müntzer. Mystiker, Apokalyptiker, Revolutionär« vorgelegt hatte. Jener erste Anlauf, das Leben, Denken und Wirken einer der umstrittensten Gestalten der frühen Reformationszeit in einem allgemeinverständlichen Sachbuch zu vergegenwärtigen, stand noch ganz im Bann des 1989 sich freilich bereits erkennbar aufweichenden ideologischen Gegensatzes zwischen der in der DDR betriebenen marxistischen Deutung Müntzers als eines Sozialrevolutionärs und der in der westdeutschen Kirchenhistoriographie bevorzugten Sicht Müntzers als eines eigenständigen Theologen und Liturgikers neben Luther. G. verfolgte schon damals die Intention, das theologische Denken und die revolutionären Aktivitäten Müntzers in ihrer wechselseitigen Beziehung zueinander herauszustellen und miteinander zu verbinden (vgl. auch die Besprechung von R. Mau, ThLZ 117 [1992], 45 f.).
Diesem Ansatz ist G. in der Neuausgabe seines Buches treu geblieben. Auch dessen Aufbau hat sich kaum verändert. Lediglich zwei Kapitel sind mit neuen Überschriften versehen, unter ihnen das zu Müntzers Zeit in Allstedt, der dort von ihm durchgeführten Gottesdienstreform und seinem Konflikt mit dem Grafen Ernst von Mansfeld (1523/24). Das erste Kapitel zur Wirkungs- und Re­zeptionsgeschichte Müntzers (»Verzerrte Bilder«) ist nunmehr in den Anhang I ausgegliedert und dort um einen weiteren Abschnitt »Thomas Müntzer und die Theologie heute« ergänzt worden (249–286). Neu hinzugekommen sind im Anhang II eine Karte mit den Stationen des unsteten Lebens Müntzers von Stolberg bis Prag, von Zwickau bis Mühlhausen, von Basel bis Frankenhausen sowie eine instruktive Zeittafel, die Daten zu Müntzer, Luther und allgemein relevante Ereignisse der Zeit synchron präsentiert (288–297). Beides ist zum Verständnis der Lebensgeschichte Müntzers und seiner Rolle in der Geschichte der Reformation sehr hilfreich.
Darüber hinaus arbeitet G. die Erkenntnisse der Müntzer-Forschung seit 1989 in seine Darstellung ein. Zu nennen wären hier vor allem die Beiträge, durch die Siegfried Bräuer, Ulrich Bubenheimer und Günter Vogler einzelne Etappen und Hintergründe des Weges Müntzers aufgehellt haben. Wiederholt weist G. auf die schwierige Quellenlage hin, die doch manche in der Forschung vorgetragene Deutung als Spekulation erscheinen lässt und auf Grund derer es häufig nur möglich ist, einigermaßen plausible Vermutungen zu äußern, nicht aber gesichertes historisches Wissen zu präsentieren.
Von den Ergänzungen, Korrekturen und Präzisierungen, die dem Fortgang der Forschung geschuldet sind, bleibt das von G. vor 26 Jahren entwickelte Deutungskonzept im Wesentlichen unberührt (vgl. 93). Danach bildete der Antiklerikalismus des späten Mittelalters den »Nährboden für das reformatorische Experiment, dem Müntzer sich mit Haut und Haaren verschrieb: einer unüberwindlichen und zukünftigen Reformation« (221). Obwohl er »kein besonders treuer Schüler der Deutschen Mystik« war (225), nahm er früh mystische Gedanken auf, mit denen er »das reformatorische Anliegen gegen den altgläubigen Klerus zur Geltung« bringen konnte (221). Von 1521 an vertiefte er seinen »mystisch begründeten Antiklerikalismus« (227) mit apokalyptischen Vorstellungen, die ihn schließlich zum Revolutionär werden ließen. Dabei sah Müntzer einen engen Zusammenhang zwischen der inneren Erneuerung des Menschen in der Gottesfurcht und der äußeren »Erneuerung von Kirche, Obrigkeit und Gesellschaft« (232). Weil er glaubte, Letztere könne am ehesten durch eine »Revolution des gemeinen Mannes« realisiert werden – hier greift G. auf Peter Blickles Konzept einer Gemeindereformation zu­rück –, war Müntzers Weg in das bäuerliche Lager und damit – unter den 1525 gegebenen Umständen – auch in die Katastrophe von Frankenhausen vorgezeichnet. »Der Heilsprozess wurde zum Weltprozess«, der »revolutionäre Umsturz war religiös geboten« (242).
So eindrucksvoll diese Synthese der disparaten Motive im Denken und Handeln Müntzers auch erscheint, stellt sich doch die Frage, ob G. nicht durch die Anwendung moderner Gesellschaftsvorstellungen auf die Reformationszeit die komplexen historischen Sachverhalte vereinfacht und die – möglicherweise unauflösbaren– Brüche und Spannungen in Müntzers revolutionärer Theologie nivelliert. Antiklerikale Motive begegnen durchaus bei Müntzer. Dass aber der Antiklerikalismus im ausgehenden Mittelalter derart verbreitet war, wie G. annimmt, und dass er systemsprengendes Potential enthielt, wird man unter Verweis auf die enorme Intensivierung des religiösen Lebens in jenem Zeitraum und das für die Befriedigung dieser gesteigerten Heilsbedürfnisse erforderliche geistliche Personal bestreiten. Karlstadt oder die Täufer in der Schweiz, in deren Umkreis sich auch antiklerikale Ressentiments festsetzten, präferierten jedenfalls andere Modelle einer radikalen Reformation als Müntzer.
Den tatsächlichen Einfluss, den Müntzer auf den Bauernkrieg und die bei Frankenhausen zusammengekommenen Bauernhaufen ausübte, dürfte G. weit überschätzt haben. Umgekehrt ebnet er die Divergenz der Vorstellungen im bäuerlichen Lager zugunsten einer »Solidarität unterschiedlicher Denker und Anführer in ein und derselben revolutionären Bewegung« ein (235). Zu Recht grenzt G. sich von dem »Schreckensbild« ab, das Luther von dem »aufrührerischen Geist« – freilich aus nachvollziehbaren Gründen und mit publizistischer Abzweckung – in die Welt setzte (254 f.). Freilich hätte G. dann auch das Zerrbild, das Müntzer seinerseits von dem Wittenberger Reformator verbreitete, auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüfen müssen. Statt dessen behauptet G., Müntzer habe sich von der forensischen Fassung der Rechtfertigungslehre distanziert, gemäß der »sich im Menschen und in der Welt selber nichts zu ändern hätte« (242) – nur ist das ganz gewiss nicht die Rechtfertigungslehre Luthers und anderer maßgeblicher Reformatoren. Oder G. schreibt, Luther habe anders als Müntzer »aus theologischer Einsicht den geistlichen Bereich vom weltlichen geschieden« (239). Diese offenkundige Fehlinterpretation der Zwei-Reiche-Lehre Luthers ist mit dafür verantwortlich, dass G. die von Luther in der Kontroverse mit Müntzer vertretenen Positionen nicht immer angemessen wiedergibt.
Für das Todesurteil, das Müntzer als Richter gegen drei Gefangene vor der »Schlacht unter dem Regenbogen« aussprach, bringt G. Verständnis auf (vgl. 209). Die Verantwortungslosigkeit, mit der der Anführer des Mühlhausener Bauernhaufens die Aufständischen in die Katastrophe von Frankenhausen führte, macht er nicht thematisch. Er weiß zwar, dass der ganze Müntzer keine Bedeutung für unsere Gegenwart haben könne (276), fragt aber immer noch nach einzelnen zukunftsweisenden Impulsen, die von Müntzer ausgehen könnten (vgl. 276–286). Das ist legitim, lässt aber zugleich diese Müntzer-Biographie deutlich als Dokument einer inzwischen vergangenen Phase der Forschung erscheinen.