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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

217–219

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gäckle, Volker

Titel/Untertitel:

Allgemeines Priestertum. Zur Metaphorisierung des Priestertitels im Frühjudentum und Neuen Testament.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XX, 769 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 331. Lw. EUR 169,00. ISBN 978-3-16-153234-4.

Rezensent:

Martin Vahrenhorst

Diese auf eine Zürcher Habilitationsschrift zurückgehende Studie von Volker Gäckle fragt »nach einem exegetischen Anhaltspunkt des Theologumenons vom Allgemeinen Priestertum« (596). Dazu untersucht sie jedoch nicht allein die einschlägigen Stellen im Neuen Testament (1Petr 2,4 ff.; Apk 1,6; 50,10 und 20,6). Sie schlägt einen viel weiteren Bogen. Ihren Ausgang nimmt sie bei einer Darstellung der »Priester und Priesterschaften in der griechisch-römischen Antike«. Schon bei der Definition dessen, was ein Priester ist (die sich nach G. in der antiken Literatur nirgends findet), werden dabei wesentliche Weichen gestellt. G. schließt sich W. Klein an, der den Priester als »Religionsführer« beschreibt, der eine »Mittleraufgabe zwischen Gottheit und Menschheit« hat. »Generell gilt für Priester, dass sie den Laienanhängern einer Religion in einer Sonderstellung gegenüberstehen«: Das tun sie, weil sie mit »einer be­sonderen Kraft ( mana) oder Gnade« ausgestattet sind (20 f.). Priester üben nicht nur eine Funktion aus, sie haben – darauf liegt für G. in allem, was folgt, der Akzent – auch einen besonderen Status inne (21). Der Priester repräsentiert »die Kultgemeinde vor der Gottheit« und gelegentlich auch die »Gottheit vor dem Volk« (21). Aus diesem »besonderen Status des idealen Menschen, der in seinem Sein den Göttern entspricht, ergeben sich auch die priesterlichen Funktionen« (23), bei denen es immer »um die heilvolle und […] ›räumliche‹ Begegnung mit der göttlichen Welt und Wirklichkeit, ja um ein stellvertretendes In-Berührung-Kommen der Priester mit Gott oder den Göttern« geht (42).
Im Großen und Ganzen gilt dies nach G. auch für das Priestertum in Israel: »auch in den biblischen Quellen« ist »der religiöse Status des Priesters von der stellvertretenden Restitution des integren, idealen gottnahen und gottähnlichen Menschen getragen« (58). Man wird G. sicher zustimmen können, wenn er den Sinn der Reinheitsregeln dahingehend beschreibt, die Menschen in einen Status zu versetzen, in dem sie in gewisser Weise Gott entsprechen (das ist die Idee hinter Formulierungen wie Lev 19,2), »der weder geboren wird, noch stirbt und der auch nicht isst oder sexuell aktiv ist« (63). Die Frage ist aber, ob sich daraus der Schluss ziehen lässt, dass der Priester »gleichnishaftes Abbild des göttlichen Wesens sein soll« (63). Gelten nicht für jeden, der die Schwelle vom Profanen zum Heiligen überschreiten möchte, ähnliche Regeln, die der Logik folgen »rein ist, was Gottes Wesen entspricht, unrein das, was ihm fernsteht« (72)? Steht dabei das Motiv der »imitatio Dei« (72) im Vordergrund? Oder geht es schlicht und ergreifend um Regeln für angemessenes Verhalten, wie sie in der Gegenwart für den sachgemäßen und lebensschützenden Umgang mit Starkstromanlagen oder Hochöfen gelten? Wie weit darf man die antiken Hinweise, die selbst keine Deutungen offenlegen, einer systematischen Deutung unterziehen? Diese Frage stellt sich beim Lesen von G.s Buch wieder und wieder.
Dass der Hohepriester in Israel das Volk repräsentiert, ergibt sich aus seiner Kleidung (vgl. Ex 28,12.21; 36,6). Aber repräsentiert er auch Gott vor dem Volk? G. meint das u. a. aus der Tatsache schließen zu können, dass die priesterlichen Gewänder aus weißem Leinen bestehen sollen, was »exakt« den Gewändern der Engel entspräche, die vor Gottes Thron Dienst tun (die genannten Belegstellen entstammen allesamt nicht dem Pentateuch, sondern zum großen Teil zwischentestamentlichen Texten [75, Anm. 155]). »Der Hohepriester wird somit in eine Analogie zu den himmlischen Engelwesen eingekleidet, die ihn aus der profanen Wirklichkeit emporhebt in einen heiligen Raum und eine himmlische Sphäre« (75). Man kann diesen für G.s Priesterverständnis wichtigen Schluss ziehen. Der Pentateuch, der die Priestergewänder beschreibt, zieht ihn nicht.
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen führt G. die Leserinnen und Leser durch die faszinierende Welt dessen, was historisch, sozialgeschichtlich und theologisch über die vielfältigen Wahrnehmungen des Priestertums im antiken Judentum zu sagen ist. In diesen Teilen (Kapitel III.2–IV.8) beeindruckt G.s Studie durch ihren Materialreichtum. Wer etwas über das Priestertum im antiken Judentum wissen möchte, ist mit diesem Buch ausgezeichnet beraten. G. stellt in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen priester- und tempelkritischen Stimmen vor.
Diesen ließen sich die Texte aus der Jesustradition an die Seite stellen, was G. in Kapitel V. jedoch konsequent vermeidet. »Nirgends wird erkennbar, dass Jesus die tempel- und priestertumskritische Position der […] dargestellten frühjüdischen Literatur teilt« (289). Vielmehr spiegeln die Perikopen, »in denen der Tempelkult und die Priester eine Rolle spielen […] eine Distanz Jesu zum Tempel und Priestertum wider« (289), die »im Horizont des messianischen Vollmachts- und Sendungsanspruchs Jesu, [...] die zentralen jüdischen Kultinstitutionen des Tempels, der Opfer und des Priestertums eo ipso relativierte« (289). Die von G. ausgewerteten Perikopen lassen auch andere Deutungen zu. Gravierender scheint dem Rezensenten die Tatsache, dass zwischen dem irdischen Jesus und dem, was die Evangelien über ihn sagen, nicht trennscharf unterschieden wird. Am Ende des 1. Jh.s – nach dem Untergang der Kulteinrichtungen – stellen sich die Dinge anders dar als zu Lebzeiten des irdischen Jesus.
Bei G.s Besprechung des Tempelwortes und der Tempelaktion Jesu (als bewusste Verunmöglichung des Kultes gedeutet, was durchaus umstritten ist) zieht sich dies durch. Ist es Markus oder ist es Jesus, der die Tempelaktion in einen Rahmen stellt, in dem »der Opferkult […] seine zentrale Funktion und soteriologische Bedeutung« verliert (vgl. auch 580)? Nach G. ergibt sich das aus der Reihenfolge Lösegeldwort – Tempelaktion – Kelchwort. Diese spiegele Jesu »eigenen messianischen Selbstanspruch«, der den bevorstehenden »Sühnetod« als »Teil seiner messianischen Sendung« begreift (307). Die Folgerungen sind gravierend: »Wenn heilvolles ›Sein vor Gott‹ nicht mehr durch einen korrekt vollzogenen priesterlichen Kult […] sondern durch Jesu Kommen, Sterben und Auferstehen Wirklichkeit geworden war, dann musste sich in Jesus Gott selbst offenbart haben« (309). Es besteht kein Zweifel daran, dass dies die Überzeugung des Christentums geworden ist. Die Frage ist, ob man den Anspruch, »sein Leben als messianischer Menschen- und Gottessohn als ein Sühnegeld- bzw. Opfer ›für die vielen‹ hinzugeben« (309), schon dem irdischen Jesus zuschreiben kann.
Für G. ist der Befund eindeutig, und so bewertet er Mk 14,58 als Wurzel des vorpaulinischen Kerns von Röm 3,25 und damit »der späteren christlichen Metaphorisierung des Tempels« (310.580). G. gelingt es, ein systematisches Gesamtbild mit beeindruckenden Spitzensätzen zu zeichnen: »Durch die Verknüpfung des Todes Jesu mit der Öffnung des Vorhangs im Tempel erscheint der am Kreuz sterbende Jesus selbst als Offenbarungsort Gottes, an dem Gott erkannt und erfahren werden kann« (318). Es bleiben Fragen: Spricht der römische Zenturio in der Tat die »wahre Identität des Gekreuzigten« aus (318)? Oder verspielt er gleichsam die Pointe, indem er in der Vergangenheit spricht? Wenn schon am Karfreitag offenbar sein soll, was es mit Jesus auf sich hat, warum endet das Markusevangelium nicht mit Kapitel 15? Warum beinhalten die nicht ganz präzise so genannten »Leidensankündigungen« alle den Hinweis auf die Auferstehung (Mk 8,31; 9,31; 10,34)?
In den folgenden Kapiteln VI–VIII widmet sich G. drei neutestamentlichen Textkomplexen: der Kultmetaphorik bei Paulus, dem 1Petr und der Apk. Er arbeitet heraus, wie zentral diese Begriffswelt für die Kommunikation mit den jeweiligen Adressaten ist (z. B. 357). Im Blick auf Paulus fasst er zusammen: »Im Licht der Erkenntnis Jesu Christi als dem von Gott eschatologisch ›inaugurierten‹ Sühne- und Kultort war für Paulus auch die theologische und sprachschöpferische Grundlage geschaffen, um die Gemeinde […] in welcher der Geist Wohnung genommen hatte, als metaphorischen Tempel zu identifizieren« (373). G. stellt hier einen Zusammenhang dar, den Paulus selber so nirgends offenlegt. Schon im 1Thess bedient sich Paulus kultischer Sprache – ohne den Tod Jesu nach kultischen Kategorien zu deuten. Auch die Frage, welche Bedeutung der Jerusalemer Tempel nach dem Christusereignis noch hat, stellt selbst Paulus nicht (vgl. 370 ff.). »Die Notwendigkeit einer eigenständigen Reflexion über das Verhältnis des Todes Jesu nicht nur zum jüdischen Kult […] ergab sich in dem Moment, in dem Paulus das Evangelium […] in einer kultisch organisierten […] Welt verkündete« (581). Dass Paulus selbst da, wo er seine Leserschaft als Tempel Gottes anspricht, über das Verhältnis zu anderen Tempeln kein Wort verliert, legt vielleicht eher den Schluss nahe, dass Paulus nicht systematisch z. B. »über die jüdischen Kultinstitutionen« reflektiert (580), sondern kultische Sprache in einer bestimmten Situation zur Klärung eines (und nur eines) bestimmten Sachverhaltes verwendet.
Im Blick auf die Rede vom allgemeinen Priestertum waren der 1Petr und die Apk besonders wirkmächtig. Bei ihrer Besprechung arbeitet G. sehr präzise heraus, welche Funktion die jeweils von Ex 19,6 inspirierte Anwendung des Priesterbegriffs auf die Leserschaft hatte. Im 1Petr schafft sie »eine aristokratische Kon-trastidentität, die sie in einem Maße adelt, das alle irdische Wertschätzung und Anerkennung weit übertrifft und die erfahrene Ablehnung durch die feindliche Mitwelt bei weitem kompensieren kann« (587 f.). Hier kommt zudem die von G. gleich zu Beginn seiner Studie eingeführte Unterscheidung von priester-lichem Status und priesterlicher Funktion hilfreich zum Tragen: Wenn der 1Petr von einer königlichen Priesterschaft spricht, so geht es dabei nicht um die Funktion der Gemeinde für die Umwelt, sondern um das »Binnenverhältnis zu Gott« (588). – Ähnlich verhält es sich in der Apk, wo »die Glaubenden zum ersten Mal im Neuen Testament als einzelne metaphorisch als Priester angesprochen werden« (590). Auch hier handelt es sich um Gemeinden in Bedrängnis (vgl. 592). Hier liegt der Fokus der »Unmittelbarkeit und Zugehörigkeit der Glaubenden zu Gott« (592).
G.s Buch ist ausgesprochen leserfreundlich geschrieben. So vermittelt der ausführliche Rückblick auch der Leserschaft, die – was ihm zu wünschen wäre – dieses Werk zu einer Detailfrage konsultiert, einen ausgezeichneten Überblick, der die Frage nach einem exegetischen (nicht sachlichen!) Anhalt der dogmengeschichtlich virulent gewordenen Rede vom allgemeinen Priestertum an den Texten des Neuen Testaments mit Recht verneint (596). – Der sich anschließende Ausblick benennt wichtige Stationen auf dem Weg zur Entwicklung eines dem Neuen Testament noch fremden funktionalen Pries­terverständnisses in der Kirchengeschichte.
Kurz und gut: Auch wenn man die Neigung G.s zur Systematisierung biblischer Texte nicht teilt, ist man bei diesem Buch an einer guten Adresse, wenn es um Fragen des Priestertums und der Welt des Kultes in Welt und Umwelt der Bibel geht.