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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

210–212

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Baert, Barbara [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Woman With the Blood Flow (Mark 5:24–34). Narrative, Iconic, and Anthropological Spaces.

Verlag:

Leuven u. a.: Peeters 2014. VI, 445 S. = Art & Religion, 2. Kart. EUR 85,00. ISBN 978-90-429-2964-7.

Rezensent:

Bärbel Bosenius

Der Sammelband dokumentiert die Ergebnisse des interdisziplinären Projektes »The Woman with the Hemorrhage. An Iconological Study of the Interpretation of the Haemorrhoissa in Medieval Art (4th–15th century. Including a Contribution to the Blood- and Touch­ing Taboo before the Era of Modernity)«, das von 2008–2012 unter Leitung der Kunsthistorikerin Barbara Baert an der Katholieke Universiteit Leuven durchgeführt worden ist. Das Buch ist der zweite Band der seit 2011 von der »Iconology Research Group« herausgegebenen Reihe »Art & Religion«, in welcher Beiträge aus der christlichen Ikonographie und der Religion des Mittelalters und der Frühen Moderne veröffentlicht werden.
Die 2006 von Baert begründete »Iconology Research Group« widmet sich vornehmlich drei zentralen Aspekten der Bildwissenschaften: der Entstehung von Bildern, ihrer Bedeutung und Wirkung sowie der Verbreitung einzelner Bildmotive. Baert ist eine ausgewiesene Expertin in der Interpretation christlicher Kunst (einschließlich der Aspekte Blick und Berührung), der Entschlüsselung metaphorisch verwendeter Textilien, der Untersuchung von Affekten und Emotionen und der Beschäftigung mit der Phänomenologie des Blutes. In dieses Forschungsfeld lassen sich auch die zwölf auf Englisch, Französisch und Deutsch abgefassten Aufsätze des Bandes einordnen, die – wie der instruktive einleitende Überblicksartikel Baerts – drei übergeordnete Themen behandeln.
In der »Section 1: The Narrative Space« steht die neutestamentliche Erzählung von der Heilung der Blutflüssigen im Mittelpunkt, die sich bei Mt, Mk und Lk findet. Die drei exegetischen Beiträge dieser Sektion setzen sich schwerpunktmäßig mit dem Markustext auseinander. C. Focant kommt in seinem Beitrag »Opérer une brèche dans les règles de pureté en vue d’être sauvée. Le cas de la femme qui souffrait d’hémorragie« zu dem Ergebnis, dass Mk 5,24–34 die Themen »Magie« und »Unreinheit« auf subversive Weise behandele. Nach dem magisch anmutenden Anfang der Erzählung werde die Frau nicht durch Magie geheilt, sondern aufgrund der persönlichen Begegnung mit Jesus; nicht eine von der Frau ausgehende Unreinheit werde betont, sondern die von Jesus aus-gehende ›ansteckende‹ Reinheit. L. Tack stellt in ihrem Aufsatz »Cleansed in the Wine of the Passion. On the Role of Jesus’ Garment in the Story of the Haemorrhaging Woman« das Motiv »Berührung der Kleidung Jesu« in den Mittelpunkt und erweitert die neutestamentliche Quellenbasis insbesondere um Joh 19,23 f. Sie entwickelt die These, dass die Berührung von Jesu Kleidung im Neuen Testament die Berührung des Sohnes Gottes, eingehüllt in Menschlichkeit, symbolisieren kann.
M. R. D’Angelo berücksichtigt in ihrer Auslegung von Mk 5,24–34 (»Power, Knowledge and the Bodies of Women in Mark 5:21–43«), dass die Heilung der Blutflüssigen in typisch mk Sandwich-Technik in die Erzählung eingebettet ist, die von der Heilung der Tochter des Jairus handelt. Unter Berücksichtigung der intertextuellen Beziehungen zwischen diesen beiden miteinander verschachtelten Episoden erarbeitet sie eine Interpretation, die als Alternative zu verbreiteten feministisch-exegetischen Auslegungen zu verstehen ist, welche die Blutflüssige als Opfer jüdischer Reinheitsvorschriften ansehen. Laut D’Angelo sind sowohl die Blutflüssige als auch die Tochter des Jairus von zeitgenössischen Rezipientinnen und Rezipienten nicht als unrein, sondern als krank konzeptualisiert worden. Werden bei der Interpretation dieser Doppelwunderheilung zeitgenössische gynäkologische Vorstellungen berücksichtigt, lässt sich nämlich erschließen, dass die Blutflüssige als Frau mit einem allzu offenen, das junge Mädchen hingegen als Frau mit einem verschlossenen Unterleib interpretiert werden konnte. Aus literaturwissenschaftlich-exegetischer Perspektive ist zu bemerken, dass die Überschrift, welche für Sektion 1 gewählt worden ist, eine falsche Erwartungshaltung wecken kann. »Narrative Space« wird in diesem Sammelband nicht als narratologischer terminus technicus im Sinne Genettes und somit auch nicht als Gegenbegriff zu »Discursive Space« verwendet. Die Zwischenüberschrift »The Narrative Space« soll vielmehr zum Ausdruck bringen, dass es im ersten Teil des Buches vornehmlich um neutestamentliche Erzähltexte geht, die das Motiv der Berührung von Jesu Kleidung beinhalten.
In der »Section 2: The Iconic Space« wird dann in bemerkenswerter Breite dargestellt, welche Bedeutung dieses Motiv in der christlichen Ikonographie erfahren hat. Für Exegeten ist in diesem Ab­schnitt vor allem der Aufsatz von D. Apostolos-Cappadona in-­struktiv: »On the Potentiality of Absence. On the Disappearance of the Haemorrhaging Woman«. Dieser Beitrag bietet einen umfassenden Überblick über die Ikonographie der Blutflüssigen von der Antike bis ins 19. Jh. Die Autorin stellt die frühen bildlichen Darstellungen der Blutflüssigen auf den Fresken der Katakomben in Rom und auf den Sarkophagen des 4.–6. Jh.s sowie ihre gelegentliche Darstellung in Buchillustrationen und der Kirchenmalerei im Mittelalter und ihr völliges Verschwinden in der christlichen Ikonographie des 6.–12. Jh.s sowie ihre Rückkehr in die christliche Kunst im 19. Jh. in einen Zusammenhang mit den jeweiligen zeitgenössischen theologischen Strömungen. Somit kann sie zeigen, dass die Art und Weise der bildlichen Darstellung dieser Erzählung mit den jeweils herrschenden Vorstellungen über die Rolle der Frau, mit dem Jesusbild und mit dem Verständnis von (Wunder-) Heilungen korreliert. Die anderen Aufsätze dieser Sektion beschäftigen sich mit ausgewählten Aspekten der Ikonographie der Blutflüssigen: ihrer Darstellung auf Sarkophagen (E. S. Malbon), auf den Mosaiken in Kariye Camii (D. Knipp), in der Ostkirche (B. Cvetkovic), in Bildern und Texten des frühen Mittelalters (L. Kusters) und mit der Rezeptionsgeschichte der Paneas-Statue (P. A. Fabre).
Die »Section 3: The Anthropological Space« behandelt die Blutflüssige aus kulturgeschichtlich-anthropologischer Perspektive. D. Biale stellt in seinem Aufsatz »Does Blood Have Gender in Jewish Culture?« mit überzeugenden Argumenten den gegenwärtigen Konsens in Frage, dass in der jüdischen Kultur männliches Blut grundsätzlich positiv, weibliches Blut hingegen negativ konnotiert sei, und macht deutlich, dass es sich bei dieser Position um eine Sondermeinung der jüdisch-mystischen Tradition handelt. E. Sidgwick bietet in ihrem Aufsatz »When a Dormant Power Overflows. The Articulation of Dunamis in the Early Christian Haemorrhoissa Motiv« nicht nur eine semantische Studie zum Ausdruck δύναμις, sondern auch eine kleine Kulturgeschichte der Quaste. E. Harlizius-Klück bezieht in ihre Untersuchung des Motivs der Berührung des κράσπεδον Jesu, das in Mt 9,20 und Lk 8,44, aber auch in Mk 6,56 eine Rolle spielt, Erkenntnisse über die antike Textilproduktion mit ein (»Die Überschreitung des Anthropologischen Raumes. Gewandsaum, Nachfolge und Transformation«) und kommt somit zu dem Ergebnis, dass der Saum die »transformierende und heilende Kraft des Glaubens repräsentieren« (417) kann.
Grundsätzlich besticht dieser Sammelband zum einen durch die luzide Aufarbeitung nicht nur der ikonographischen, sondern auch der literarischen Wirkungsgeschichte, welche die Erzählung von der Heilung der Blutflüssigen im Laufe der Kirchengeschichte aufweist, und zum anderen durch die hochwertige Ausstattung mit vielfältigsten Abbildungen der Blutflüssigen und deren Interpretationen. Eine Projektbibliographie, ein Register und Hinweise zu den Autoren runden diesen positiven Gesamteindruck ab.