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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1129–1131

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wilk, Florian

Titel/Untertitel:

Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. XII, 461 S. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 179. Lw. DM 128,-. ISBN 3-525-53863-4.

Rezensent:

Dietrich-Alex Koch

Diese teilweise überarbeitete Fassung der Jenaer Dissertation des Vf.s von 1996 fragt, wie der Titel signalisiert, nach der Bedeutung des Jes-Buches für Paulus, jedoch nicht nur für die Paulus-Briefe selbst, sondern, wie S. 13 formuliert wird, "auch für die generelle Ausformung seines apostolischen Selbstverständnisses und seiner spezifischen, primär an Heiden gerichteten Christusverkündigung". Da Jes das von Paulus am häufigsten verwendete Buch der Schrift ist (noch vor Ps, Gen und Dtn), verspricht die Fragestellung in der Tat wichtige Aufschlüsse zu einem seit 15 Jahren wieder intensiv diskutierten Problemfeld, dem ntl. Schriftverständnis.

Der Vf. befaßt sich zunächst sehr gründlich mit den ausdrücklichen Jes-Zitaten; so behandelt er die Probleme der Textform (hebraisierende LXX-Rezension), die intensiven paulinischen Abänderungen, die Bildung von Mischzitaten, die Funktion der Zitate und (unter der eher mißverständlichen Überschrift: Deutung der Zitate) deren thematischer Zuordnung im Rahmen der paulinischen Verwendung (Zitate zum Verständnis der Christusbotschaft, zum apostolischen Selbstverständnis, zur Stellung Israels, zum Evangelium, zur Parusieerwartung). Allerdings begnügt sich W. nicht mit den (in seiner Zählung) 19 Jes-Texten, die bei Paulus ausdrücklich angeführt werden. Er bezieht zwei weitere Bereiche ein, um so die Bedeutung des Jes-Buches für Paulus insgesamt in den Blick zu bekommen. "Integration jesajanischer Formulierungen" (im Unterschied zur Zitation) sieht W. insbesondere im näheren Umfeld der ausdrücklichen Zitate: Hier habe der ursprüngliche Kontext der Zitate häufig direkt auf den jetzigen Zusammenhang bei Paulus eingewirkt. Solche Einwirkung sieht W. in 7 Fällen in umfassender Weise gegeben, in 9 Fällen wird er immerhin als "eher stark" und nur in 3 Fällen als "eher geringfügig" beurteilt (vgl. das Ergebnis 266). Eine weitere Ausweitung der Materialbasis erfolgt durch die Einbeziehung von Anspielungen. Hier sieht der Vf. 6 "zitatähnliche Anspielungen", 11 "evidente" und 13 "wahrscheinliche Anspielungen" (266-339). Die beiden umfangreichen Schlußkapitel beschäftigen sich mit dem ,Verständnis des Jes-Buches bei Paulus’ (340-380) und seiner ,Bedeutung’ für Paulus (381-408).

Zunächst gelangt W. zu dem Ergebnis: "Paulus (liest) das Jesajabuch als Zeugnis und Interpretament des universalen Heilshandelns Gottes in Christus, indem er anhand dieses Buches sich selbst, die Christusgemeinde und Israel in je eigener Weise als Empfänger und Mittler dieses Handels begreift" (380). Sodann klärt er die Bedeutung des Jes-Buches für die einzelnen Briefe. Das Ergebnis von S. 404, daß der Röm den Höhepunkt der Jes-Rezeption bildet, ist dabei jedoch nicht überraschend und gilt übrigens für die Schriftrezeption des Paulus überhaupt. Interessant ist aber die These, daß das Jes-Buch eine wachsende Bedeutung gerade für das Selbstverständnis des Paulus gehabt habe, ja daß hier geradezu der gemeinsame Nenner der Jes-Rezeption in den verschiedenen Briefen liege (405): Die Frage, wie die Legitimität seiner Heidenmission zusammenzudenken sei mit der Treue Gottes zu Israel, habe Paulus in besonderer Weise an das Jes-Buch gewiesen (407). - Die Anfragen, die diese umfassende Untersuchung provoziert, betreffen vor allem zentrale methodische Fragen, insbesondere den Versuch, eine bewußte Kontextrezeption der Jes-Zitate durch Paulus nachzuweisen.

Gleich der erste von W. (220-223) analysierte Fall, Röm 9,30-10,1, wo W. selbst den Einfluß des Kontextes von Jes 8,14 (zitiert in Röm 9,33) als "umfassend" bewertet (266), zeigt die Problematik. Nach W. hat Paulus nicht nur die Wendung lithon proskommatos kai petran skandalu in den Text von Jes 28,16 eingefügt (was unstrittig ist), sondern Paulus habe zusätzlich in Röm 9,31-32 und 10,1 den Kontext von Jes 8,14, nämlich Jes 8,15-17 rezipiert, und zwar habe Paulus a) in Röm 9,32b aus Jes 8,15 kai proskopsusin ("und sie werden zu Fall kommen") rezipiert, b) in Röm 9,31 aus Jes 8,16 sfragison nomon ("versiegele das Gesetz") und c) in Röm 10,1 aus Jes 8,17 kai prosdokeso ton kyrion ton krybonta to prospon autu apo tu oiku Jokob kai anameno auton ("ich will auf den Herrn warten, der sein Angesicht vor dem Haus Jakob verbirgt, und auf ihn warten").

Doch besteht hier nicht nur die Schwierigkeit, daß W. (in Analogie zur Textfassung von Jes 8,14 in Röm 9,33) für Jes 8,14-17 insgesamt eine mit Symmachus übereinstimmende Textvorlage des Paulus voraussetzen muß (auch dort, wo kein Anlaß für eine hebraisierende Textbearbeitung bestand). Selbst unter dieser Voraussetzung sind die Berührungen von Röm 9,30-32 und 10,1 mit Jes 8,15-17 ausgesprochen peripher.

zu a) Es besteht zwar eine Gemeinsamkeit in der Verwendung des Verbs proskoptein, doch wird jeweils nur das Wortfeld des Zitats selbst variiert, so daß keine darüber hinausgehende Einwirkung des Zitatkontextes feststellbar ist.

zu b) Die (antithetische) Verbindung von ,Gerechtigkeit’ und ,Gesetz’ ist spätestens seit Röm 3,20/21 im Römerbrief fest verankert; d. h. die Erwähnung des Gesetzes ist nicht durch Jes 8,16™ veranlaßt.

zu c) Die zentralen Stichwörter von Röm 10,1 (eudokia [nicht: prosdokia!], kardia, deesis, soteria sind durchweg paulinisch und nicht aus Jes 8,17Sigma153 vorgegeben.

Für W. dagegen stehen sich Röm 10,1 und Jes 8,17Sigma153 inhaltlich (und sogar terminologisch) nahe, denn "hier wie dort wendet sich der Sprecher angesichts fehlender Erkenntnis des Gotteswillens auf seiten Israels hoffnungsvoll an Gott" (222) und d. h. für W.: Paulus sieht in Jes 8 "auch seine eigene Position als Judenchrist vor-abgebildet" (ebd.).

Selbst wenn man die Bezüge zwischen dem paulinischen Text und dem Abschnitt des Jes-Buches günstiger beurteilt, so bleibt doch die Frage, was hier eigentlich interpretiert wird: Der Text von Röm 9,30-10,1 sicher nicht. Im Grunde fragt W. hier (und an den parallelen Stellen, die er untersucht): Wie könnte Paulus den Kontext seiner Jes-Zitate verstanden haben, wenn er denn diesen Kontext gelesen hat (was sicher vorauszusetzen ist) und wenn er sich außerdem (was schon nicht so sicher ist) soviel Gedanken darüber gemacht hat, wie W. dies annimmt; d. h. das Unternehmen ist hochspekulativ.

In einem Falle ist der Versuch, die Einwirkung eines Zitatkontextes nachzuweisen, sogar kontraproduktiv. So muß W., um eine Entsprechung zwischen Röm 11,25 und Jes 60,1-3 (als Kontext des in Röm 11,26 f. zitierten Textes Jes 59,20 f.) herzustellen, den Paulustext von Röm 11,25 ,vervollständigen"achri hu to pleroma ton ethnon eiselthe [sc. eis Sion]" (242). Nur: diese Klammer steht bei Paulus nicht da! Gerade wenn der Kontext von Jes 59,20 f. diese Formulierung nahelegt hätte, ist doch um so bemerkenswerter, daß Paulus den Zitatkontext hier nicht aufnimmt.

Auch beim Nachweis von Anspielungen (die es natürlich gibt) schießt der Vf. in seiner Entdeckerfreude weit über das wirklich Verifizierbare hinaus, zumal er auch hier umgekehrt vage Kontextbezüge als zusätzliche Argumente verwendet (vgl. z. B. 326 f., wo W. für 1Thess 1,10c eine Anspielung von Jes 59,19 f. nachweisen will).

Natürlich ist die theologische Sprache des Paulus von der Sprachüberlieferung der LXX geprägt, und Jes ist hierbei ein wesentlicher Faktor. Und es ist auch mit dem Vf. davon auszugehen, daß Paulus mit ganz bestimmten Fragestellungen Jes (aber auch andere Bücher der Schrift) selbständig durchgearbeitet hat. Dies zeigen die ausdrücklichen Zitate in ganz eindeutiger Weise, und es ergibt sich daraus, daß die Prägung des Paulus durch die Schrift (einschließlich von Jes) nicht nur mittelbar, d. h. durch die Synagogenpredigt, erfolgte, sondern auch direkt durch eigenständige Schriftlektüre. Aber diese Prägung durch Jes (und die LXX insgesamt) kann nicht einfach in Verlängerung der expliziten Zitate gesehen werden. Außerhalb der Zitate liegt in den Paulusbriefen eben nicht ebenfalls fremder, übernommener Text, sondern Eigentext vor. Ebensowenig sind die Paulusbriefe sprachlich auf die gleiche Stufe mit Texten wie Lk 1,46-55.68-79 oder Teilen der Apk zu stellen, die collagenartig aus vorgeprägten Schriftformulierungen zusammengesetzt sind.

Sind damit vor allem die Anfragen an das anzuzeigende Buch formuliert, so soll dadurch die Bedeutung dieser Untersuchung nicht geschmälert werden. Gerade wer vielfach dem Autor nicht zu folgen vermag, wird dies genau begründen müssen und in dieser Arbeit auch in methodischer Hinsicht eine Herausforderung sehen.